Nordwärts

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gonrom

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Nordwärts

Durch das norddeutsche Flachland fährt ein Zug. Er fährt vorbei an einer Gummifabrik, an Kasernen und überquert den Mittellandkanal. Der Zug ist nur schwach besetzt. In der Abenddämmerung sieht das Flachland noch flacher und öder aus als tagsüber.

Die beiden jungen Männer, die allein in einem der Abteile sitzen und rauchen, sehen ins fahle Zwielicht hinaus.
Ab und zu sagen sie etwas zueinander. Heftige Worte fallen dabei: „Scheißspiel“ oder „Ist eh alles für den Arsch.“
Das Dosenbier aus dem Ruhrgebiet hat ihnen in anderen Situationen besser geschmeckt. Die Heizung ist entweder zu kalt oder zu heiß, die Zigaretten zu stark oder zu schwach, das Bier ist auf jeden Fall nicht kalt genug.
“Kannst du dir vorstellen, du, was ich die Zeit, die ich hier beim Bund vergammle, für Kohle hätte machen können?”, sagt der eine und rülpst, wie um damit seiner Aussage noch mehr Nachdruck zu verleihen.
“Kohle”, fährt er fort “Kohle, da träumst du von. Und wenn der Scheiß vorbei ist, krieg ich womöglich Schwierigkeiten bei der Arbeit. Wer sagt mir denn, dass die nicht schon längst einen anderen eingestellt haben?“
„Ja, Ja.“ Der andere blickt sein Gegenüber starr an und zieht an der filterlosen Zigarette und fährt fort:
„Die hektische Nummer beim Wochenendurlaub ist auch nicht das Wahre, kann ich dir sagen. Aber was soll’s“, er kratzt sich am glattrasierten Kinn „auch diese Scheißzeit wird vorbei sein, und auch mein Arsch wird wieder frei sein. Gut was?“
„Eh, hör mal, hast du die Story mitgekriegt, wie die Kerle von der Achten einen pissen lassen wollten? Reich noch mal ne Dose rüber.“
Und nachdem er die Dose aufgerissen hat, nach einem langen und tiefen Zug, fährt er fort:

„Das war echt die Härte. Machen die doch nach dem abendlichen Stubendurchgang, als der schon eingeschlafen war, alles dunkel und tunken dem seine Hand in lauwarmes Wasser. Soll man ja wohl von pissen müssen. Der räkelt sich, rückt an die Wand, räkelt sich wieder zurück, stöhnt und wühlt im Bett rum, als ob ihm einer abginge. Aber der Hund pisst nicht. Der wollte ums Verrecken nicht pissen. Na, dann eben nicht. Weißt du, was die dann gemacht haben? Ich könnt mich beömmeln, wenn ich nur dran denke. Die haben einen Alarm vorgetäuscht. Haben die Lichter alle ausgemacht, die in seinem Zimmer haben sich in die Betten verkrochen, sich schlafend gestellt. Den anderen, von den Nachbarstuben hatten sie vorher Bescheid gesagt. Dem, der nicht hatte pissen wollen, ein dicker Dummbeutel, der alles besser wissen wollte, ein Klugscheißer ohnegleichen, der aber beim Trainingslauf jedesmal mit rotem Kopf ins Schnaufen geriet, dem haben sie voll eine Knacke vorgemimt. Mann, war das geil. Dann ist einer von denen raus, hat auch im Flur alles dunkel gemacht, wieder rein in die gute Stube und, ordentlich gegen die Spinde trommelnd, aus voller Kehle ‚Alarm‘, ‚Alarm‘ gebrüllt. Klang original nach unserm dämlichen Uffz. Der Dicke, den sie pissen lassen wollten, der hatte es verdient, sage ich dir. Das war so ein Übereifriger, der immer seine Hemden mit Wasser befeuchtete, damit die Kanten sich schön grad hinbiegen ließen. Er wusste immer schon im Voraus, was Sache war, wann es einen Alarm geben würde. Ach was, ein elender Klugscheißer eben, der zum Uffz-Lehrgang wollte. Also, wie der andere da im Dunkel ‚Alarm‘ schreit und herum hampelt, zischt der Dicke aus dem Bett, die anderen tun so, als zischten sie mit. Er reißt seinen Spind auf und ist wie ein Dötscher dabei, sich in seinen Kampfanzug zu zwängen. Und macht dabei im Dunkeln noch dumme Sprüche. Er wäre gleich fertig, hätte ja alles immer für einen Alarm bereitliegen und so. Der also, im Kampfanzug, Blechhut auf der Birne, Knarre unterm Arm, Sturmgepäck auf dem Buckel und die Blechdose mit der Gasmaske überm Arsch, alles voll dabei, der stürmt also raus wie die gesenkte Sau, während die andern nur so tun, als würden sie sich anziehen. Die konnten sich vor Lachen kaum noch halten, wie der rausstampft und sich draußen im Dunkeln vor dem Eingang zur Baracke aufbaut, mit stolzgeschwellter Brust, weil er ja der Erste ist. Nun kommt allerdings - Mann, schmeckt das Bier beschissen, was eine warme Pisse - der Stubendienst aus einer anderen Bude, der von der Verarschung des Dicken nichts wusste, mit seinem Besen und ‘nem Eimer rausgetapert und will den Dreck in die Tonne kippen. Der sieht den Pisser da stehen und fragt ihn ob er eine Macke habe oder was der Scheiß soll. Wieso, wieso, zappelt der Dicke herum, es sei doch Alarm, er solle zusehen, dass er sich nur ja schnell in den Kampfanzug begebe. Indem kommen die andern raus, im Schlafanzug und beömmeln sich. Man, stell dir den Gesichtsausdruck des Dicken vor. Jedenfalls soll der jetzt mit seinen klugen Sprüchen vorsichtiger geworden sein.“

Er schweigt und starrt aus dem Fenster. Der andere, der der Geschichte ohne große Begeisterung zugehört hat, nickt versonnen vor sich hin.
„Was soll’s. Wenn ich an den morgigen Dienst denke, dann, ach, ich denke lieber nicht dran. Mit Typen, die die dienstgeile Tour draufhaben, sollte man nicht lange fackeln, die machen das jedenfalls nicht lange. Wir hatten mal einen Uffz, der wurde immer brutaler, bis er bei einem Manöver in einen Busch gezogen und verprügelt wurde. Ein Leutnant, der uns nachts, nur um uns zu ärgern, in den Maskenball gejagt hat, das volle Programm, der ist beim Schwimmen einmal recht lange unter Wasser geblieben, wär fast ersoffen und war danach geheilt von den Sondernummern. Haben selber schuld, wenn sie es zu weit treiben, diese Drecksäcke.“
Der Zug fährt weiter durch Norddeutschland, Richtung Munster Lager. Die Erde ist dort aufgerissen von den Ketten der Panzer. Nur dürres Kieferngesträuch versucht sich mühsam am Leben zu erhalten.
„Klar, du kannst schon mal was machen, aber letztendlich bist du als Mannschaftsgrad immer der Gefickte.“
Die Bierdose ist leer und fliegt zerknautscht zu Boden. Es fehlt an Nachschub, was die Stimmung nicht verbessert.

Der Zug hält. Draußen stehen zwei Polizisten. In einer der hinteren Toiletten hat ein jugendlicher Fixer sich aufgehängt. Die beiden Polizisten schlagen die Toilettentür ein und schleppen den Körper über den Bahnsteig. Ein Bahnbeamter schaut ihnen zu. Dann setzt er eine Pfeife an die Lippen, und der Zug ruckt wieder an.
Die beiden Soldaten hängen aus dem Fenster. Einer schreit mit sich überschlagender Stimme:
„Ihr elenden Scheißbullen. Müsst ihr das arme Schwein so brutal rumschleppen?
Der andere zieht ihn wieder ins Abteil.
„Wie die den da langgeschleift haben, die Schweine. Sowas kann ich nicht ab. Der will hier sein Sterbchen machen vor lauter Elend und Verzweiflung, und die schleifen den da über den dreckigen Bahnsteig wie einen nassen Mehlsack. Dreck ist der für die. Und wir haben noch ganze hundertundreiundachzig Tage.“

Der Zug fährt weiter durch Norddeutschland. Neben den Geleisen liegen verrottete Bierdosen im Schotter. Der Mond ist nicht zu sehen. Auf den Landstraßen fahren kaum noch Autos.
Der Zug hat nicht mal Verspätung.
 

HerbertH

Mitglied
Hallo gonrom,

für mich kommt
und die folgende Selbstmordgeschichte sehr unvermittelt. Und der Versuch, die Stimmung im letzten Absatz darzustellen, passt eigentlich nur wegen der Bierdosen zu der BW-Story am Anfang. Was hat das mit den Aktionen gegen unbeliebte Stubengenossen und Vorgesetzte zu tun?

Aus meiner Sicht braucht die Geschichte einen roten Faden. Oder soll das der Zug sein?

Liebe Grüße

Herbert
 

gonrom

Mitglied
Hallo HerbertH,
ja, mit dem roten Faden ist das so eine Sache. Manchmal ergeben sich Dinge auseinander, manchmal einfach nur nacheinander. In eine etwas bierselige Stimmung, die in die Vergangenheit zieht, bricht plötzlich der Tod ein. Unvermittelt und ohne roten Faden und ohne Logik.
Warum sollten wir in Geschichten die Kontingenz dessen, was sich ereignet, leugnen? Natürlich wäre es möglich, dass alles sich ganz anders hätte ereignen können, oder dass wir es uns im Nachhinein so ausführlich erzählen, wie die Stories vom Verarschen der Vorgesetzten, die, wie alles mündlich breitgetretene, zu breit geraten. Da kommt die Realtit kaum mit. Dennoch bringt sie uns zum Verstummen und entlarvt die Allmachtsphantasien des Gelabers.
Diese Geschichte ist, so lapidar wie banal: authentisch, gleichsam dokumentarisch - nur, dass sie aus einer Zeit stammt, die schon längst vergangen ist. Insofern haftet ihr eine gewisse Patina an.
Ich nehme nicht an, damit die Suche nach dem roten Faden hinreichend beantwortet zu haben. Nordwärts geht's.
Dennoch, Danke für die Lektüre und die Gedanken über den Text.

gonrro
 

nachts

Mitglied
Ich hab mich gefragt warum die Geschichte mich so wenig fesseln konnte obwohl ich der Idee durchaus was abgewinnen kann.
Ich glaube - weil du dich fast ausschließlich für das Stilmittel "O-Ton" entschieden hast um Authentizität herzustellen und mir das atmosphärisch zu wenig ist. Selbst als Scene.
Es würde den dokumentarischen Charakter - glaub ich mal - nicht verwässern wenn du "literarischer" arbeiten würdest, und versuchen würdest den Leser etwas zu packen.
Keine Ahnung, ob rüberkommt was ich mein :)
Gruß Nachts (viel Spaß beim Schreiben)
 

mitis

Mitglied
also die lange geschichte im o-ton ist ein echter "rauskipper".
es mag ja sein, dass so geredet wird, aber wen interessiert das in dieser ausführlichkeit?
die idee, in dieses belanglose allerlei quasi nebenbei einen selbstmord platzen zu lassen, finde ich ja prinzipiell nicht schlecht.
aber trotzdem fehlt dieser geschichte ein sich durchziehender unterton, den man beim lesen spüren sollte. die frage ist: willst du ein bestimmtes gefühl vermitteln?
oder was war sonst dein motiv, diese geschichte zu schreiben?
 

gonrom

Mitglied
Ein paar Worte an nachts und mitis:
Die Geschichte ist alt, stammt aus den 80ern und wurde von mir nur leicht überarbeitet. Sie geht auf eigenes Erleben zurück, und mir ging's um diese gedrückte Stimmung auf dem Weg in die Kaserne, wo ein Absacken in wehmütig/rebellischen Geschichten (Bramarbassieren), was man eben so daherlabert, um die Zeit totzuschlagen in sich zusammenfällt. Die Realität, der Selbstmord, passiert wie nebenbei. Die Leiche wird weggeschafft. Der Zug hat nicht mal Verspätung.
Ich mag keine Geschichten mit rotem Faden. Unerträgliche Koninzidentien ereignen sich fortwährend und gerade dadurch kann es zu den sonderbarsten Stimmungskollisionen kommen. Dass ich hier dem Leser nicht literarisch entgegenkomme, hat viele Gründe. Es würde nicht zum Elend der Soldaten passen, hier herumzuschönen oder mit Tricks zu arbeiten, Perspektiven zu bemühen etc. Nachdem ich vor allem phantastische Geschichten geschrieben und veröffentlicht habe, war das mal ein Versuch, dicht an der Realtät zu bleiben.
Im Moment schwer krank, kann ich leider in Zukunft hier wohl nur noch gelegentlich, wenn überhaupt noch, mitarbeiten. Es soll wohl nicht sein.
Vielleicht nochmal hin und wieder ein Gedicht....
so long aus der Tiefebene

gonrom
 

mitis

Mitglied
gonrom, das mit deiner krankheit tut mir leid. ich wünsche dir, dass dir das schreiben hilft.
lg mitis
 



 
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