Onkel Heinz

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Sta.tor

Foren-Redakteur
Onkel Heinz

Onkel Heinz hat am 29. Februar Geburtstag. Er erwähnt das gerne und kokettiert mit seiner scheinbar nie schwindenden Jugend.
Onkel Heinz ist der ‚große’ Bruder meines Vaters, aber richtig kennengelernt hatte ich ihn bis zu meinem dreißigsten Geburtstag nie so richtig.
Schuld daran war die Mauer.
Onkel Heinz wohnte in Lichtenrade, also Westberlin und ich in Berlin-Mitte, was im Osten liegt. Er besuchte uns eigentlich nie und gesehen hatte ich ihn das letzte Mal bei einem Kurzauftritt zu meiner Jugendweihe. Gesprochen hatten wir nichts miteinander. Wie Fremde.

Mein Vater durfte zu Onkels 50. Geburtstag das Staatsterritorium der DDR in Richtung Westberlin verlassen. Da die Ehe meiner Eltern schon geraume Zeit in Trümmern lag, spekulierte ich mit einer längeren Abwesenheit. Er kam aber wieder und brachte mir einen Anzug der Firma Levi’s mit. Ein damals, in breiten Kreisen der jüngeren DDR-Bevölkerung äußerst geschätztes Bekleidungsstück, das mein Ansehen in Freundeskreisen kometenhaft in die Höhe schnellen ließ. Das dazugehörige, äußerst auffällige T-Shirt mit der Nationalflagge der USA erwies sich (trotz neidischer Blicke) hingegen als nicht sehr alltagstauglich, erschwerte es doch den Zugang zu Jugendveranstaltungen erheblich.
Die Berichte meines Vaters von den Annehmlichkeiten des alltäglichen Lebens jenseits des antifaschistischen Schutzwalls beeindruckten mich sehr und es stellte sich die Frage, ob es denn eines Tages vielleicht möglich sein könnte, dass der gute Onkel mich auch mal zu einem seiner runden Jubiläen einlädt. So als Gegenbesuch zu meiner Jugendweihe sozusagen. Wir würden uns weiterhin nicht kennen, wären aber quitt. Ich ließ mir Zeit mit einer konkreten Anfrage.
1989 sollte Onkel Heinz 65 Jahre alt werden, oder mit seinen Worten 16 einviertel.
Im Mai 1988 war die Zeit reif, ihm mein Anliegen per Brief zu schildern, denn ich rechnete mit einer längeren Bearbeitungszeit durch die Behörden. Onkel Heinz war sofort einverstanden und schickte mir auch zügig die erforderlichen Unterlagen, wie Einladung, Meldebescheid, Mietvertrag, Geburtsurkunde usw. usf.. Mit meinem eigenen Stapel an Papieren reichte ich den Besuchsantrag ein.
Kurz vor Weihnachten bekam ich eine Einladung zur Meldestelle der Volkspolizei, Abteilung Pass- und Reiseangelegenheiten, Unterabteilung Reisen ins nichtsozialistische Ausland.
Nach stundenlangem Warten erklärte mir der zuständige Volkspolizist, dass mein Antrag auf Gewährung einer Reise nach Westberlin abgelehnt wurde. Begründung: das angegebene Geburtstagsdatum käme im Jahr 1989 nicht vor. Von weiterführenden Diskussionen wurde mir eindringlichst abgeraten.
Ich besaß den Mut, eine Eingabe an das Ministerium des Inneren zu senden, in der ich mich über die dümmliche Begründung der Ablehnung beschwerte.

Monatelang geschah nichts und Onkels Geburtstag zog an mir vorbei.

Der Herbst 1989 veränderte vieles in der DDR. Im Oktober steckte plötzlich wieder eine Einladung der Meldestelle im Briefkasten. Diesmal waren die Leute dort mehr als freundlich. Ich traute Augen und Ohren nicht. Mitfühlend wurde mir vermittelt, wie unglücklich man heute mit der damaligen Absagebegründung wäre und wie schwer meine Eingabe ihnen eigentlich auf der Seele lasten würde. Wenn ich immer noch den Wunsch verspüren würde zu reisen, bekäme ich natürlich in Kürze die Reiseunterlagen.
Na gut, ich verspürte den Wunsch und äußerte ihn.
Alles schien sich zum Guten zu wenden.
Wenn die Wende nicht dazwischengefunkt hätte.
Am 9. November fiel die Mauer, dass heißt, sie fing an zu zerbröseln. Jetzt konnte jeder in den Westen. Anträge waren nicht mehr nötig. Mein Bewilligungsschreiben war nichts mehr wert. Ich fühlte mich hintergangen.


Mit dem Überschreiten der Grenze ließ ich mir Zeit. Der Hektik der ersten Tage wollte ich mich nicht unterwerfen. Am 12. November, meinem 30. Geburtstag, durchbrach ich mit Frau und Kind den Betonwall an der Bernauer Strasse, der Schnittstelle zwischen Prenzlauer Berg im Osten und Wedding, westlich davon. Großgerät war in Stellung gebracht worden, um Mauersegmente aus dem Weg zu räumen.
Auf Westseite waren gerade Leute damit beschäftigt, das Hinweisschild „Achtung, sie verlassen jetzt West-Berlin“ zu demontieren. Begrüßt wurden wir von freundlichen jungen Menschen die uns Probepäckchen „Marlboro“ entgegenhielten. Etwa hundert Meter weiter trafen wir auf einen großen Menschenauflauf vor einem Containerfahrzeug. Aus der geöffneten Laderückwand wurden gut gefüllte Tüten in die sich prügelnde und schreiende Menge heruntergereicht und wir wurden Zeuge, wie sich der Partner der neben uns laufenden Frau in das brodelnde Gewühl schlug, mit der Ankündigung, nicht ohne zwei Tüten wiederkommen zu wollen. Ein Animateur schrie unablässig ins Mikrofon, dass er was zu verschenken hätte und so fand ein älterer Herr kaum Beachtung, der, auf halber Höhe eines Zaunes stehend, immer wieder ausrief, dass man sich schämen müsste, dafür auf die Strasse gegangen zu sein.
Kopfschüttelnd liefen wir weiter.
Meine Frau fragte mich, wo wir eigentlich hin gehen könnten.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Einfach geradeaus.
Wir könnten doch den Onkel Heinz besuchen, meinte sie. Der würde sich bestimmt freuen, nach dem ganzen Theater. Ich solle ihn doch einfach anrufen.
Och, erwiderte ich, den können wir doch jetzt jeden Tag sehen.
 
S

suzah

Gast
hallo sta.tor,

das ist wieder so eine gut erzählte kurzgeschichte, die nicht in die schreibaufgabe passte, aber eigentlich - zusammen mit anderen mehr-als250-worte-geschichten in eine eigene sammlung kommen sollte. ich hoffe, dass es so etwas geben wird.

liebe grüße suzah
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Hallo suzah,

danke für die anerkennenden Worte.
Es freut mich, dass Dir beide Geschichten gefallen, zumal eine wahr, die Andere aber erfunden ist.
Eine Mauerfallgeschichtensammlung fände ich auch sehr gut.

Viele Grüße
Sta.tor
 
S

Spaetschreiber

Gast
In mir laufen gerade Filme ab, so viele Filme.
Das ist wirklich eine wundervoll bildhaft erzählte Geschichte, ja auch mir ist, bis auf Onkel Heinz (so einen hatte ich auch, nur territorial anders aufbewwahrt) sind die Bilder plötzlich in den Alltag des Jahres 2009 gerückt.
Ich bin so froh, dass es dir möglich war, dich so präzise zu erinnern. Diese Gabe habe ich leider nicht. Mist.
Wirklich schön, so schön. Am liebsten würde ich dir jetzt ein Bier ausgeben, ein Berliner.

Klasse!

LG
Tom
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Hallo Tom,

vielen Dank für die Blumen. Mit Deinem Angebot rennst Du bei mir offene Türen ein. Wann und wo? :cool:

sabbernd
Sta.tor
 



 
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