Nurija

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Nurija
Das musste so sein. Aber sie hatte es gar nicht gewusst. War das noch die kesse Kleine, immer in engen Jeans, die Haare lockig schwarz bis über die Schultern, lustig lachend, stets inmitten einer lauten und lärmenden Schar von Mädchen und Jungen, die alle nicht schnell genug ihre Amerikaner, Franzbrote und Schnecken bekommen konnten, sie stürmten in der ersten großen Pause den Laden, erfüllten ihn mit Kichern, Gickern, mit Drängeln und Schubsen. Nurija war die Wortführerin, Nutella nannten die anderen sie, Nutella, mach zu, denn wie selbstverständlich war ihre Bestellung die erste. Die Schnecke mit dem dicksten Guss musste es sein.
Die Handwerker an den Bistrotischen regten sich über den Klamauk der jungen Leute auf, unterbrachen ihr brummelndes Gespräch, schüttelten ihre Köpfe. Das hinderte sie meist nicht daran, den Mädchen auf die knospenden Brüste zu starren.
Es lag an ihr, die tollende Meute so schnell wie möglich zu bedienen, dann verschwanden sie so schnell wie sie gekommen waren, und nach dem scheppernden Türglöckchen breitete sich wieder die Stille aus, untermalt von den leisen Gesprächen der Männer vor ihren Kaffeebechern.
Am Sonnabend holte Nurija drei Weißbrote, jede Woche drei Weißbrote. Auch diesmal wollte sie ihre drei Laibe, wie immer die großen von 1000 g. Nurija trug ein weißes Kopftuch. Ein langes schwarzes Gewand floss über ihren schlanken Körper, und ihr kleines rundes Gesicht wirkte zart und fein unter dem glänzenden Stoff.
Sie hätte es sich denken können, nun aber wusste sie es. So war das also. Ihr war es gleich. Nur, sie hätte in ihren Gedanken nicht auch Nutella zu ihr gesagt, wie die anderen aus der Schule, und es tat ihr leid, als hätte sie es laut gesagt.
So etwas sagt man nicht, hatte Oma erzählt. Oma lebte auch schon in dieser Straße, war hier groß geworden, hatte hier Kippel-Kappel und Kriegen gespielt, musste die Schuhe austragen, die ihr Vater repariert hatte in der Schusterei in Nummer 10, eine Treppe runter, da, wo jetzt die Sparkasse ist. Ihr Vater sollte Sarah sagen zu den Kundinnen die koscher kochen, und dann sollte er ihre Schuhe nicht mehr annehmen, sie musste sie heimlich in die Häuser tragen, bis die Zeit kam, dass ganz andere Leute die Tür auf ihr Klingeln öffneten. Die Rosenthals, Cohns und Seligmanns waren einfach weg. Das kommt vom Sarah sagen, meinte Oma.
Von jetzt an wollte sie nur noch Nurija sagen, auch in ihren Gedanken. Am Montag übte sie es gleich. „Was soll’s denn sein, Nurija?“ Und sie griff mit ihrer Zange die Schnecke mit der üppigsten Schicht Zuckerguss. Nurija nahm sie gleich auf die Hand. Aus den Augenwinkeln nahm sie das Kopfschütteln der Kerle am Bistrotisch in der Ecke wahr, es fiel kräftiger aus als sonst. Auch die zwei molligen Frauen mit den vollen Einkaufstaschen, die vorsichtig ihre Croissants in den Milchkaffee tunkten, tuschelten. Natürlich, das Kopftuch. Es fiel auf.
Am Tag darauf trat einer der Arbeiter an die Theke, als die junge Meute hinausgestürmt war und zeigte mit schwieligen, schmutzigen Finger auf die Mettbrötchen. „Schwein?“ fragte er etwas lauter als nötig. Sie nickte. „Zwei Stück“ orderte er und sah sich nach seinen Kumpanen um. Sie grinsten. „Selbstverständlich“, sagte sie und nahm einen neuen Teller. „Bitte, 2,60 macht das.“ Am nächsten Tag änderte sie ihr Angebot. Es gab Salamibrötchen. Das Schild malte sie selbst. „Geflügelsalami“, und sie stellte es mit klammheimlicher Freude auf. Der Preis blieb gleich.
Das Kopfschütteln aber verstärkte sich, besonders, wenn Nurija wie schon immer die Jungen beiseite schob und schubste. „Ich komm zuerst, du Blödmann!“ Sie kam zuerst. Wie immer, und wie immer die Schnecke mit dem meisten Zucker.
„Die kann aber gut Deutsch“, sagte der Dickste der Handwerker mit der Tätowierung auf der Hand. Einen Adler sollte sie darstellen. Er sagte es laut in die Stille nach dem Albern der Kinder und es klang, als dürfte sie das nicht. Sie begriff, dass er mit ihr gesprochen hatte. „Soll sie wohl“, antwortete sie, „Nurija ist hier geboren, hier, zwei Häuser weiter.“
Ein anderes Mal brachte sie drei geschminkten Frauen ihren Milchkaffee an den Bistrotisch neben der Tür, und sie hörte noch, wie die jüngste von ihnen zu den anderen sagte: „Ein ganz schön wilder Feger, die Kleine mit dem Kopftuch!“ Es lag ein sonderbarer Ton in der Stimme, war es Anerkennung, war es Tadel? Auf jeden Fall nahm sie den winzigen Spiegel aus ihrer Handtasche und zog sich die Lippen nach.
Sie kommentierte die Bemerkung nicht. Die drei arbeiteten drüben in der Spedition. Sie hatten’s schwer genug. Aber sie musste reagieren, als Nurija eines Tages einen blauen Fleck auf der Wange hatte, genau auf dem Wangenknochen, richtig geschwollen war es. Als der letzte sein Käsebrötchen hatte, sagte sie: „Nurija, hast du ein bisschen Zeit für mich oder müsst ihr gleich wieder rüber?“ Nurija nickte. Heute war für sie kein Tag zum Lachen.
„Kommst du hier an den Tisch?“ Sie trat hinter ihrer Theke hervor, griff nach einer Coladose aus der Kühltheke, und ging zu dem letzten freien Tisch.
Hier, wie auf allen Tischen brannten drei Adventskerzen auf den Gestecken. Sie zog die Coladose auf und stellte sie vor Nurija hin. „War das Papa?“ fragte sie leise. In diesem Augenblick läutete die Glocke für die Schubert. Nurija nickte. Frau Schubert trat an die Theke. Sie kann sich mal wieder nicht entscheiden, welches Körnerbrot sie möchte.
„Trink, das ist Medizin“, ermunterte sie Nurija. Die Schubert kann warten. „Weißt du, was diese Lichter dir sagen?“ fragte sie, und sie gab auch gleich die Antwort: „Allah will das nicht.“ Sie benutzte dieses fremde Wort, wie von selbst kam es über ihre Lippen. Sie war sich nicht sicher, ob das stimmte, aber sie hoffte es. So sagte sie es noch einmal: „Allah will das nicht. Gott will keine Gewalt. Niemals.“
Nurija trank vorsichtig und sie bediente Frau Schubert. Diesmal Sonnenblumenkerne. Als sie kassiert hatte, war Nurija gegangen. Sie hatte die Ladenglocke gar nicht gehört, so sehr war sie in ihre Gedanken verstrickt.
Der Vormittag ließ sie nicht los, auch nicht abends, als sie die drei Kerzen an ihrem Adventskranz anzündete für einen Augenblick der Stille, das Füße hochlegen und den heißen Kakao mit Cointreau trinken. War sie nicht zu weit gegangen? Wenn es so wäre, könnte sie doch die Kerzen auspusten. Fast trotzig ersetzte sie das heruntergebrannte Licht durch ein neues und nahm einen genüsslichen Schluck von ihrem Advent.
Alle Zweifel verflüchtigten sich am nächsten Vormittag. Da lachte Nurija wieder mit den anderen, lauter beinahe, und sie glaubte in Nurijas Augen ein geheimes Einverständnis aufblitzen zu sehen, als sie bestellte: „Mit viel Guss!“
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Würde dich auch gerne achten, ...

...weshalb ich dem Text genauere Beachtung geschenkt habe.
War das noch die kesse Kleine, immer in engen Jeans, die Haare lockig schwarz bis über die Schultern, lustig lachend, stets inmitten einer lauten und lärmenden Schar von Mädchen und Jungen, die alle nicht schnell genug ihre Amerikaner, Franzbrote und Schnecken bekommen konnten, sie stürmten in der ersten großen Pause den Laden, erfüllten ihn mit Kichern, Gickern, mit Drängeln und Schubsen.
Ein atemberaubender Satz, doch er passt dafür. Vielleicht ein Pünktchen vor dem großen Pausensturm.
Den lauten und lärmenden weißen Schimmel solltest Du jedoch zügeln, der rennt glatt in eine Tautologie.
Das hinderte sie meist nicht daran, den Mädchen auf die knospenden Brüste zu starren.
Du willst mir doch nicht erzählen, die hätten gelegentlich nicht gestarrt?
...dann verschwanden sie so schnell wie sie gekommen waren, und nach dem scheppernden Türglöckchen breitete sich wieder die Stille aus, ...
Komma wech da von dem 'und',
dann gibt's zum Nachschlag auch einen Vorschlag: ...nach dem Scheppern des Türglöckchens...
Auch diesmal wollte sie ihre drei Laibe, wie immer die großen von 1000 g.
Wenn die Pfunde zu Worten wuchern, sind's tausend Gramm.
Am Montag übte sie es gleich. „Was soll’s denn sein, Nurija?“
Ein Doppelpunkt brächte es auf den Punkt.
„Zwei Stück“ orderte er und sah sich nach seinen Kumpanen um.
Komma erst, dann darfst du Order geben.
Wie immer, und wie immer die Schnecke mit dem meisten Zucker.
Dass sich da immer ein Häkchen vor das 'und' drängen muss...
...sagte der Dickste der Handwerker mit der Tätowierung auf der Hand. Einen Adler sollte sie darstellen.
Nu' hack doch nicht ständig auf der handarbeitenden Bevölkerung rum, die Dicken tun's auch: sagte der Dicke mit dem tätowierten Adler auf der Hand.
„Soll sie wohl“, antwortete sie, „Nurija ist hier geboren, hier, zwei Häuser weiter.“
Zwei Punkte vermisse ich hier, einen nach ihrer Antwort und den zweiten nach der Geburt.
...an den Bistrotisch neben der Tür, und sie hörte noch...
Noch so 'n Vordrängelhaken.
Fast trotzig ersetzte sie das heruntergebrannte Licht durch ein neues und nahm einen genüsslichen Schluck von ihrem Advent.
Entweder trotzig oder nicht, ist doch keine Fastenzeit.
Hoffentlich blieb ihr der Avent nicht im Halse stecken, immerhin ist er vier Wochen lang. Und das am Stück.
...lauter beinahe, und sie glaubte in Nurijas Augen ...
Ich sag' jetzt nix...

Übrigens: Zeilensprünge stärken vor mancher Rede das Stimmvolumen.

Hat's genau gelesen, das ist's ihm wert gewesen
 



 
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