Ohne Schuhe

Verboholiker

Mitglied
Ohne Schuhe

Meine Schuhe, die vielleicht noch einiges ausgehalten hätten, mir aber zu lästig geworden waren, fristeten weit hinter mir ihr Dasein. Zwischen korrekt gebügelten Hemden, meiner weißen Hose, an deren Bügelfalte ich mich hätte schneiden können, den in Reih und Glied hängenden, teilweise zu engen Krawatten, die meine Frau mir offensichtlich aus Verlegenheit zu diversen Anlässen geschenkt hatte, standen sie. Blubb.

Die wuchtigen, mit Eisen beschlagenen Türen des Schrankes, der im Laufe der Zeit eine unschöne, fast hässliche grau-braun-grün-gelbliche, fast ins dunkelweiß stechende Farbe angenommen hatte, aber als antikes Erbstück meiner Frau nicht aus dem Inventar meines Büros hätte entfernt werden können, hatte ich fest vernagelt - kurz vor meinem Aufbruch, der hastiger nicht hätte sein können.

Mein Büro war mit einem kleinen Schreibtisch ausgestattet, dessen Schubladen nicht abschließbar waren, und dessen Tischplatte nicht die angefallenen Korrespondenzen der letzten Zeit zu fassen vermocht hatte.

Viele Blätter waren wie fallendes Laub auf den mit grauen Streifen gemusterten Teppich gesegelt, während ich versuchte, der wirren Papierflut ordnender Herr zu werden.
Das kleine, schmutzige Fenster lag zu hoch über meinem Schreibtisch, als dass ich bei der Arbeit hätte auf die Landschaft blicken können, und Licht fiel kaum hinein, wenn die Sonne die Seite des Hauses anstrahlte, die ihr zugewandt lag. So musste ich oft bei mangelndem Licht meine Geschäfte erledigen, was mich in den letzten Jahren einiges an Sehstärke hat einbüßen lassen. Meiner Arbeit kam ich jedoch stets gewissenhaft nach, jedoch beschränkte sie sich, nachdem meine Frau dies angeordnet hatte, auf mein kleines, viel zu schmales Büro, denn die anderen Räume des oberen Stockwerkes des Hauses waren, wenn man das Bad und den Ankleideraum hinzunimmt, von meiner Frau besetzt.
In ihrem Nähzimmer, das links von meinem Zimmer gelegen war, stickte sie tagsüber mit Vorliebe kleine Karos auf quadratische Tischdecken, häkelte trotz sommerlicher Hitze winterliche Oberbekleidung, während das Radio ihre Aktionen rhythmisch zu begleiten schien. Diese Arbeit mache frei, sie lenke von sonstigen Miseren ab. Eine alte, von einem schweren Fußpedal angetriebene Nähmaschine, dessen mechanische Betriebsgeräusche oft das ganze Haus erfüllte, stand in der linken hinteren Ecke des Zimmers. Mit diesem Ungetüm nähte sie Namensschilder auf die Handtücher des Hauses, die jedoch nur eine geringe Halbwertszeit besaßen, weil sie nach einigen Waschgängen unschön und unleserlich wurden.
Das Schlafzimmer lag rechts von meinem Büro. Das französische Bett mit seinen roten Bezügen war auf der Seite meiner Frau, die stets links von mir zu schlafen pflegte, deutlich durchgelegen, wobei meine Seite noch flach und auch hart wie eine Tischplatte ein ruhiges Schlafen unmöglich machte. Die Oberdecke, nicht mehr als ein dünnes, weißes Tuch, verbarg aber wie unberührt und von korrekter Hand gebügelt das Bettzeug, das ich in einer Pariser Boutique günstig erstanden hatte. Den Rest des Raumes, ja die gesamte Wand jenseits des Bettes, nahm ein gigantischer, mit goldfarbenen Verzierungen beschlagener Kleiderschrank für sich ein. Er beherbergte Legionen von Röcken, Blusen und kratzigen, selbst genähten, Oberhemden, die einem fast hastig entgegen gestürmt wären, hätte man den Schrank ohne Vorsicht leichtfertig geöffnet.
Aber so wie meine Frau niemals mein Büro betreten, ja meinen auf dem Trapez des Schreibtisches flatternden Korrespondenzen irgendeine Wichtigkeit zugeschrieben hätte, mied ich mit wacher Vorsicht das Ungetüm von Schrank, dessen Inhalt ich ebenso kein Interesse habe zukommen lassen wollen.
Nachdem ich meinen Schrank mit langen Nägeln für immer geschlossen und meine Schuhe in demselben vergraben hatte, verließ ich mit schnellen Schritten mein Büro, marschierte über den Flur, flog die verwinkelte Treppe hinab in die Vorhalle, die mir wie der letzte Posten eines langen Gewaltmarsches vorkam, dessen Abschluss mit sanfter Erleichterung fast zum Greifen, aber noch nicht fühlbar nahe war. Er hätte nicht hastiger sein können, mein Aufbruch. Aber es gibt Momente, die man nutzen muss. Ein Moment des Mutes, des Drangs, die Tür hinter mir zu schließen, ohne Schuhe einfach los zulaufen, ohne kalte Tränen, ohne falsche Abschiedsromancen, ließ meinen nackten Fuß vorsichtig, aber mit starker Entschließung auf die vor der Tür des Hauses liegende, von weiblichen Händen mit einer niedlichen Einladung bestickten Fußmatte betreten.

I

Ich erinnere mich an den Abend, an dem ich aufgebrochen war, als sei die Szene vor meinem geistigen Auge eingraviert, als sei sie nicht aus meinem Kopf zu bringen. Ich war dort und ich bin jetzt dort, während ich meine Gedanken in das ferne, aber doch so nahe Einst schicke.
Wenn ich die Augen schließe, gehe ich über die Straße, sehe die gepflegten Vorgärten der Nachbarschaft, die weißen Fassaden, die mit schweren Gardinen verhangenen Fenster, hinter die man nicht mit dem angestrengtesten Auge hätte blicken können, die von ankommenden Nachrichten leeren Briefkästen, deren Fahnen alle aufrecht standen wie um Aufmerksamkeit bemühte Antennen in einem Gewitter.
Hier und da lugt ein Gesicht zwischen Vorhang und Fensterrahmen hervor, um sich hastig wieder in den dahinter liegenden Raum zu flüchten, wenn mein Blick den ihren streift.
Der Spielplatz ist verlassen, die Schaukel pendelt ohne Kind im Wind, während das Zwielicht alles in unwirkliche Farben taucht. Die Schule ist vorüber, alle Kinder sind erwachsen geworden und haben die Stadt verlassen, um jenseits ihr Glück zu versuchen.
Ich gehe die Straße entlang, bis ich die Ortsgrenze erreiche. Vor mir unbestelltes Feld mit trockenem Acker und, wenn ich meinen Blick auf das Feld jenseits des an meinen Weg angrenzenden Feldes richte, sehe ich Gebirge von verdorbenen Rüben, über die sich eine Schar von aus meinem Blickwinkel her schwarz aussehenden Vögeln hermacht. Es könnten Krähen oder Raben sein, denke ich. Sicher ist es mir aber nicht.
Der Feldweg wird dünner und dünner, bis er seine Form und Führung gänzlich verliert, bis er nur noch wie ein wahllos in die Landschaft gelegter Faden wirkt, der vom Wind hier und da unwillkürlich verlegt wird, sodass ein Folgen gänzlich zur Unmöglichkeit würde, sähe ich nicht den aufsteigenden Mond, der mich wie ein Leuchtturm in seine Richtung, auf die der Weg grob zusteuert, zieht.
Ich schaue zurück, habe bereits eine gewisse Distanz erreicht. Die Stadt liegt ruhig und tot in der Landschaft, vereinzelte Lichter flackern im Flimmern der trockenen Hitze, die zu dieser späten Stunde noch herrscht, eine Glocke weißen Rauches liegt über den Bergen, die sich hinter der Stadt mächtig aufbauen. Es sind schwache, distale Feuer einer kleinen, abgeschlossenen Welt, einer langsam vergehenden Enklave, die ihre gütige Schutzfunktion einst, aber vor schrecklich kurzer Zeit eingebüßt hatte. Mit diesem Gedanken im Kopfe, der mir fast zu zerspringen droht, drehe ich den Kopf auf zwölf Uhr, pflanze meinen rechten Fuß in ein spitzes Bett von Steinen, verlagere mein Gewicht auf diesen, begrabe sie unter meiner Sohle, fühle das Stechen, schwinge den linken Fuß an meinem rechten Knöchel vorbei, um auch ihn auf den schneidenden Spitzen zu platzieren, dabei balanciere ich konzentriert mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und setze meinen Marsch fort.

II

Zeit spielte in meinem Vorhaben keine Rolle. Auch hatte ich kein Ziel bestimmt. Es wurde hell, es wurde dunkel, der Mond grinste mich mit prallen Backen in der Nacht an, die Sonne brannte manchmal, manchmal waren ihre Strahlen kalt und blass. Oft dachte ich an meine Frau, fragte mich mit einem Schmunzeln, welche Meinung sie nun von mir haben mag, nachdem ich das ach so kuschelige Nest derart beschmutzt hatte. Sie wird wahrscheinlich ihre Rosenzucht mit der Gartenschere, die farblich perfekt zu ihren dreckigen Schuhen passt, im geometrisch stimmigen Vorgarten bearbeiten, dachte ich. Schneiden, zum Beispiel in den Arm, wird sie sich nicht, nicht meinetwegen. Trotzdem sah ich einen Tropfen Blut, der am holzigen Stiel einer gezüchteten, mit Dornen versehenen Rose sich herab hangelte, um letztlich einen freien Fall in die Leere zu wagen. Scheinbar endlos fiel er, um letztlich in einer Pfütze aus Dreck zu landen. Blut und Dreck, ich musste an eine Sepsis und an einen qualvollen Tod denken. Ein zerebrales Völlegefühl trat nach einiger Zeit des Nachdenkens ein, also ließ ich es bleiben.
In den Ruhephasen, also meistens mittags, wenn die Sonne besonders ungnädig auf die Erde herab sah, schlief ich in wildem Gestrüpp abseits des Weges. Abends erwachte ich mit Erde und Getier in der Kleidung, meine Füße waren angeschwollen wie Luftballons, und sie schmerzten heftig. Der Schmerz war brennend, in die Oberschenkel hochziehend. Ich dachte an eine Thrombose, schüttelte aber hastig den Kopf, zeigte mit dem Finger der Rechten auf meine Stirn, um mir selbst die Flausen aus dem Hirn zu treiben, und lief weiter. Die Zeit bremste mit jedem Schritt, den ich mit Schmerzen ging, ab, bis sie scheinbar still stand, bis der Schmerz sich selbst überholt hatte und fast ein Wohlgefühl durch eine groteske Überlagerung der Schmerzwellen und eine gewisse Taubheit und Unempfindlichkeit meines Gesamten Körpers mit sich brachte.
Es war spät geworden, und ich ging schon einige Zeit ohne Schuhe über einen schmalen Weg, bis meine Füße wieder heftiger zu schmerzen begannen. Ich dachte an meine Schuhe.
Für einen Moment wünschte ich sie herbei, dass sie sich, mit kühlender Erde behaftet, meiner wunden Sohlen widmeten, um den brennenden Schmerz, den die unzähligen Steine, deren Masse kein Ende zu nehmen schienen, zu lindern. Ich träumte, dass sie, obwohl sie an allen Stellen gezwickt hatten, meine nackten Füße schützten, damit sie sich nicht völlig auflösten und zum Gehen ungeeignet würden. Auf blutigen Stummeln lässt es sich nicht gut gehen. Meine Vernunft, die zwar von der täglichen Sonne etwas ausgebrannt, aber noch verlässlich präzise funktionierte, vertrieb den Gedanken der drohenden Verstümmelung meines Körpers in die Tiefe, bis nicht viel mehr als eine flüchtige Kontur desselben mich begleitete.
Ich erreichte einen ruhigen Fluss, an dem ich einige Zeit entlang ging. Im Mondlicht verrieten schimmernde Reflektionen seine Anwesenheit, die ich zuvor in Ermangelung einer hörbaren Brandung nicht feststellen konnte.
Diese Welt war unbewohnt, aber ein kleiner, mit Kieseln bestreuter Weg schlängelte sich wie ein Zwillingsbruder des Flusses mit demselben zusammen durch die Gegend. Das Gehen wurde zusehends unerträglich. Also setzte mich auf eine Bank nahe des Flusses, abseits des gekennzeichneten Weges, um über mein weiteres Vorgehen nachzudenken. Müde war ich geworden, und jeder Schritt steckte mir in Bein und Fuß. Der Mond zeigte sich in voller Gestalt, ich geriet in einen schwarzweißen Traum.

III

Wenn meine Frau, verhüllt von falschen Tränen ihr Gesicht, schwarz wallend ihr Kleid, während sie die Schippe ergreift, gekünstelt bedächtig innehält, um dann eine ordentliche Ladung Dreck aus dem am rechten Rand des Grabes befindlichen Reservoirs an Erde zu nehmen, um sie mir auf meine zwei Meter unter ihren Füßen befindliche lachendes Angesicht zu schmeißen, gegrinst hätte, wäre ich wahrscheinlich aus meinem Loch gestiegen und hätte sie vor Großmutter, Großvater, Oheim, Tante und allen weiteren verlogenen Teilnehmern meiner Beerdigung mit brauner Erde beschmiert und geschändet. Wenn ich wirklich gestorben wäre, natürlich. Nachdem ich durch das sandig-trockene Geräusch von auf massives Holz treffender Erde kurzzeitig erwacht, einige Augenblicke völlig desorientiert war, überkam mich ein großes Gefühl. Eine Macht, die stärker als mein logisches Denken, sogar stärker als meine Biologie war, überrannte mich. Meine zitternden Lider wurden förmlich zugenagelt, nachdem von unendlichen Gewichten heruntergerissen.

IV

Blind stürzte ich mit hastigen Füßen einen finsteren, schief angelegten Gang herunter, ohne mich an dem zersplitterten Handlauf, der nur locker in die brüchige Mauer genagelt worden war, halten zu können, nur die Echos meiner nackten Sohlen durchschnitten stumpf die Grabesstille, nur der dreckig-nasse Moder meines Kellers schoss mir in die Nase, vergrub meine Sinne unter einer kalten, triefenden Last. Und die Dunkelheit wurde von fliegendem zu hastigem Schritt schärfer und grausamer. Meine Frau, mit blutiger Schere und schmutzigen Schuhen, flammte mir durch den Geist wie ein Blitz, der sich mit unzähligen Verästelungen nach mir griff. Aber die Dunkelheit des Gewölbes ließ meinen Gedanken wie einen prall gefüllten Ballon platzen; Ich spürte für eine Sekunde seinen letzten Hauch auf meiner schweißnassen Stirn. Fast wäre ich gefallen, aber ich konnte mich an den Wänden des Ganges mit zitternden Händen, nachdem ich mit denselben einige Meter fallend an ihnen entlang gerieben war, auffangen und stützen. Mein Fall wurde langsamer, jedoch nicht gänzlich gebremst. Ein Schlag in der Stille, der meine Sinne wieder erhellte, kam mir vor Kopf und Brust. Eine massive Wand schien vor mir in der Finsternis zu sein. Ich kam just zum Stehen. Meine Gedärme rebellierten, eine latente Übelkeit errang die Überhand, und ich erbrach Blut und Wasser in die Finsternis, hörte jedoch kein Plätschern, kein Auftreffen meines Erbrochenen auf den Steinboden. Ich dachte an das Ende, an den letzten Hauch der Sterbenden, der in der Klinik Tagesordnung gewesen war, an den Zerfall aller Materie, atmete heftig, fasste mit meiner Linken in die Finsternis, ergriff einen glitschigen Türknauf, drehte links, zog meine Hand zurück, hörte ein leises Ticken, hörte, wie sich nacheinander der Mechanismus von vier Schlössern nüchtern klickend in Bewegung setzte, griff mit dem Vorsatz, diesen noch einmal zu drehen erneut nach dem Türknauf, spürte ein seichtes Vibrieren in meiner Hand, und die Tür sprang mit einem schwachen Ächzen einen schmalen Spalt auf. Das Licht des neuen Sternes brannte gnadenlos in mein Gesicht, meine Haut dampfte vor Hitze. Meine Frau sitzt auf einem Gartenstuhl der Veranda unseres Hauses, sie hebt die linke Hand und winkt mir wie eine Schaufensterpuppe, die an Fäden hängt, zu, während ich versteckt in der Dornenhecke des Nachbargrundstückes knie, sie aus meinem Schatten beobachte. Und ich öffne die Augen, mein Gesicht schmerzt, die Sonne scheint Stunden gebrannt zu haben.

V

Ich schaue mich um. Im grellen Licht erschien mir der Weg nicht mehr gewiss. Überhaupt, nachdem ich aus meinem Schlaf erwacht war, kam mir die Umgebung unter der Sonne fremd vor. Die eichengleichen Bäume der letzten Nacht waren zu Birken, die Weiden zu Tannen und die Fliegenpilze, deren getupfte Schirme mir in der Nacht am Wegesrand leuchtend begegnet waren, Champignons geworden. Verlaufen hatte ich mich in der letzten Nacht, das konnte ich feststellen. Auch der Weg, an dessen Seite meine Bank stand, war nicht mehr der, den ich in der Nacht zuvor beschritten hatte. Ich kniete mich nieder, nahm eine Hand voller Kiesel des Weges, ließ sie wieder auf diesen rieseln. Nichts geschah. Ich grub meine Hand wieder in den kieseligen Boden, entnahm demselben eine ordentliche Hand voller Steinchen. Sie waren eher rund und abgeschliffen, wie von der Natur in eine ovale Form gefräst, ließ sie erneut Stück für Stück auf den Weg fallen. Ein kleiner Haufen wilden Kiesels entstand so vor meinen Füßen. Einige Zeit grub und kieselte ich weiter, bis meine Fingerspitzen zu schmerzen begannen. Plötzlich sah ich es. Auf einem der runden Steine klebte eine rote Substanz, ein Fingerabdruck, dessen rostbraune Farbe ich, indem ich schaute und leckte, als Blut identifizierte.
Während ich kniete, dachte ich an Blut und Erde, an Kiesel und Wege. Und ich träumte von meiner Kindheit, als ich im Sommer in der lebenden und flüsternden Blumenwiese hinter meinem Elternhaus lag, mit einem nach märchenhafter Natur schmeckenden Grashalm im Mund, während die abendliche Sonne ein warmes Licht erzeugte, und die Insekten belauschte, die um mich herum, ja vielleicht nur für mich, ihre Schlaflieder sangen. Ein Schmetterling mit prächtigen Flügeln landete auf meinem Bauch; ich erhob vor Freude ein kindliches Kichern, das den durch meinen wackelnden Bauch zum Wegfliegen gebrachten Schmetterling erneut seine tiefblauen Auge auf meine treffen ließ. Ich sah meine Großmutter, die mit ihren faltigen Händen behutsam nach meiner zarten, weißen Hand griff, um sie fest zu halten, und mir eine kleine Geschichte zu erzählen. Und ich war ganz Kind. Ich träumte von warmen Decken, von den gepolsterten Wänden meines Kinderwagens, von Plüschtieren, die mir wie stumme, aber liebevolle Genossen schienen, von undefinierbaren Objekten, die mir mit verniedlichenden Gesten und unverständlichen Geräuschen in meinem Kinderwagen mit riesenhaften Händen vor mein zahnlos lachendes Gesicht gehalten wurden. Und ich war ganz Säugling. Ich träumte von dumpfer Musik, von Bewegung, von warmen Stimmen, von liebender Mutterwärme, von rotem Licht, das mich wie ein Meer aus Rosen umströmte. Ich blickte auf die ultimative Fusion, sah den Anfang und das Ende.
Ich richtete mich auf, indem ich meine Fäuste in den kieseligen Boden rammte, während mir ein Gefühl unendlicher Sicht auf alle Dinge kam. Ich stand, meine Pupillen vibrierten, und erhob meinen Blick in den Himmel, und ich wurde überwältigt.

VI

Im Anfang wurde die Finsternis von einem kleinen Stern erfüllt. Er war zunächst nur ein Nadelstich in der großen, schwarzen Decke, welche die Welt zu umhüllen schien. Wie ein kleiner, unbedeutender Punkt in der Unendlichkeit des Nichts. Aber das Leben schien aus ihm zu sprudeln, denn er pulsierte – zunächst sachte, dann immer heftiger - und er wurde größer, wurde gewaltig, er erfüllte alles, ob Totes oder Lebendes, die Umhüllung zerplatzte, und er ließ seine Strahlen auf die dunkle Welt fallen. Im Himmel zeichnete sich ein Dreieck ab, und es war voller Sterne jeder erdenklicher Form und Farbe, und es war voller Nebel, die wie Spiralen oder Ellipsen geformt waren.
Voller Funken, sprühend vor hellem Licht, und mit unendlicher Energie geformt, schossen die Strahlen des Sternes in alle Weiten. Und dort, wo sie nieder kamen, Pflanzten sie neue Lichter, aus denen wiederum das Leben quollt.
Ich schoss los, flog durch Gebirge, durch Wälder und über Ozeane des Lichtes, in denen ich hätte vergehen wollen, wenn ich nicht durch eine große Kraft weiter getrieben worden wäre. Eine Schlucht mit blauem Gestein an deren Rändern tat sich auf, ich überflog sie mit rennendem Herzen, sah gigantische Bäume im Tal, deren Kronen den Himmel streichelten, erblickte jungfräuliche Leere unter, neben und über mir. Zu gerne hätte ich angehalten, um diese neuen Welten zu sehen, aber es zog mich weiter. Der Augenblick entflammte mich mit seiner üppigen Schönheit. Ich schlug mit dem Lid– es wurde wieder dunkel.

VII

Ich erschien in einem weißen Raum, der wie mein Wohnzimmer ausgestattet war, hinter mir eine sich in diesem Moment schließende Tür, Bücherregale an den Wänden, ein Sofa mit rundem Beistelltisch, keine Fenster.
Ein grauer Mann mit verkniffenen Augen saß an einem Tisch, den ich in der Mitte des Zimmers positioniert hatte. Ein Teller, Gabel und Messer, ein edler Kelch, und ein zur Hälfte verspeister Kuchen auf dem Tisch. Nachdem er meine Anwesenheit bemerkt hatte, schaute er mit trüben Augen auf und blickte auf meine Hände. Ich hielt eine verwitterte Schiefertafel in den Händen. Er legte ruhig die Gabel neben den Teller, um seine Hand zu erheben und auf die Tafel in meinen Händen zu deuten.
Ich senkte meinen Blick auf die in meinen Händen befindliche Tafel, schaute, konnte aber nicht sehen. Buchstaben, die mir völlig fremd erschienen, bildeten Worte, die ich nicht verstehen konnte, Sätze, die fürchterlich lang anmuteten, ergaben einen für mich unleserlichen Text.
Der graue Mann schmunzelte, seine Augen blitzen einen Augenblick vor kindlicher Freude. Er bewegte die Hand, mit der er zuvor auf mich gezeigt hatte, langsam einige Zentimeter nach rechts.
Ich drehte meinen Kopf in die angezeigte Richtung.
Ein mannshoher Spiegel an der Wand sah mich fragend an, ich zögerte einen Augenblick, versuchte das große Ganze zu verstehen, und ging hinüber.
Verwirrt haftete mein Blick nun wieder auf dem Mann am Tisch. Er sprach kein Wort, aber ließ eine zaghafte Geste der Zustimmung, der Bestätigung erkennen, und das machte mir einen seltsamen Mut.



VIII

Ich hielt die Tafel tief in den Spiegel, der mir mit seinem glasigen Blick dieselbe förmlich aus der Hand reißen wollte, und schaute gespannt in das Spiegelbild. Aber dort, während ich konzentriert auf die gespiegelten Buchstaben starrte, erfüllte mich ein großer Schauer.
Die Worte, die ich las, konnte ich fast begreifen, aber nicht verbalisieren. Sie schienen greifbar, aber unendlich fern zu sein. Sie waren Gefühle, gleichsam Lust und Drang, Freud und Leid. Alle Sterne, alle Galaxien wohnten ihnen inne. Und mein Mund konnte keinen Laut hervorbringen, wenn ich an die Tafel dachte. Ich las, ich verstand, ich-
Die Unsicherheit, die in mir auf kam, blieb dem Mann am Tisch nicht unbemerkt. Er fing an zu kichern, zügelte sich selbst für Sekunden, indem er eine Hand diskret vor den Mund hielt, steigerte sich jedoch letztlich in ein höflich angenehmes, aber mich peinlich berührendes Lachen. Der Finger, der auf den Spiegel gezeigt hatte, wurde Teil einer kräftigen Faust, die mit einem dumpfen Schlag auf den vibrierenden Tisch krachte. Der Kelch auf dem Tisch wankte kurz, kippelte auf seiner kreisrunden Basis, drehte sich fast elegant mit einer Pirouette, fiel um, und der rote Wein tränkte die weiße Tischdecke wie Blut, das auf Schnee trifft. Schnell breitete sich der rote Fleck aus, bis er eine unschöne Größe auf dem sonst reinen Tisch an nahm. Der Mann öffnete die Augen jetzt gänzlich, seine Züge entglitten zusehends, er fauchte geräuschlos in meine Richtung, während er mit einer vollen Hand in den Blutfleck auf der Tischdecke schlug, und sein aschgraues Gesicht mit roten Punkten übersät wurde. Er erhob die andere Hand, formte eine mächtige Faust, ließ sie auf den halben Kuchen auf den Tisch nieder fahren, sodass dessen Bestandteile quer über den Tisch und in sein Gesicht verteilt wurden. Ich stand wie festgenagelt, die Tafel in meiner Hand wurde plötzlich schwerer und schwerer, sodass ich sie nicht mehr zu halten vermochte. Während sie mir aus den Fingern glitt und fiel, drehte sie sich einmal um die eigene Achse, brauchte eine kleine Ewigkeit, bis sie dieses Manöver vollendet hatte, und zerbarst mit ihrer vollen Breite und einem lauten Splittern auf dem weißen Marmor in viele kleine Stücke, die wie Sternschnuppen auf dem Grund zu flitzen und zu verschwinden schienen. Ja, sie löste sich völlig auf, nur die Worte, die ich im Spiegel gelesen hatte, waren noch vor meinem geistigen Auge präsent.
Auch sie waren eingraviert. Und meine Frau steht hinter ihnen, mit blutiger Schere bewaffnet, grinsend ihr Gesicht. Aber ein Nicken meinerseits ließ das Blut trocknen, ließ die Schere verrosten, sogar in ihren Krallen zu Staub zerfallen. Ihre Züge veränderten sich insofern, dass ich pure Furcht in ihnen lesen konnte.
Der graue Mann erhob sich etwas mühselig von seinem Stuhl, seine Gelenke knackten wie die Glieder einer alten Marionette, er ging mit langsam schlurfenden Schrittes zur Tür, aus der ich einst gekommen war, ergriff den Türknauf, den ich einst gedreht hatte, wendete fast hörbar ächzend seinen Kopf, blickte mich ein letztes Mal über die Schulter mit nun hellwachen Augen an, und hielt für einen kurzen Augenblick inne.
 



 
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