Nur aus Liebe - ein Gerichtsreport

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ElFe

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Gestern begann vor dem Bundesgericht das neu aufgenommene Verfahren um die verurteilte Doppelmörderin Eva-Maria Schrader. Ende März 1953 hatte die damals 39jährige ihren gleichaltrigen Ehemann Herbert Schrader und ihren 72jährigen Vater Ludwig Buschmann im Schlaf mit einer Axt erschlagen. Das Obergericht des Kantons Luzern verurteilte die siebenfache Mutter zu 20 Jahren Zuchthaus. Frau Schrader beantragte Revision. In der gestrigen Verhandlung plädierte sie auf Unzurechnungsfähigkeit und Änderung der Anklage von Mord auf vorsätzliche Tötung. Ruhig und gefasst saß die blasse Frau im Zeugenstand. Ihre Anwältin befragte sie ausführlich zu ihrer Lebensgeschichte, um die psychologischen Hintergründe der Tat näher zu beleuchten.

Sie kam 1914 als fünftes von acht Kindern im 5oo-Seelen-Dorf Geisbach zur Welt, berichtete sie. Ihr Vater war Dorflehrer und die Mutter verdiente ein kleines Zubrot, indem sie die Kirche und das Pfarrhaus putzte. Zuhause mußten alle mithelfen. Auf Ordnung und Sauberkeit sowie auf Respekt und Rücksichtnahme gegenüber anderen wurde großen Wert gelegt Auch achtete die Mutter sehr darauf, das wenige Geld zusammen zu halten und nicht zu verschwenden.
Nein, als Kind wurde sie nicht besonders beachtet. Schon damals war ihre ältere Schwester Hannelore das Sorgenkind der Familie. Besonders als diese 17jährig schwanger wurde und nicht sagen wollte, wer der Vater des Kindes sei. Mit Schimpf und Schande wurde sie aus dem Dorf gejagt und arbeitete dann in einer Schenke im Nachbartal. Immer wieder war die Hannelore Thema von Klatsch und Tratsch und ihre Eltern hätten unter der Schande sehr gelitten. Schließlich fiele „so etwas“ ja auf sie und ihre Erziehung zurück und noch dazu als Lehrer... Mit damals 12 Jahren verstand Eva-Maria nicht genau, um was es ging, aber dass es schlimm war, ja, das verstand sie wohl. Diese Schande...

Hier kam sie ins Stocken und mußte eine kleine Pause einlegen in ihrem Bericht, um einen Schluck Wasser zu trinken. Es war sichtlich anstrengend für sie, sich in diese Zeit zurück zu versetzen, alles noch einmal zu erleben. Ihr Gesicht war ganz grau geworden und zwischendurch sah es manchmal so aus, als müsse sie Tränen zurückhalten. Dann berichtete sie weiter:
Mit 20 Jahren heiratete sie Herbert Schrader aus dem Nachbardorf. Herbert hatte eine gute Stelle in der Fabrik und der Gemischtwarenladen seines Vaters lief auch gut. Die Beiden zogen zu seinen Eltern ins Haus, in die Wohnung über den Laden und schon bald erwarteten sie das erste Kind. Als sich ihr Bruder Ernst im Krieg den Nazis anschloß und erneut Schande über die Familie hereinbrach, litt besonders die Mutter sehr darunter. Sehnsüchtig erwartete sie jeden Brief aus Auschwitz, wo Ernst eine verantwortliche Stelle innehatte. Wenigstens war er nicht an der Front! Aber diese Gerüchte...
Eva-Maria wußte nicht, wie sie ihrer Mutter helfen sollte, war inzwischen mit dem dritten Kind schwanger und half auch den Schwiegereltern im Geschäft mit. 1944 kam der Ernst kurz nach Hause und versuchte zu erklären... Kurz darauf kam dann die Nachricht, er sei gefallen. Eva-Maria Schrader unterbrach ihren Bericht und sagte wie zu sich selbst: „Vielleicht war es besser so.“
Die Mutter konnte das nicht ertragen. Sie verfiel mehr und mehr und als sie schließlich eine Lungenentzündung bekam, hatte sie keine Kraft mehr. Bald nach der Beerdigung brachte Eva-Maria ihr mittlerweile fünftes Kind zur Welt. Das Mädchen nannten sie Irma, nach der verstorbenen Oma. Der Vater zog dann zu ihnen ins Haus. Er verstand sich gut mit den Schwiegereltern seiner Tochter, die ihren Laden inzwischen aufgegeben hatten. Zu groß war die Konkurrenz von dem neugebauten Supermarkt am Ortsrand. Nur den Zigarrenverkauf, den wollte Eva-Maria als Zubrot weiterführen. Geschäftserfahrung hatte sie im Laden der Schwiegereltern genug sammeln können. Mittlerweile verwaltete sie das Geld der gesamten Familie und die Zigarren, nun, die roch sie einfach so gern. Doch wie man es auch drehte oder wendete: es reichte vorne und hinten nicht. Herbert verdiente gut – sicherlich – und aus dem Zigarrenverkauf kam auch noch etwas dazu, ja. Aber als dann die Zwillinge geboren wurden... sieben Kinder und der Vater, die Schwiegereltern...Das kostete schon was. Und die viele Arbeit. Da habe sie manchmal einfach nicht mehr gekonnt. Da habe sie raus gemußt, erklärte Eva-Maria Schrader. Tag für Tag das gleiche. Immer dasselbe Einerlei mit den Kindern, dem Haushalt, dem Laden, den Eltern. Tagtäglich die nie endende Arbeit. Arbeit, Arbeit und nochmal Arbeit. Nichts als Arbeit. Das war doch kein Leben. Ihre Stimme wurde merklich lauter, als wolle sie gehört und verstanden werden.
Mal ganz etwas anderes sehen und hören. Und etwas anderes sein als Schraders-Mari aus dem Laden. Deshalb habe sie diese Reisen gemacht. Mal eine Woche hier, mal ein paar Tage dort. Zuhause habe sie erzählt, sie besuche die Inge, die mit ihr in der Schule und jetzt in Italien verheiratet war. Und sie war ja nie lange weg. Und sie habe immer gut für die Familie gesorgt. Vergekocht und so weiter. Die Kinder hatten es doch gut mit Oma und zwei Opas und Papa. Ja, natürlich habe sie viel Geld ausgegeben. Aber das hätte ja sein müssen. Schließlich hätte sie ja angemessene Garderobe gebraucht. Und in Italien, da seien schließlich alle Frauen so schick. Die Kleider habe sie dann zuhause im Koffer in den Keller gestellt. Über das Geld hätte sie sich keine Gedanken gemacht. Das hätte schließlich sein müssen. Da habe sie gar keine Wahl gehabt. Sonst hätte sie das nicht mehr ausgehalten. Und sie mußte ja für ihre Familie sorgen. Ordnung und Sauberkeit, Respekt und Rücksichtnahme – so, wie sie es gelernt hatte. Aber dann sei eine Betreibungsandrohung nach der anderen ins Haus geflattert. Sie hätte große Mühe gehabt, diese vor ihrem Herbert und den anderen zu verstecken. Aber diese Schande.
Nein, eine solche Schande hätte sie nicht über die Familie bringen dürfen. Sie nicht auch noch. Nein. Das hätte ihr Vater nicht überlebt. Und als dann der Beamte ins Haus kam und mit Pfändung und Versteigerung von allem drohte, da habe sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Da wäre es wieder wie früher gewesen, als sie sah, was die Schande ihrer Familie antat und sie nichts tun konnte, weil sie zu klein war. Aber jetzt, jetzt konnte sie etwas tun. Jetzt konnte sie ihrer Familie die Schande ersparen. Das sollten sie nicht erleben müssen. „Ich liebe sie schließlich.“ flüsterte Eva-Maria Schrader. „Das habe ich doch aus Liebe getan. Ich wollte sie doch vor der Schande bewahren.“

Die Anwältin hatte dem nichts hinzuzufügen. Der Prozeß wird morgen fortgeführt.
 

strumpfkuh

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Hallo ElFe,
mit dieser Geschichte hast du gezeigt, dass du schreiben kannst. Nicht nur, dass Stil und Inhalt überzeugen, auch die Gefühle deiner Protagonisten kommen prima rüber.
LG
Doro
 



 
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