Orientierung einer Figur

neonovalis

Mitglied
BEIM BUND (DIE KUNST, SICH NICHT UNTERZUORDNEN)

Rattarattarattarattarattarattaratta. Das Maschinengewehr tut seinen Dienst. Gottseidank. Philipp sitzt mit den anderen Kameraden im Gruppenraum. Gottseidank tut das Maschinengewehr nur seinen Dienst im Film. Auf der Mattscheibe. Philipp ist neunzehn, großgewachsen, drahtig. Unter naturgelockten, braunen Haaren sitzen braune Augen in einem markanten Gesicht. Er ist seit einem Monat Rekrut. Bei der Luftwaffe.
\"Höa ma, Alter,\" Kalle ist wie immer stinkbesoffen.
\"Da ham se se aba ma wieder gut plattgemacht, wa?\"
\"Jau.\"
Mehr sagt Philipp nicht. Er hasst Kalle, zeigt es aber nicht. Vorgestern hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn zu erschießen. Sie waren draußen am Schießstand. Hatten beide ihre Pappkameraden anvisiert. Und gelöchert. ’Philipp, nur ein kurzer Schwenker nach links. Dann einfach abdrücken. Und dann war’s das mit Kalle.‘ Dann hatte er weiter auf seinen Pappkameraden geschossen. Schließlich darf man Menschen nicht einfach umbringen, Philipp. Aber hassen darf man sie schon. Und so will Philipp seinen Hass eben manchmal ausleben. Vorgestern hatten sie seinen Kameraden weggetragen - keine Ahnung, ob die Hand noch zu retten sein würde. Das hatte Philipp verbittert gemacht. Und hart. Dabei wollte und sollte er doch den Bund als Abenteuer betrachten. In Eutin stationiert, bei Hamburg, fern der westfälischen Heimat. Ein neues Kapitel im Leben aufschlagen.-

Philipp wird zum Hauptmann `reingerufen. Er klopft an. Tritt ein. Macht seine Meldung.
\"Herr Kroniger. Ich habe gehört, dass Sie verweigern wollen.\"
\"Ja, Herr Schulz. Das will ich.\"
\"Und warum?\"
\"Ich möchte nicht auf Menschen schießen.\"
Der Hauptmann nickt verständnisvoll.
\"Aber, Herr Kroniger. Im Krieg ist das leider unerlässlich. Schließlich müssen wir unsere Demokratie schützen. Das ist Ihnen doch klar?\"
\"Ich weiß nicht, Herr Hauptmann.\"
\"Gehen Sie nochmal in sich, Herr Kroniger.\"
\"Ist gut, Herr Hauptmann.\"
Sie verabschieden sich militärisch und Philipp verlässt das Büro.-

Die Trillerpfeife schreckt die ganze Kompanie aus dem Schlaf. Auch Philipp purzelt aus dem Bett.
\"Kompanie aufsteh’n!\"
Schreit es über den Gang. Nach Morgendusche im Gemeinschaftsraum und korrekt militärischer Ankleide geht es in Reih’ und Glied ‘rüber zum Frühstück. Allein unter Kameraden. Philipp würde am liebsten aus der Truppe ausscheren. Weiß aber, dass sie ihn dann einsperren. Wegen Befehlsverweigerung. Also marschiert er widerwillig mit.

\"Willst du wirklich verweigern?\"
Kamerad Stubenfreund fragt schüchtern nach. Philipp nickt. Schlingt entschlossen seine Haferflocken `runter.
\"Warum denn?\"
\"Ich will keine Menschen töten.\"
\"Ach so.\"
Stubenfreund wird nachdenklich.
\"Du, Philipp. Vielleicht mach’ ich`s auch so wie du.\"
Philipp freut sich.-

Eine halbe Stunde später freut er sich nicht mehr.
\"Los, runter!\"
Scharf ertönt die Stimme des Unteroffiziers. Die ganze Truppe schmeißt sich in den Dreck. Auch Philipp. Was bleibt ihm anderes? Das machen sie ein paar Mal. Philipp kommt aus dem Matsch gar nicht mehr `raus. Nach dem Rödeln dann tarnen. Gebüsch umhängen. Sie laufen `rum wie die Wichtelmännchen. Fühlen sich scheiße. Der Mist ist wirklich kaum zu ertragen. Sie spielen ein wenig Indianer. Häuptling Unteroffizier immer voran. Philipp geht mit äußerstem Widerwillen mit. Beißt die Zähne zusammen. So geht es über die mittägliche Gulaschkanone weiter in den Nachmittag. Endlich gibt es ein wenig Erleichterung. Die Kameraden sind zum Schießplatz marschiert. Als die Waffen ausgegeben werden, ist Philipp erleichtert.
’Herr Kroniger. Sie sind einer der besten Schützen in der Kompanie.‘
Philipp hat die Worte des Hauptmanns noch im Ohr. Routiniert nimmt er sein Gewehr entgegen. Begibt sich an seinen Schießstand. Und legt in aller Ruhe auf den Pappkameraden an. Zielsicher wie gewohnt trifft er. Mitten ins Schwarze. Allerdings fühlt er sich dabei weniger beim Militär als auf dem Kirmesplatz. Und stellt sich vor, er würde für seine Liebste eine rote Rose schießen. Philipp ist von dem Gedanken beseelt. Trifft gut, fühlt sich gut. Als er kurz nach rechts schaut, sieht er Kalle.
’Das alte Arschgesicht.‘
Die nächste Kugel versiebt er.-

Philipp schießt im Moment nicht so gut, da nützen auch die Gedanken an die imaginäre Liebste nichts. Kamerad Kalle macht ihm das Leben schwer. Schon durch seine pure Anwesenheit. Philipp spürt, wie sein Arm zittert. Er gibt noch ein paar mehr oder weniger schlechte Schüsse ab, dann kommt der Unteroffizier und beendet die Übung. Philipp ist fertig. Nicht vom Schießen, sondern durch Kalles Anwesenheit. Der auch noch sein Mitbewohner auf der Stube ist. Die ganze Zeit über staut sich die Wut in ihm auf. Nach Abendessen, Schuhe putzen und Stubenreinigung ist es dann soweit:
\"Na, feiner Herr? Welches Buch lesen wir denn heute?\"
\"Geht dich einen Scheißdreck an.\"
\"Aber, aber. Was kennt der feine Herr denn für Ausdrücke? Das haben wir aber auf der Schule nicht gelernt. Und von Mama auch nicht.\"
Philipp sieht rot und haut Kalle eine `rein. Zeng. Fresse dick. Kalle holt zum Gegenschlag aus. Trifft aber nicht, weil Philipp sich vorher geduckt hat. Dann tritt er Kalle mit voller Wucht vor`s Schienbein. Kalle schreit auf, vor Wut und Schmerz. Bevor er sich wehren kann, öffnet sich die Tür. Und der Gefreite springt `rein.
\"Festhalten! Beide!\"
Fordert er die Stubenkameraden auf. Die Stubenkameraden gehorchen. Ruckzuck ist auch der Unteroffizier da. Und lässt sich berichten.
\"Abführen!\"
So sitzen sie, nach einem langen, harten Tag, in getrennten Zellen.-

\"Los! Aufstehen!\"
Philipp reibt sich die Augen. Er sieht die Gitterstäbe und weiß, wo er ist. Mit dem Aufstehen hat Philipp keine Probleme, egal, wie kurz die Nacht war. Und sie war sehr kurz. Dann geht`s mit der Ermahnung, \"schnell zu machen\", unter die Dusche. Dann flink zähneputzen und ankleiden. Hurtig und ungefrühstückt ab zum Hauptmann.
\"Flieger Kroniger,\" heute redet ihn der Hauptmann nicht mit \"Herr\" an, \"was haben Sie da für einen Scheiß gebaut!?\"
\"Los, antworten Sie!\" schiebt er angesichts von Philipps Sprachlosigkeit noch hinterher.
\"Ich hasse meinen Kameraden.\"
\"Name!\"
Blafft Schulz ihn an.
\"Schnelleisen.\"
\"Also, Flieger Kroniger,\" der Hauptmann guckt unvermittelt freundlich, \"Kamerad Schnelleisen ist vielleicht manchmal ein bisschen unbedarft. Trotzdem darf er am Wochenende nach Hause. Und Sie nicht. Weil Sie ihn geschlagen haben. Sind Sie damit einverstanden, Flieger Kroniger?\"
Hauptmann Schulz schaut Philipp eindringlich an.
\"Ja, Herr Hauptmann.\"
\"Abtreten!\"-

Am Wochenende hat Philipp viel Zeit. Meist latscht er mit müden Knochen auf dem Kasernengelände `rum. Und denkt an seine Prügelei mit Kamerad Kalle. Kalle ist jetzt im Wochenende. Er nicht. Das macht ihn neidisch. Und lässt ihn in Gedanken den Kamerad Kalle weiterverprügeln. Während er so in sich hineinhorcht, tut es ihm auch einmal sehr weh, als er an die nahe gelegene Liebesinsel im Großen Eutiner See denkt...

Lustlos sitzt er im Mannschaftsheim und löffelt sein Süppchen.
\"Ach, der Kamerad Kroniger.\"
\"Tag, Herr Gefreiter.\"
\"Sie können mich ruhig duzen. Ich heiße Torsten.\"
\"Philipp.\"
Er ist ganz überrascht ob der ungewohnten Vertrautheit. Torsten ist von einer anderen Ausbildungskompanie.
\"Philipp. Ich hab` von deinem Fall gehört. Und ich muss sagen: Hut ab. Starke Leistung. Hätt’ ich nicht gebracht.\"
\"Ach, Torsten. Gehört doch nichts dazu.\"
\"Na, na, Kamerad. Gehört schon `ne ganze Menge dazu. Schnelleisen ist ja wegen seiner braunen Einstellung bekannt. Wurd` echt Zeit, dass der mal in die Schranken verwiesen wurde.\"
\"Das stimmt allerdings. Aber er hätte die Tracht Prügel nicht von mir bekommen müssen. Der Arsch ist doch jetzt zuhause und lacht sich kaputt.\"
\"Philipp, Kopf hoch! Klar ist der ein Arsch. Aber der wird im Leben schon noch seinen Meister finden. Aber was ist denn mit dir? Du scheinst hier ja auch nicht grade glücklich zu sein.\"
\"Torsten, ich weiß gar nicht, was ich will. Nur, was ich nicht will!\"
\"Und das wäre?\"
\"Zum Beispiel in Reih` und Glied marschieren!\"
\"Hm, hm. Ich kann dich schon verstehen.\"
\"Deswegen will ich auch verweigern.\"
Philipp sagt das leise und ein wenig traurig.
\"Philipp, ich find`s hier auch oft Mist. Aber im Unterschied zu dir hab` ich mich entschlossen, das durchzuziehen.\"
\"Was soll ich machen? Ich halt`s hier einfach nicht aus!\"
\"Gut, Philipp. Ich sprech` mal mit dem Pfarrer! Vielleicht kann der dir ja weiterhelfen.\"
\"Das wär` echt nett von dir.\"
\"Klar, mach` ich doch. Ich geb` dir dann Bescheid.\"
\"Danke. Bis dann.\"
Philipp steht auf, zahlt sein Süppchen, gibt Torsten kameradschaftlich die Hand. Und geht.-

Es ist früher Freitagnachmittag. Philipp sitzt in Hamburg-Barmbeck in einem von der Kirche gesponserten Büro. Sein Gegenüber heißt Mike Schiller und ist Sozialarbeiter, der angehende Kriegsdienstverweigerer berät.
\"Guten Tag.\"
Philipp gibt Mike die Hand. Er wirkt etwas steif.
\"Mein Name ist Philipp Kroniger. Ich komme hier
\"Ich bin Mike. Guten Tag, Philipp,\" Mike lächelt gewinnend, \"setz’ dich doch. Möchtest du einen Kaffee?\"
\"Ja, gern.\"
Philipp ist doch etwas unsicher.
\"Ja, dann erzähl’ mal. Du möchtest also verweigern. Wie ist es denn dazu gekommen, dass du jetzt beim Bund bist?\"
\"Also, ich hatte Stress mit meinen Eltern. Tierischen Stress. Sie haben mir nach dem Abitur, das harte Arbeit für mich war, keine Pause gegönnt, sondern mich gezwungen, eine Ausbildung zu machen, die ich niemals wollte. Groß- und Außenhandelskaufmann wär’ ja okay gewesen, aber nicht in einem Turbo-Autohaus. So musste ich die Lehre nach sechs Wochen schmeißen. Dann ging’s mir dreckig, und mein Zorn richtete sich gegen meine Eltern.\"
Philipp macht eine Pause.
\"Ich bin fast durchgedreht. Hab’ mein Zimmer verwüstet.\"
Er macht eine Pause. Mike lässt ihm Zeit.
\"So konnte es nicht weitergehen,\" hebt Philipp wieder an, \"ich musste ‘raus. Da hab’ ich mir gedacht, gehste mal zum Bund. Und da bin ich vom Regen in die Traufe gekommen.\"
\"Drill, scheiß Vorgesetzte, blöde Kameraden. Oder?\"
\"Also, die Vorgesetzten gehen sogar. Aber Drill stimmt. Und ein Kamerad ist sogar ein Schwein.\"
\"Und jetzt willst du da weg.\"
\"Ja.\"
Philipp klingt entschlossen, mit einer Spur Nachdenklichkeit.
\"Ich halt’s da einfach nicht mehr aus. Und eh’ ich vor die Hunde gehe...\"
\"Gut, Philipp. Das Ziel ist also klar. Jetzt müssen wir gucken, wie wir es für dich erreichen. Dazu ist aber vor allem auch deine Mitarbeit gefragt.\"
\"Okay, Mike. Kein Problem.\"
\"Du musst deine Hausaufgaben machen. Ich geb’ dir hier schon mal Informationsmaterial über Fragen, die während der mündlichen Verhandlung kommen können. Du liest dir das durch und überlegst, wie du auf die Fragen antworten würdest.\"
Philipp sind das fast etwas zuviel Anweisungen von Mike, er sieht das Gespräch aber als seine letzte Chance an. Also pariert er.
\"Gut, Mike. Ich nehm’ das dann mal mit. Und bei unserem nächsten Treffen hab’ ich die Antworten drauf.\"
Philipp spürt, wie er langsam wieder selbstsicherer wird. Sie vereinbaren den nächsten Termin für folgenden Freitag und verabschieden sich freundlich voneinander.-

Die Zeit nimmt eine Zigarette. Nimmt einen tiefen Zug, lehnt sich zurück. Und betrachtet gelassen die Menschen, die sie, mal schneller, mal langsamer, durchstreifen.-

Philipp hat Wochenende. Sitzt in einer Kneipe in St. Pauli. Blinzelt durch die rauchgeschwängerte Luft. Und nimmt einen tiefen Schluck Bier aus dem Pilsglas. Geraucht hat er auch nie, bis ihm der Rocker neben ihm eine Selbstgedrehte hinhält. Da kann er nicht ’Nein‘ sagen. Zusammen qualmen sie eine, dann noch eine. Und noch eine. Das nächste Bier geht auf den Rocker, Philipps neuen Kumpel. Der Rocker hat mit Philipp einen Vertrag geschlossen. Er bezahlt ihm den Abend und der darf sich dafür Peters - so heißt der Rocker - Lebensgeschichte anhören. Es geht um Liebe, Eifersucht und Mord. Philipp richtet es die Nackenhaare auf. Aber da Philipp sich im Leben schon so manch’ haarsträubende Geschichte angehört hat, haut es ihn nicht um. Irgendwann geht der Rocker. Philipp steht allein vor dem Tresen und sinniert noch etwas vor sich hin. Zwischen eins und vier. Aus den Augenwinkeln sieht er noch eine Nette...

Philipp steht am Hamburger Hafen. Sieht das Wasser der Elbe. Und die Schiffe, weiß schimmernd, die auf dem Weg zum Meer sind. Sieht in die Ferne, stellt sich vor, wie ein Kreuzfahrtschiff auf dem Weg nach Amerika ist. Das geschäftige Treiben an Bord, die harte Arbeit der Seeleute, die livrierten Stewards, die schicken Damen der Gesellschaft, den einsamen Käpt’n. Auf einmal will er mit. Und ist riesig enttäuscht, weil sein schöner Traum für längere Zeit unerfüllt bleibt.-

Philipp hat die erste Nacht in der Jugendherberge genächtigt, er verbringt dort auch die zweite. Die von Samstag auf Sonntag. Diesmal nüchtern. Ernüchtert. Grade nochmal davongekommen.
Er sitzt am gemeinschaftlichen Frühstückstisch. Und löffelt gedankenverloren sein Müsli. Da sieht er die Nette vom vorgestrigen Kneipenabend wieder. Er geht hin und fragt sie, ob sie sich zu ihm setzen möchte. Zu seiner Überraschung sagt sie ‘Ja’. Sie setzt sich und nach kurzer Zeit sind die beiden ins Gespräch vertieft. Sie heißt Iris...

Die kommenden Wochen plätschern so vor sich hin. Philipp liegt im Schlamm. Marschiert in Reih` und Glied. Putzt die Knarre. Lässt sich anschreien. Er hat einen eleganten Reflex entwickelt, genau in dem Moment des beginnenden Schreies die Ohren auf Durchzug zu stellen. So stört es ihn nicht weiter.-

An den Wochenenden verwandelt sich die gesunde Anspannung in ein tiefes Glücksgefühl. Jedes Mal, wenn er mit dem Zug nach Hamburg `reinfährt, steigert sich die Vorfreude von Kilometer zu Kilometer. Gefühle erzeugen Gedanken, Gedanken erzeugen Worte. Vorerst allerdings, an den Freitagnachmittagen, wird noch hart gearbeitet. Philipp bereitet sich mit Mike zusammen auf die mündliche Verhandlung vor. Sie gehen immer wieder Argumente für seine beabsichtigte Kriegsdienstverweigerung durch. Philipp wird langsam besser und kann Mike im Rollenspiel - Mike der Vorsitzende, Philipp der Verweigerer - schon ganz gut Paroli bieten.
\"Warum wollen Sie verweigern?\"
\"Ich will keine Menschen töten!\"
\"Warum haben Sie nicht sofort verweigert, sondern sind erst zum Bund gegangen?\"
\"Ich hatte persönliche Probleme mit meinem privaten Umfeld. Statt der erhofften Orientierung fand ich beim Bund jedoch nur Orientierungslosigkeit.\"
\"Was würden Sie tun, wenn Sie nachts mit Ihrer Freundin durch den dunklen Wald gingen, und Sie würden von einem Typen angegriffen?\"
\"Ich würde meine Freundin und mich verteidigen.\"
\"Dann müssen Sie auch Ihr Vaterland verteidigen.\"
\"Nein, denn zivile Notwehr ist etwas anderes, als sogenannte Staatsnotwehr.\"
So oder ähnlich finden die Rollenspiele statt. Das Fieber bei beiden steigt. Der Tag der Verhandlung rückt immer näher. Philipp geht kurz aus dem Büro, um frische Luft zu schnappen. Der Himmel färbt sich langsam rot von der untergehenden Sonne. Philipp erscheint er mit einem Mal blutrot.-

Philipp ist ein geradliniger Mensch. Er geht nach dem Motto \"Hart, aber herzlich\" durch’s Leben.
Musste aber die Erfahrung machen, dass er aufgrund dieser offenen und ehrlichen Art auf dem Gymnasium, der kurzen Ausbildung und in Freundschaften Schwierigkeiten hatte. Große Schwierigkeiten. Größte Schwierigkeiten. Um sich das Leben mit seinen Mitmenschen wenigstens etwas zu erleichtern, wird er das ein oder andere Mal etwas kompromissfähiger. Überschreitet dabei allerdings bisweilen die Grenze zur Verstellung.
,Wer bin ich?‘
Es schreit in ihm, sucht verzweifelt nach Antwort. Findet keine...

Der Zug rattert durch die Gegend. Es ist sechs Uhr früh. Kalt und neblig. Und die ersten verschlafenen und lustlosen Gestalten hocken auf ihren Bänken und fahren zur Arbeit. Eine Gestalt ist gar nicht verschlafen. Und noch weniger lustlos. Glücklich lässt sich Philipp den roten Feuerball ins Gesicht scheinen. Die Nacht war kürzer als kurz, aber das interessiert ihn gar nicht. Er ist so inspiriert, am liebsten würde er ein Gedicht schreiben. Er sinniert gerade über die Bräutigamseiche. Sie ist der einzige Baum auf der Welt, an den man schreiben kann. Als er an ihren Namen denkt, fahren sie in den Eutiner Hauptbahnhof ein. Philipp sieht die ersten Bundeswehrfahrzeuge. Halbwegs ernüchtert fährt er mit dem Bus zur Rettbergkaserne, grüßt militärisch am Eingangstor. Und seine alte Welt, die er so dringend verlassen will, hat ihn wieder. Schnell ist er auf der Stube, hat sich noch schneller umgekleidet und tritt in Uniform vor den Hauptmann. Schulz begrüßt ihn freundlich:
\"Guten Morgen, Herr Kroniger. Sie machen einen ausgeglichenen Eindruck. Hatten Sie ein schönes Wochenende?\"
\"Sehr schön.\"
Philipp ist ganz überrascht ob der Freundlichkeit des Kompaniechefs.
\"Was macht die Wehrdienstverweigerung?\"
\"Den Antrag habe ich gestern abgeschickt. Jetzt warte ich auf einen Verhandlungstermin.\"
\"Gut, Herr Kroniger. Sie machen schön Ihre Grundausbildung weiter, bis Sie als Wehrdienstverweigerer anerkannt sind. Ich wünsche Ihnen eine gute Woche.\"
\"Danke, Herr Hauptmann. Ich Ihnen auch.\"
Philipp verlässt das Büro. Die Persönlichkeit des Hauptmanns beeindruckt ihn. Die Bundeswehr als Institution lehnt er dagegen ab. Gedankenschwer betritt er die Stube. Seine Kameraden haben bereits ihre Trainingsanzüge übergestreift - Kalle ist übrigens nicht mehr dabei. Der Kompaniechef hat ihn in ein anderes Ausbildungsregiment versetzt. Ab geht´s mit dem Bundeswehrbus zum Städtischen Schwimmbad. Philipp freut sich auf´s Schwimmen, hat es immer gerne praktiziert. Hat kein Gramm Fett zuviel an seinem drahtigen, durchtrainierten Körper. Er springt ins Wasser, krault die erste Bahn. Philipp findet so richtig Spaß an der Bewegung. Mit dem Gegner, den er sich durch seine Zermürbungstaktik den Vorgesetzten gegenüber aufgebaut hat, rechnet er nicht. Es ist ein kleines, mageres Bürschchen. Offiziersanwärter. Der schreit:
\"Aufhören! Was erlauben Sie sich!\"
Philipp nimmt erstaunt den Kopf hoch. Muss sich das Lachen
verkneifen, als er das Männchen sieht, das den Schrei ausgestoßen hat.
\"Der wirkt so ängstlich, dass er sich vor sich selbst in die Hose scheisst.\"
Das ist das Zitat eines Stubenkameraden von Philipp. Und der ängstliche Zwerg namens Müller plustert sich weiter auf:
\"Sofort aus dem Wasser `raus!\"
Da will einer drangsalieren, den man als Gegner gar nicht ernst nehmen kann. Philipp gehorcht amüsiert. Zieht sich am Beckenrand hoch. Und klettert ´raus.
\"Warum benutzen Sie nicht die Leiter, Flieger Kroniger?\"
\"Herr Gefreiter! Bitte entschuldigen Sie mein Fehlverhalten!\"
Einige von Philipps Kameraden müssen sich bereits das Lachen verkneifen.
\"Flieger Kroniger! Sie müssen hier gar nicht glauben, Sie wären der tolle Hecht! Schwimmen Sie gerne?\"
\"Sehr gerne!\"
\"Gut. Dann ist das Schwimmen für Sie gestrichen. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie zum Mannschaftsbus. Warten Sie dort. Und in der Kaserne dürfen Sie dann nachher den Hof fegen!\"
Philipp geht auf ihn zu. Will ihn schlagen. Kamerad Peter packt ihn an der Schulter, hält ihn zurück. Philipp hebt den Arm. Ballt die Faust. Kamerad Horst hält den Arm fest.
\"Nur weiter so, Flieger Kroniger. Ich werde bei Ihrem Hauptmann Meldung über Sie machen!\"
Philipps Gesicht ist vor Wut ganz rot angelaufen. Die Kameraden Horst und Peter geleiten ihn in die Umkleidekabine, passen auf, dass er nicht noch mal zum Bürschchen zurückgeht. Lassen ihn dann allein, als er sich abgekühlt hat. Im Mannschaftsbus wird ihm die Zeit gar nicht lang, sie ist voller schöner Phantasien mit Iris gefüllt. Und er braucht die Kraft der Phantasie, um mit der Montagmorgenrealität fertig zu werden. Als er im Bus irgendwann das Bürschchen zu Gesicht bekommt, steigt zwar die Wut wieder in ihm hoch - er beherrscht sich aber. Seine Wut ist ein Problem. Irgendwann wird sie ausbrechen. Vorerst bleibt er aber ruhig. Er sieht aus den Augenwinkeln die Silhouetten der Häuser von Eutin, das Witwenpalais, die Sankt-Michaelis-Kirche, das Weber-Geburtshaus vorbeiziehen. Weber, Tischbein, Voß. Vor seinem geistigen Auge erscheinen noch die schönen Skulpturen: Der junge Poet, die Schauende, der Dumm-Hans, die Lesende, das Mädchen im Wind. Und freut sich auf das schöne Buch, das er sich vor ein paar Tagen gekauft hat. \"Die Traumnovelle\" von Arthur Schnitzler. Philipp findet es sehr spannend und tiefgründig. Er sinniert ein wenig. Dann sind sie an der Kaserne angekommen. Beim Aussteigen ist er nochmal kurz davor, dem
Bürschchen ein Bein zu stellen - er beherrscht sich aber. Nach dem Umziehen, kurz bevor sie wieder in Uniform antreten, begegnet ihm Kalle. Philipp schlägt ihn nicht, zischt ihn nur kurz an:
\"Verpiss dich!\"
Guckt dabei so giftig, dass Kalle wortlos verschwindet.-

Dienstagmorgen erscheinen Philipp die Schreie dreimal so laut als sonst. Der Tag beginnt grau in grau, der Himmel weint und für Anfang Juli ist es ziemlich kalt. Philipp macht sich warme Gedanken, die ihn den Mist um ihn herum vergessen lassen. Er denkt an Iris schönen Körper. Und an ihre kluge Stimme, die ihm geraten hat, den Befehl zu verweigern. Und sich abführen zu lassen. Philipp geht zum Hauptmann hin.
\"Ich verweigere das Schießen!\"
Er trägt das in einem mutigen Ton vor.
\"Flieger Kroniger. Machen Sie keinen Scheiß! Gehen Sie zu Ihren Kameraden und fahren Sie mit `raus!\"
Die Stimme des Hauptmanns ist bestimmt, aber gelassen.
\"Ich verweigere den Gehorsam!\"
Es kommt etwas dünner, dennoch entschlossen.
\"Flieger Kroniger! Das war jetzt die zweite Befehlsverweigerung!
Beim nächsten Mal lass` ich Sie abführen!!!\"
Schulz’ Stimme klingt schneidend. Er hat die Lautstärke gesteigert. Philipp steigen die Tränen in die Augen. Sein Wille ist gebrochen. Wie ein geprügelter Hund verlässt er das Zimmer. Keine Ahnung, wie er zum Schießstand kommt. Das Gewehr wiegt dreimal so schwer wie sonst. Es zittert ihm in der Hand. Sein Arm ist merkwürdig kraftlos. Kein Wunder, dass er nur Fahrkarten schießt. Nebenan die Schreierei. Wie soll es nur weitergehen?-

Philipp schwitzt. Auf dem unbequemen, harten Holzstuhl. Seit zehn Minuten läuft seine Verhandlung. Die Verhandlung, die darüber entscheidet, ob er noch längere Zeit Frondienst verrichten muss. Oder etwas Soziales tun darf. Den Vorsitzenden, einen weißhaarigen, schmerbäuchigen, ehemaligen Richter, findet er von Anfang an zum Kotzen.
\"Sie wollen also Ihr Vaterland im Stich lassen.\"
Das sind seine ersten Worte nach der förmlichen, steifen Begrüßung.
\"Nein. Das will ich nicht. Ich leiste meinen Dienst für die Gesellschaft.\"
Philipps Augen funkeln ärgerlich.
\"So. Und warum haben Sie nicht sofort verweigert?\"
\"Aufgrund meiner persönlichen Lebensumstände musste ich von zuhause weg.\"
\"So, so. Ich habe allerdings gelesen, dass Sie eine Ausbildung abgebrochen haben. Sind Sie so ein Schwächling?\"
Philipp will aufspringen und dem alten Knacker an den Kragen gehen.
\"Hören Sie. Sie haben wohl in Ihrem langen Leben nicht viel erlebt. Sie mussten nie etwas durchstehen. Sonst würden Sie nicht so reden.\"
Philipp hat es grade noch geschafft, die Kurve zu kriegen. Zwar deutlich, aber nicht beleidigend zu werden. \"Haben Sie jetzt Ihr Abitur geschafft oder nicht?\"
\"Wie Sie meinem Lebenslauf entnehmen können, habe ich es geschafft.\"
Mike sieht, wie sich Philipps Gesicht von Neuem zu röten beginnt. Sofort beantragt er beim Vorsitzenden eine Verhandlungspause, die ihm auch gewährt wird. Sie verlassen das Büro. Auf dem Gang nimmt er Philipp beiseite:
\"Philipp! Ab jetzt führe ich die Verhandlung für dich. Du redest nur noch in Absprache mit mir,\" beschwört er ihn eindringlich.
\"Aber Mike -\"
\"Nix ’Aber Mike‘. Bevor du dem Alten an den Kragen gehst, muss ich eingreifen.\"
Sie gehen noch kurz ein paar Fangfragen durch. Dann wieder `rein ins Büro.
\"Herr Kroniger. Wie würden Sie handeln, wenn Sie mit ihrer Freundin abends allein durch den Wald gingen. Und von einer Person angegriffen würden?\"
Mike nickt ihm zu. Die Antwort hatten sie vorbereitet.
\"Ich würde uns beide verteidigen. Es gibt einen Unterschied zwischen ziviler Notwehr und sogenannter Staatsnotwehr. Wenn ich zivile Notwehr übe, heißt das noch lange nicht, dass ich im Kriegsfalle die Waffe in die Hand nehmen muss.\"
Der Alte schweigt. Dann schickt er Philipp und Mike `raus, um sich mit den beiden Beisitzern zu beraten. Der lange Gang des ehemaligen Gerichtsgebäudes riecht nach Schweiß. Philipp und Mike schwitzen aus jeder Pore. Sie sind sehr aufgeregt. Nach langen Minuten quälenden Wartens werden sie schließlich `reingerufen.
\"Sie sind als Wehrdienstverweigerer anerkannt. Sie bleiben noch Angehöriger der Bundeswehr, bis Ihr Wehrdienstverhältnis in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt worden ist.\"
Der Vorsitzende sagt das in sehr unsympathischem Tonfall. Aber das interessiert Philipp nicht. Er bricht in lauten Jubel aus. Schnappt seinen Freund und stürmt aus dem Raum, das Kopfnicken der Beisitzer nicht registrierend. Auf der Straße brüllt er weiter. Er kann es nicht fassen. Die Anspannung muss `raus, Erleichterung greift Raum. Es ist Freitagnachmittag und Philipp feiert mit Mike. Er haut das Geld `raus. Erst wird Mike zum Essen in ein feines Fischrestaurant eingeladen. Dann geht`s zum Freitagabendspiel nach St. Pauli. Last not least zu Peter in die Hafenstraße. Wo Philipp und Peter sich besaufen, als gäbe es kein Morgen. Alles auf Philipps Kosten, versteht sich. Der innerhalb weniger Stunden seinen letzten Sold verjuxt. Aber das ist ihm im Moment egal.
Um Mitternacht ziehen zwei versoffene Gestalten die Hafenstraße entlang. Unter Absingen schmutziger Lieder. Danach geht`s noch in eine WG von Peters Leuten. Es wird weiterhin um die Wette gekifft und gesoffen. Nach dem unvermeidlichen Filmriss wacht Philipp am nächsten Morgen in Peters Armen auf. In voller Montur. Sein armer Schädel zerplatzt fast. Wankend sucht er den Weg zum Wasserhahn. Er hält den Kopf unter den kalten Strahl, um wach zu werden und seinen Nachdurst zu stillen. Dann verlässt er sofort die WG. Um geschwächt und unter tödlichen Kopfschmerzen zu Peters Wohnung zurückzukehren.-

Hauptmann Schulz fragt sofort am Montagmorgen nach:
\"Wie war´s, Herr Kroniger?\"
\"Ich hab`s geschafft!\"
Philipp kann vor Begeisterung kaum an sich halten.
\"Na, dann herzlichen Glückwunsch, Herr Kroniger. Ich habe Respekt vor mutigen Leuten wie Ihnen. Das würde nicht jeder durchziehen.\"
\"Danke, Herr Hauptmann.\"
Philipp ist es fast peinlich.
\"Sie bleiben noch ein paar Wochen bei uns. Dann ist Ihr Wehrdienstverhältnis in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt. Ab Mittwoch bekommen Sie von mir Heimaturlaub. Dann können Sie sich in Ruhe eine Zivildienststelle suchen.\"
Schulz wünscht ihm noch einen guten Tag. Philipp ebenso, wie immer von der Persönlichkeit des Hauptmanns beeindruckt. Als angehender Zivi geht er zu den Sanitätern, um ihnen ein wenig über die Schulter zu schauen. Die freuen sich über einen Interessierten. Und zeigen ihm erste Hilfe. Und wie man einen Verband anlegt. Philipp ist ganz bei der Sache. Kalle ist schon ganz weit weg. Und er vergisst beinah’, dass er sich ja immer noch in der Kaserne befindet. Immerhin, die Grundausbildung hat er nicht nur überstanden. Sondern auch bestanden. Seine Kameraden aus den ersten drei Monaten sind praktisch alle weg, an andere Kasernen versetzt. Mit denen, die übriggeblieben sind, hat er nicht viel zu tun. Man grüßt sich und geht ansonsten seiner Wege. Immerhin, der Gefreite Torsten ist immer noch Gefreiter. Sie sprechen schon mal etwas länger und trinken nach Dienstschluss im Mannschaftsheim das ein oder andere Bier. Torsten will nach der Bundeswehrzeit Medizin studieren. Er hat sich schon mit einigen theoretischen Inhalten des Studiums befasst. Philipp lauscht begierig seinen Ausführungen. Vage Vorstellungen verdichten sich. Und mit einem Mal sieht er am beruflichen Horizont eine neue Perspektive auftauchen. Die Tage sind insgesamt harmonischer und ruhiger geworden. Das heißt, einmal hat er noch beinahe seine zweite Schlägerei. Irgendein Kraftprotz nennt ihn einen \"Scheiß-Zivi\" und ein \"Weichei\". Philipp will ihm auf`s Maul hauen. Aber zum Glück ist grade Torsten zugegen und geht dazwischen. \"Aufhören!\"
Er drängt die beiden auseinander.
\"Sonst geh` ich mit euch beiden zum Hauptmann!\"
Die Kontrahenten geben sich einsichtig.-

Die Tage gehen dahin, zwischen Schreibstube, essen, Schreibstube, lesen und schlafen. Irgendwann ist der Tag X da. Der Tag des Abschieds. Philipp hat sich ganz fest vorgenommen, mit zwei lachenden Augen zu gehen. Zuerst verabschiedet er sich von Torsten, dann vom Spieß. Nickt dem ein oder anderen freundlich zu. Schließlich klopft er ein letztes Mal beim Hauptmann. Ertappt sich dabei, wie er militärisch grüßen will. Nimmt die Hand schnell wieder `runter. Schulz lächelt jovial.
\"Herr Kroniger. Das ist jetzt nicht mehr nötig. Schließlich sind Sie ab morgen Zivildienstleistender.\"
\"Ja, Herr Haupt-, wollte sagen Herr Schulz.\"
\"Ist schon gut, Herr Kroniger. War ja nicht immer einfach mit Ihnen. Aber wie ich Ihnen schon mal sagte: Sie sind ein intelligenter junger Mann. Machen Sie was draus.\"
Philipp schweigt. Trotz seiner Sympathie für ihn will er sich vom Hauptmann nicht beeinflussen lassen.
\"Denken Sie mal darüber nach.\"
Philipp nickt nur. Seine Nachdenklichkeit paart sich mit Verlegenheit.
\"Werd’ ich machen, Herr Hauptmann.\"
\"Schulz.\"
Philipp lächelt. Es menschelt.-

- ENDE -
 

neonovalis

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BEIM BUND (DIE KUNST, SICH NICHT UNTERZUORDNEN)

Rattarattarattarattarattarattaratta. Das Maschinengewehr tut seinen Dienst. Gottseidank. Philipp sitzt mit den anderen Kameraden im Gruppenraum. Gottseidank tut das Maschinengewehr nur seinen Dienst im Film. Auf der Mattscheibe. Philipp ist neunzehn, großgewachsen, drahtig. Unter naturgelockten, braunen Haaren sitzen braune Augen in einem markanten Gesicht. Er ist seit einem Monat Rekrut. Bei der Luftwaffe.
\"Höa ma, Alter,\" Kalle ist wie immer stinkbesoffen.
\"Da ham se se aba ma wieder gut plattgemacht, wa?\"
\"Jau.\"
Mehr sagt Philipp nicht. Er hasst Kalle, zeigt es aber nicht. Vorgestern hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn zu erschießen. Sie waren draußen am Schießstand. Hatten beide ihre Pappkameraden anvisiert. Und gelöchert. ’Philipp, nur ein kurzer Schwenker nach links. Dann einfach abdrücken. Und dann war’s das mit Kalle.‘ Dann hatte er weiter auf seinen Pappkameraden geschossen. Schließlich darf man Menschen nicht einfach umbringen, Philipp. Aber hassen darf man sie schon. Und so will Philipp seinen Hass eben manchmal ausleben. Vorgestern hatten sie seinen Kameraden weggetragen - keine Ahnung, ob die Hand noch zu retten sein würde. Das hatte Philipp verbittert gemacht. Und hart. Dabei wollte und sollte er doch den Bund als Abenteuer betrachten. In Eutin stationiert, bei Hamburg, fern der westfälischen Heimat. Ein neues Kapitel im Leben aufschlagen.-

Philipp wird zum Hauptmann `reingerufen. Er klopft an. Tritt ein. Macht seine Meldung.
\"Herr Kroniger. Ich habe gehört, dass Sie verweigern wollen.\"
\"Ja, Herr Schulz. Das will ich.\"
\"Und warum?\"
\"Ich möchte nicht auf Menschen schießen.\"
Der Hauptmann nickt verständnisvoll.
\"Aber, Herr Kroniger. Im Krieg ist das leider unerlässlich. Schließlich müssen wir unsere Demokratie schützen. Das ist Ihnen doch klar?\"
\"Ich weiß nicht, Herr Hauptmann.\"
\"Gehen Sie nochmal in sich, Herr Kroniger.\"
\"Ist gut, Herr Hauptmann.\"
Sie verabschieden sich militärisch und Philipp verlässt das Büro.-

Die Trillerpfeife schreckt die ganze Kompanie aus dem Schlaf. Auch Philipp purzelt aus dem Bett.
\"Kompanie aufsteh’n!\"
Schreit es über den Gang. Nach Morgendusche im Gemeinschaftsraum und korrekt militärischer Ankleide geht es in Reih’ und Glied ‘rüber zum Frühstück. Allein unter Kameraden. Philipp würde am liebsten aus der Truppe ausscheren. Weiß aber, dass sie ihn dann einsperren. Wegen Befehlsverweigerung. Also marschiert er widerwillig mit.

\"Willst du wirklich verweigern?\"
Kamerad Stubenfreund fragt schüchtern nach. Philipp nickt. Schlingt entschlossen seine Haferflocken `runter.
\"Warum denn?\"
\"Ich will keine Menschen töten.\"
\"Ach so.\"
Stubenfreund wird nachdenklich.
\"Du, Philipp. Vielleicht mach’ ich`s auch so wie du.\"
Philipp freut sich.-

Eine halbe Stunde später freut er sich nicht mehr.
\"Los, runter!\"
Scharf ertönt die Stimme des Unteroffiziers. Die ganze Truppe schmeißt sich in den Dreck. Auch Philipp. Was bleibt ihm anderes? Das machen sie ein paar Mal. Philipp kommt aus dem Matsch gar nicht mehr `raus. Nach dem Rödeln dann tarnen. Gebüsch umhängen. Sie laufen `rum wie die Wichtelmännchen. Fühlen sich scheiße. Der Mist ist wirklich kaum zu ertragen. Sie spielen ein wenig Indianer. Häuptling Unteroffizier immer voran. Philipp geht mit äußerstem Widerwillen mit. Beißt die Zähne zusammen. So geht es über die mittägliche Gulaschkanone weiter in den Nachmittag. Endlich gibt es ein wenig Erleichterung. Die Kameraden sind zum Schießplatz marschiert. Als die Waffen ausgegeben werden, ist Philipp erleichtert.
’Herr Kroniger. Sie sind einer der besten Schützen in der Kompanie.‘
Philipp hat die Worte des Hauptmanns noch im Ohr. Routiniert nimmt er sein Gewehr entgegen. Begibt sich an seinen Schießstand. Und legt in aller Ruhe auf den Pappkameraden an. Zielsicher wie gewohnt trifft er. Mitten ins Schwarze. Allerdings fühlt er sich dabei weniger beim Militär als auf dem Kirmesplatz. Und stellt sich vor, er würde für seine Liebste eine rote Rose schießen. Philipp ist von dem Gedanken beseelt. Trifft gut, fühlt sich gut. Als er kurz nach rechts schaut, sieht er Kalle.
’Das alte Arschgesicht.‘
Die nächste Kugel versiebt er.-

Philipp schießt im Moment nicht so gut, da nützen auch die Gedanken an die imaginäre Liebste nichts. Kamerad Kalle macht ihm das Leben schwer. Schon durch seine pure Anwesenheit. Philipp spürt, wie sein Arm zittert. Er gibt noch ein paar mehr oder weniger schlechte Schüsse ab, dann kommt der Unteroffizier und beendet die Übung. Philipp ist fertig. Nicht vom Schießen, sondern durch Kalles Anwesenheit. Der auch noch sein Mitbewohner auf der Stube ist. Die ganze Zeit über staut sich die Wut in ihm auf. Nach Abendessen, Schuhe putzen und Stubenreinigung ist es dann soweit:
\"Na, feiner Herr? Welches Buch lesen wir denn heute?\"
\"Geht dich einen Scheißdreck an.\"
\"Aber, aber. Was kennt der feine Herr denn für Ausdrücke? Das haben wir aber auf der Schule nicht gelernt. Und von Mama auch nicht.\"
Philipp sieht rot und haut Kalle eine `rein. Zeng. Fresse dick. Kalle holt zum Gegenschlag aus. Trifft aber nicht, weil Philipp sich vorher geduckt hat. Dann tritt er Kalle mit voller Wucht vor`s Schienbein. Kalle schreit auf, vor Wut und Schmerz. Bevor er sich wehren kann, öffnet sich die Tür. Und der Gefreite springt `rein.
\"Festhalten! Beide!\"
Fordert er die Stubenkameraden auf. Die Stubenkameraden gehorchen. Ruckzuck ist auch der Unteroffizier da. Und lässt sich berichten.
\"Abführen!\"
So sitzen sie, nach einem langen, harten Tag, in getrennten Zellen.-

\"Los! Aufstehen!\"
Philipp reibt sich die Augen. Er sieht die Gitterstäbe und weiß, wo er ist. Mit dem Aufstehen hat Philipp keine Probleme, egal, wie kurz die Nacht war. Und sie war sehr kurz. Dann geht`s mit der Ermahnung, \"schnell zu machen\", unter die Dusche. Dann flink zähneputzen und ankleiden. Hurtig und ungefrühstückt ab zum Hauptmann.
\"Flieger Kroniger,\" heute redet ihn der Hauptmann nicht mit \"Herr\" an, \"was haben Sie da für einen Scheiß gebaut!?\"
\"Los, antworten Sie!\" schiebt er angesichts von Philipps Sprachlosigkeit noch hinterher.
\"Ich hasse meinen Kameraden.\"
\"Name!\"
Blafft Schulz ihn an.
\"Schnelleisen.\"
\"Also, Flieger Kroniger,\" der Hauptmann guckt unvermittelt freundlich, \"Kamerad Schnelleisen ist vielleicht manchmal ein bisschen unbedarft. Trotzdem darf er am Wochenende nach Hause. Und Sie nicht. Weil Sie ihn geschlagen haben. Sind Sie damit einverstanden, Flieger Kroniger?\"
Hauptmann Schulz schaut Philipp eindringlich an.
\"Ja, Herr Hauptmann.\"
\"Abtreten!\"-

Am Wochenende hat Philipp viel Zeit. Meist latscht er mit müden Knochen auf dem Kasernengelände `rum. Und denkt an seine Prügelei mit Kamerad Kalle. Kalle ist jetzt im Wochenende. Er nicht. Das macht ihn neidisch. Und lässt ihn in Gedanken den Kamerad Kalle weiterverprügeln. Während er so in sich hineinhorcht, tut es ihm auch einmal sehr weh, als er an die nahe gelegene Liebesinsel im Großen Eutiner See denkt...

Lustlos sitzt er im Mannschaftsheim und löffelt sein Süppchen.
\"Ach, der Kamerad Kroniger.\"
\"Tag, Herr Gefreiter.\"
\"Sie können mich ruhig duzen. Ich heiße Torsten.\"
\"Philipp.\"
Er ist ganz überrascht ob der ungewohnten Vertrautheit. Torsten ist von einer anderen Ausbildungskompanie.
\"Philipp. Ich hab` von deinem Fall gehört. Und ich muss sagen: Hut ab. Starke Leistung. Hätt’ ich nicht gebracht.\"
\"Ach, Torsten. Gehört doch nichts dazu.\"
\"Na, na, Kamerad. Gehört schon `ne ganze Menge dazu. Schnelleisen ist ja wegen seiner braunen Einstellung bekannt. Wurd` echt Zeit, dass der mal in die Schranken verwiesen wurde.\"
\"Das stimmt allerdings. Aber er hätte die Tracht Prügel nicht von mir bekommen müssen. Der Arsch ist doch jetzt zuhause und lacht sich kaputt.\"
\"Philipp, Kopf hoch! Klar ist der ein Arsch. Aber der wird im Leben schon noch seinen Meister finden. Aber was ist denn mit dir? Du scheinst hier ja auch nicht grade glücklich zu sein.\"
\"Torsten, ich weiß gar nicht, was ich will. Nur, was ich nicht will!\"
\"Und das wäre?\"
\"Zum Beispiel in Reih` und Glied marschieren!\"
\"Hm, hm. Ich kann dich schon verstehen.\"
\"Deswegen will ich auch verweigern.\"
Philipp sagt das leise und ein wenig traurig.
\"Philipp, ich find`s hier auch oft Mist. Aber im Unterschied zu dir hab` ich mich entschlossen, das durchzuziehen.\"
\"Was soll ich machen? Ich halt`s hier einfach nicht aus!\"
\"Gut, Philipp. Ich sprech` mal mit dem Pfarrer! Vielleicht kann der dir ja weiterhelfen.\"
\"Das wär` echt nett von dir.\"
\"Klar, mach` ich doch. Ich geb` dir dann Bescheid.\"
\"Danke. Bis dann.\"
Philipp steht auf, zahlt sein Süppchen, gibt Torsten kameradschaftlich die Hand. Und geht.-

Es ist früher Freitagnachmittag. Philipp sitzt in Hamburg-Barmbeck in einem von der Kirche gesponserten Büro. Sein Gegenüber heißt Mike Schiller und ist Sozialarbeiter, der angehende Kriegsdienstverweigerer berät.
\"Guten Tag.\"
Philipp gibt Mike die Hand. Er wirkt etwas steif.
\"Mein Name ist Philipp Kroniger. Ich komme hier
\"Ich bin Mike. Guten Tag, Philipp,\" Mike lächelt gewinnend, \"setz’ dich doch. Möchtest du einen Kaffee?\"
\"Ja, gern.\"
Philipp ist doch etwas unsicher.
\"Ja, dann erzähl’ mal. Du möchtest also verweigern. Wie ist es denn dazu gekommen, dass du jetzt beim Bund bist?\"
\"Also, ich hatte Stress mit meinen Eltern. Tierischen Stress. Sie haben mir nach dem Abitur, das harte Arbeit für mich war, keine Pause gegönnt, sondern mich gezwungen, eine Ausbildung zu machen, die ich niemals wollte. Groß- und Außenhandelskaufmann wär’ ja okay gewesen, aber nicht in einem Turbo-Autohaus. So musste ich die Lehre nach sechs Wochen schmeißen. Dann ging’s mir dreckig, und mein Zorn richtete sich gegen meine Eltern.\"
Philipp macht eine Pause.
\"Ich bin fast durchgedreht. Hab’ mein Zimmer verwüstet.\"
Er macht eine Pause. Mike lässt ihm Zeit.
\"So konnte es nicht weitergehen,\" hebt Philipp wieder an, \"ich musste ‘raus. Da hab’ ich mir gedacht, gehste mal zum Bund. Und da bin ich vom Regen in die Traufe gekommen.\"
\"Drill, scheiß Vorgesetzte, blöde Kameraden. Oder?\"
\"Also, die Vorgesetzten gehen sogar. Aber Drill stimmt. Und ein Kamerad ist sogar ein Schwein.\"
\"Und jetzt willst du da weg.\"
\"Ja.\"
Philipp klingt entschlossen, mit einer Spur Nachdenklichkeit.
\"Ich halt’s da einfach nicht mehr aus. Und eh’ ich vor die Hunde gehe...\"
\"Gut, Philipp. Das Ziel ist also klar. Jetzt müssen wir gucken, wie wir es für dich erreichen. Dazu ist aber vor allem auch deine Mitarbeit gefragt.\"
\"Okay, Mike. Kein Problem.\"
\"Du musst deine Hausaufgaben machen. Ich geb’ dir hier schon mal Informationsmaterial über Fragen, die während der mündlichen Verhandlung kommen können. Du liest dir das durch und überlegst, wie du auf die Fragen antworten würdest.\"
Philipp sind das fast etwas zuviel Anweisungen von Mike, er sieht das Gespräch aber als seine letzte Chance an. Also pariert er.
\"Gut, Mike. Ich nehm’ das dann mal mit. Und bei unserem nächsten Treffen hab’ ich die Antworten drauf.\"
Philipp spürt, wie er langsam wieder selbstsicherer wird. Sie vereinbaren den nächsten Termin für folgenden Freitag und verabschieden sich freundlich voneinander.-

Die Zeit nimmt eine Zigarette. Nimmt einen tiefen Zug, lehnt sich zurück. Und betrachtet gelassen die Menschen, die sie, mal schneller, mal langsamer, durchstreifen.-

Philipp hat Wochenende. Sitzt in einer Kneipe in St. Pauli. Blinzelt durch die rauchgeschwängerte Luft. Und nimmt einen tiefen Schluck Bier aus dem Pilsglas. Geraucht hat er auch nie, bis ihm der Rocker neben ihm eine Selbstgedrehte hinhält. Da kann er nicht ’Nein‘ sagen. Zusammen qualmen sie eine, dann noch eine. Und noch eine. Das nächste Bier geht auf den Rocker, Philipps neuen Kumpel. Der Rocker hat mit Philipp einen Vertrag geschlossen. Er bezahlt ihm den Abend und der darf sich dafür Peters - so heißt der Rocker - Lebensgeschichte anhören. Es geht um Liebe, Eifersucht und Mord. Philipp richtet es die Nackenhaare auf. Aber da Philipp sich im Leben schon so manch’ haarsträubende Geschichte angehört hat, haut es ihn nicht um. Irgendwann geht der Rocker. Philipp steht allein vor dem Tresen und sinniert noch etwas vor sich hin. Zwischen eins und vier. Aus den Augenwinkeln sieht er noch eine Nette...

Philipp steht am Hamburger Hafen. Sieht das Wasser der Elbe. Und die Schiffe, weiß schimmernd, die auf dem Weg zum Meer sind. Sieht in die Ferne, stellt sich vor, wie ein Kreuzfahrtschiff auf dem Weg nach Amerika ist. Das geschäftige Treiben an Bord, die harte Arbeit der Seeleute, die livrierten Stewards, die schicken Damen der Gesellschaft, den einsamen Käpt’n. Auf einmal will er mit. Und ist riesig enttäuscht, weil sein schöner Traum für längere Zeit unerfüllt bleibt.-

Philipp hat die erste Nacht in der Jugendherberge genächtigt, er verbringt dort auch die zweite. Die von Samstag auf Sonntag. Diesmal nüchtern. Ernüchtert. Grade nochmal davongekommen.
Er sitzt am gemeinschaftlichen Frühstückstisch. Und löffelt gedankenverloren sein Müsli. Da sieht er die Nette vom vorgestrigen Kneipenabend wieder. Er geht hin und fragt sie, ob sie sich zu ihm setzen möchte. Zu seiner Überraschung sagt sie ‘Ja’. Sie setzt sich und nach kurzer Zeit sind die beiden ins Gespräch vertieft. Sie heißt Iris...

Die kommenden Wochen plätschern so vor sich hin. Philipp liegt im Schlamm. Marschiert in Reih` und Glied. Putzt die Knarre. Lässt sich anschreien. Er hat einen eleganten Reflex entwickelt, genau in dem Moment des beginnenden Schreies die Ohren auf Durchzug zu stellen. So stört es ihn nicht weiter.-

An den Wochenenden verwandelt sich die gesunde Anspannung in ein tiefes Glücksgefühl. Jedes Mal, wenn er mit dem Zug nach Hamburg `reinfährt, steigert sich die Vorfreude von Kilometer zu Kilometer. Gefühle erzeugen Gedanken, Gedanken erzeugen Worte. Vorerst allerdings, an den Freitagnachmittagen, wird noch hart gearbeitet. Philipp bereitet sich mit Mike zusammen auf die mündliche Verhandlung vor. Sie gehen immer wieder Argumente für seine beabsichtigte Kriegsdienstverweigerung durch. Philipp wird langsam besser und kann Mike im Rollenspiel - Mike der Vorsitzende, Philipp der Verweigerer - schon ganz gut Paroli bieten.
\"Warum wollen Sie verweigern?\"
\"Ich will keine Menschen töten!\"
\"Warum haben Sie nicht sofort verweigert, sondern sind erst zum Bund gegangen?\"
\"Ich hatte persönliche Probleme mit meinem privaten Umfeld. Statt der erhofften Orientierung fand ich beim Bund jedoch nur Orientierungslosigkeit.\"
\"Was würden Sie tun, wenn Sie nachts mit Ihrer Freundin durch den dunklen Wald gingen, und Sie würden von einem Typen angegriffen?\"
\"Ich würde meine Freundin und mich verteidigen.\"
\"Dann müssen Sie auch Ihr Vaterland verteidigen.\"
\"Nein, denn zivile Notwehr ist etwas anderes, als sogenannte Staatsnotwehr.\"
So oder ähnlich finden die Rollenspiele statt. Das Fieber bei beiden steigt. Der Tag der Verhandlung rückt immer näher. Philipp geht kurz aus dem Büro, um frische Luft zu schnappen. Der Himmel färbt sich langsam rot von der untergehenden Sonne. Philipp erscheint er mit einem Mal blutrot.-

Philipp ist ein geradliniger Mensch. Er geht nach dem Motto \"Hart, aber herzlich\" durch’s Leben.
Musste aber die Erfahrung machen, dass er aufgrund dieser offenen und ehrlichen Art auf dem Gymnasium, der kurzen Ausbildung und in Freundschaften Schwierigkeiten hatte. Große Schwierigkeiten. Größte Schwierigkeiten. Um sich das Leben mit seinen Mitmenschen wenigstens etwas zu erleichtern, wird er das ein oder andere Mal etwas kompromissfähiger. Überschreitet dabei allerdings bisweilen die Grenze zur Verstellung.
,Wer bin ich?‘
Es schreit in ihm, sucht verzweifelt nach Antwort. Findet keine...

Der Zug rattert durch die Gegend. Es ist sechs Uhr früh. Kalt und neblig. Und die ersten verschlafenen und lustlosen Gestalten hocken auf ihren Bänken und fahren zur Arbeit. Eine Gestalt ist gar nicht verschlafen. Und noch weniger lustlos. Glücklich lässt sich Philipp den roten Feuerball ins Gesicht scheinen. Die Nacht war kürzer als kurz, aber das interessiert ihn gar nicht. Er ist so inspiriert, am liebsten würde er ein Gedicht schreiben. Er sinniert gerade über die Bräutigamseiche. Sie ist der einzige Baum auf der Welt, an den man schreiben kann. Als er an ihren Namen denkt, fahren sie in den Eutiner Hauptbahnhof ein. Philipp sieht die ersten Bundeswehrfahrzeuge. Halbwegs ernüchtert fährt er mit dem Bus zur Rettbergkaserne, grüßt militärisch am Eingangstor. Und seine alte Welt, die er so dringend verlassen will, hat ihn wieder. Schnell ist er auf der Stube, hat sich noch schneller umgekleidet und tritt in Uniform vor den Hauptmann. Schulz begrüßt ihn freundlich:
\"Guten Morgen, Herr Kroniger. Sie machen einen ausgeglichenen Eindruck. Hatten Sie ein schönes Wochenende?\"
\"Sehr schön.\"
Philipp ist ganz überrascht ob der Freundlichkeit des Kompaniechefs.
\"Was macht die Wehrdienstverweigerung?\"
\"Den Antrag habe ich gestern abgeschickt. Jetzt warte ich auf einen Verhandlungstermin.\"
\"Gut, Herr Kroniger. Sie machen schön Ihre Grundausbildung weiter, bis Sie als Wehrdienstverweigerer anerkannt sind. Ich wünsche Ihnen eine gute Woche.\"
\"Danke, Herr Hauptmann. Ich Ihnen auch.\"
Philipp verlässt das Büro. Die Persönlichkeit des Hauptmanns beeindruckt ihn. Die Bundeswehr als Institution lehnt er dagegen ab. Gedankenschwer betritt er die Stube. Seine Kameraden haben bereits ihre Trainingsanzüge übergestreift - Kalle ist übrigens nicht mehr dabei. Der Kompaniechef hat ihn in ein anderes Ausbildungsregiment versetzt. Ab geht´s mit dem Bundeswehrbus zum Städtischen Schwimmbad. Philipp freut sich auf´s Schwimmen, hat es immer gerne praktiziert. Hat kein Gramm Fett zuviel an seinem drahtigen, durchtrainierten Körper. Er springt ins Wasser, krault die erste Bahn. Philipp findet so richtig Spaß an der Bewegung. Mit dem Gegner, den er sich durch seine Zermürbungstaktik den Vorgesetzten gegenüber aufgebaut hat, rechnet er nicht. Es ist ein kleines, mageres Bürschchen. Offiziersanwärter. Der schreit:
\"Aufhören! Was erlauben Sie sich!\"
Philipp nimmt erstaunt den Kopf hoch. Muss sich das Lachen
verkneifen, als er das Männchen sieht, das den Schrei ausgestoßen hat.
\"Der wirkt so ängstlich, dass er sich vor sich selbst in die Hose scheisst.\"
Das ist das Zitat eines Stubenkameraden von Philipp. Und der ängstliche Zwerg namens Müller plustert sich weiter auf:
\"Sofort aus dem Wasser `raus!\"
Da will einer drangsalieren, den man als Gegner gar nicht ernst nehmen kann. Philipp gehorcht amüsiert. Zieht sich am Beckenrand hoch. Und klettert ´raus.
\"Warum benutzen Sie nicht die Leiter, Flieger Kroniger?\"
\"Herr Gefreiter! Bitte entschuldigen Sie mein Fehlverhalten!\"
Einige von Philipps Kameraden müssen sich bereits das Lachen verkneifen.
\"Flieger Kroniger! Sie müssen hier gar nicht glauben, Sie wären der tolle Hecht! Schwimmen Sie gerne?\"
\"Sehr gerne!\"
\"Gut. Dann ist das Schwimmen für Sie gestrichen. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie zum Mannschaftsbus. Warten Sie dort. Und in der Kaserne dürfen Sie dann nachher den Hof fegen!\"
Philipp geht auf ihn zu. Will ihn schlagen. Kamerad Peter packt ihn an der Schulter, hält ihn zurück. Philipp hebt den Arm. Ballt die Faust. Kamerad Horst hält den Arm fest.
\"Nur weiter so, Flieger Kroniger. Ich werde bei Ihrem Hauptmann Meldung über Sie machen!\"
Philipps Gesicht ist vor Wut ganz rot angelaufen. Die Kameraden Horst und Peter geleiten ihn in die Umkleidekabine, passen auf, dass er nicht noch mal zum Bürschchen zurückgeht. Lassen ihn dann allein, als er sich abgekühlt hat. Im Mannschaftsbus wird ihm die Zeit gar nicht lang, sie ist voller schöner Phantasien mit Iris gefüllt. Und er braucht die Kraft der Phantasie, um mit der Montagmorgenrealität fertig zu werden. Als er im Bus irgendwann das Bürschchen zu Gesicht bekommt, steigt zwar die Wut wieder in ihm hoch - er beherrscht sich aber. Seine Wut ist ein Problem. Irgendwann wird sie ausbrechen. Vorerst bleibt er aber ruhig. Er sieht aus den Augenwinkeln die Silhouetten der Häuser von Eutin, das Witwenpalais, die Sankt-Michaelis-Kirche, das Weber-Geburtshaus vorbeiziehen. Weber, Tischbein, Voß. Vor seinem geistigen Auge erscheinen noch die schönen Skulpturen: Der junge Poet, die Schauende, der Dumm-Hans, die Lesende, das Mädchen im Wind. Und freut sich auf das schöne Buch, das er sich vor ein paar Tagen gekauft hat. \"Die Traumnovelle\" von Arthur Schnitzler. Philipp findet es sehr spannend und tiefgründig. Er sinniert ein wenig. Dann sind sie an der Kaserne angekommen. Beim Aussteigen ist er nochmal kurz davor, dem
Bürschchen ein Bein zu stellen - er beherrscht sich aber. Nach dem Umziehen, kurz bevor sie wieder in Uniform antreten, begegnet ihm Kalle. Philipp schlägt ihn nicht, zischt ihn nur kurz an:
\"Verpiss dich!\"
Guckt dabei so giftig, dass Kalle wortlos verschwindet.-

Dienstagmorgen erscheinen Philipp die Schreie dreimal so laut als sonst. Der Tag beginnt grau in grau, der Himmel weint und für Anfang Juli ist es ziemlich kalt. Philipp macht sich warme Gedanken, die ihn den Mist um ihn herum vergessen lassen. Er denkt an Iris schönen Körper. Und an ihre kluge Stimme, die ihm geraten hat, den Befehl zu verweigern. Und sich abführen zu lassen. Philipp geht zum Hauptmann hin.
\"Ich verweigere das Schießen!\"
Er trägt das in einem mutigen Ton vor.
\"Flieger Kroniger. Machen Sie keinen Scheiß! Gehen Sie zu Ihren Kameraden und fahren Sie mit `raus!\"
Die Stimme des Hauptmanns ist bestimmt, aber gelassen.
\"Ich verweigere den Gehorsam!\"
Es kommt etwas dünner, dennoch entschlossen.
\"Flieger Kroniger! Das war jetzt die zweite Befehlsverweigerung!
Beim nächsten Mal lass` ich Sie abführen!!!\"
Schulz’ Stimme klingt schneidend. Er hat die Lautstärke gesteigert. Philipp steigen die Tränen in die Augen. Sein Wille ist gebrochen. Wie ein geprügelter Hund verlässt er das Zimmer. Keine Ahnung, wie er zum Schießstand kommt. Das Gewehr wiegt dreimal so schwer wie sonst. Es zittert ihm in der Hand. Sein Arm ist merkwürdig kraftlos. Kein Wunder, dass er nur Fahrkarten schießt. Nebenan die Schreierei. Wie soll es nur weitergehen?-

Philipp schwitzt. Auf dem unbequemen, harten Holzstuhl. Seit zehn Minuten läuft seine Verhandlung. Die Verhandlung, die darüber entscheidet, ob er noch längere Zeit Frondienst verrichten muss. Oder etwas Soziales tun darf. Den Vorsitzenden, einen weißhaarigen, schmerbäuchigen, ehemaligen Richter, findet er von Anfang an zum Kotzen.
\"Sie wollen also Ihr Vaterland im Stich lassen.\"
Das sind seine ersten Worte nach der förmlichen, steifen Begrüßung.
\"Nein. Das will ich nicht. Ich leiste meinen Dienst für die Gesellschaft.\"
Philipps Augen funkeln ärgerlich.
\"So. Und warum haben Sie nicht sofort verweigert?\"
\"Aufgrund meiner persönlichen Lebensumstände musste ich von zuhause weg.\"
\"So, so. Ich habe allerdings gelesen, dass Sie eine Ausbildung abgebrochen haben. Sind Sie so ein Schwächling?\"
Philipp will aufspringen und dem alten Knacker an den Kragen gehen.
\"Hören Sie. Sie haben wohl in Ihrem langen Leben nicht viel erlebt. Sie mussten nie etwas durchstehen. Sonst würden Sie nicht so reden.\"
Philipp hat es grade noch geschafft, die Kurve zu kriegen. Zwar deutlich, aber nicht beleidigend zu werden. \"Haben Sie jetzt Ihr Abitur geschafft oder nicht?\"
\"Wie Sie meinem Lebenslauf entnehmen können, habe ich es geschafft.\"
Mike sieht, wie sich Philipps Gesicht von Neuem zu röten beginnt. Sofort beantragt er beim Vorsitzenden eine Verhandlungspause, die ihm auch gewährt wird. Sie verlassen das Büro. Auf dem Gang nimmt er Philipp beiseite:
\"Philipp! Ab jetzt führe ich die Verhandlung für dich. Du redest nur noch in Absprache mit mir,\" beschwört er ihn eindringlich.
\"Aber Mike -\"
\"Nix ’Aber Mike‘. Bevor du dem Alten an den Kragen gehst, muss ich eingreifen.\"
Sie gehen noch kurz ein paar Fangfragen durch. Dann wieder `rein ins Büro.
\"Herr Kroniger. Wie würden Sie handeln, wenn Sie mit ihrer Freundin abends allein durch den Wald gingen. Und von einer Person angegriffen würden?\"
Mike nickt ihm zu. Die Antwort hatten sie vorbereitet.
\"Ich würde uns beide verteidigen. Es gibt einen Unterschied zwischen ziviler Notwehr und sogenannter Staatsnotwehr. Wenn ich zivile Notwehr übe, heißt das noch lange nicht, dass ich im Kriegsfalle die Waffe in die Hand nehmen muss.\"
Der Alte schweigt. Dann schickt er Philipp und Mike `raus, um sich mit den beiden Beisitzern zu beraten. Der lange Gang des ehemaligen Gerichtsgebäudes riecht nach Schweiß. Philipp und Mike schwitzen aus jeder Pore. Sie sind sehr aufgeregt. Nach langen Minuten quälenden Wartens werden sie schließlich `reingerufen.
\"Sie sind als Wehrdienstverweigerer anerkannt. Sie bleiben noch Angehöriger der Bundeswehr, bis Ihr Wehrdienstverhältnis in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt worden ist.\"
Der Vorsitzende sagt das in sehr unsympathischem Tonfall. Aber das interessiert Philipp nicht. Er bricht in lauten Jubel aus. Schnappt seinen Freund und stürmt aus dem Raum, das Kopfnicken der Beisitzer nicht registrierend. Auf der Straße brüllt er weiter. Er kann es nicht fassen. Die Anspannung muss `raus, Erleichterung greift Raum. Es ist Freitagnachmittag und Philipp feiert mit Mike. Er haut das Geld `raus. Erst wird Mike zum Essen in ein feines Fischrestaurant eingeladen. Dann geht`s zum Freitagabendspiel nach St. Pauli. Last not least zu Peter in die Hafenstraße. Wo Philipp und Peter sich besaufen, als gäbe es kein Morgen. Alles auf Philipps Kosten, versteht sich. Der innerhalb weniger Stunden seinen letzten Sold verjuxt. Aber das ist ihm im Moment egal.
Um Mitternacht ziehen zwei versoffene Gestalten die Hafenstraße entlang. Unter Absingen schmutziger Lieder. Danach geht`s noch in eine WG von Peters Leuten. Es wird weiterhin um die Wette gekifft und gesoffen. Nach dem unvermeidlichen Filmriss wacht Philipp am nächsten Morgen in Peters Armen auf. In voller Montur. Sein armer Schädel zerplatzt fast. Wankend sucht er den Weg zum Wasserhahn. Er hält den Kopf unter den kalten Strahl, um wach zu werden und seinen Nachdurst zu stillen. Dann verlässt er sofort die WG. Um geschwächt und unter tödlichen Kopfschmerzen zu Peters Wohnung zurückzukehren.-

Hauptmann Schulz fragt sofort am Montagmorgen nach:
\"Wie war´s, Herr Kroniger?\"
\"Ich hab`s geschafft!\"
Philipp kann vor Begeisterung kaum an sich halten.
\"Na, dann herzlichen Glückwunsch, Herr Kroniger. Ich habe Respekt vor mutigen Leuten wie Ihnen. Das würde nicht jeder durchziehen.\"
\"Danke, Herr Hauptmann.\"
Philipp ist es fast peinlich.
\"Sie bleiben noch ein paar Wochen bei uns. Dann ist Ihr Wehrdienstverhältnis in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt. Ab Mittwoch bekommen Sie von mir Heimaturlaub. Dann können Sie sich in Ruhe eine Zivildienststelle suchen.\"
Schulz wünscht ihm noch einen guten Tag. Philipp ebenso, wie immer von der Persönlichkeit des Hauptmanns beeindruckt. Als angehender Zivi geht er zu den Sanitätern, um ihnen ein wenig über die Schulter zu schauen. Die freuen sich über einen Interessierten. Und zeigen ihm erste Hilfe. Und wie man einen Verband anlegt. Philipp ist ganz bei der Sache. Kalle ist schon ganz weit weg. Und er vergisst beinah’, dass er sich ja immer noch in der Kaserne befindet. Immerhin, die Grundausbildung hat er nicht nur überstanden. Sondern auch bestanden. Seine Kameraden aus den ersten drei Monaten sind praktisch alle weg, an andere Kasernen versetzt. Mit denen, die übriggeblieben sind, hat er nicht viel zu tun. Man grüßt sich und geht ansonsten seiner Wege. Immerhin, der Gefreite Torsten ist immer noch Gefreiter. Sie sprechen schon mal etwas länger und trinken nach Dienstschluss im Mannschaftsheim das ein oder andere Bier. Torsten will nach der Bundeswehrzeit Medizin studieren. Er hat sich schon mit einigen theoretischen Inhalten des Studiums befasst. Philipp lauscht begierig seinen Ausführungen. Vage Vorstellungen verdichten sich. Und mit einem Mal sieht er am beruflichen Horizont eine neue Perspektive auftauchen. Die Tage sind insgesamt harmonischer und ruhiger geworden. Das heißt, einmal hat er noch beinahe seine zweite Schlägerei. Irgendein Kraftprotz nennt ihn einen \"Scheiß-Zivi\" und ein \"Weichei\". Philipp will ihm auf`s Maul hauen. Aber zum Glück ist grade Torsten zugegen und geht dazwischen. \"Aufhören!\"
Er drängt die beiden auseinander.
\"Sonst geh` ich mit euch beiden zum Hauptmann!\"
Die Kontrahenten geben sich einsichtig.-

Die Tage gehen dahin, zwischen Schreibstube, essen, Schreibstube, lesen und schlafen. Irgendwann ist der Tag X da. Der Tag des Abschieds. Philipp hat sich ganz fest vorgenommen, mit zwei lachenden Augen zu gehen. Zuerst verabschiedet er sich von Torsten, dann vom Spieß. Nickt dem ein oder anderen freundlich zu. Schließlich klopft er ein letztes Mal beim Hauptmann. Ertappt sich dabei, wie er militärisch grüßen will. Nimmt die Hand schnell wieder `runter. Schulz lächelt jovial.
\"Herr Kroniger. Das ist jetzt nicht mehr nötig. Schließlich sind Sie ab morgen Zivildienstleistender.\"
\"Ja, Herr Haupt-, wollte sagen Herr Schulz.\"
\"Ist schon gut, Herr Kroniger. War ja nicht immer einfach mit Ihnen. Aber wie ich Ihnen schon mal sagte: Sie sind ein intelligenter junger Mann. Machen Sie was draus.\"
Philipp schweigt. Trotz seiner Sympathie für ihn will er sich vom Hauptmann nicht beeinflussen lassen.
\"Denken Sie mal darüber nach.\"
Philipp nickt nur. Seine Nachdenklichkeit paart sich mit Verlegenheit.
\"Werd’ ich machen, Herr Hauptmann.\"
\"Schulz.\"
Philipp lächelt. Es menschelt.-

- ENDE -
 

neonovalis

Mitglied
BEIM BUND (DIE KUNST, SICH NICHT UNTERZUORDNEN)

Rattarattarattarattarattarattaratta. Das Maschinengewehr tut seinen Dienst. Gottseidank. Philipp sitzt mit den anderen Kameraden im Gruppenraum. Gottseidank tut das Maschinengewehr nur seinen Dienst im Film. Auf der Mattscheibe. Philipp ist neunzehn, großgewachsen, drahtig. Unter naturgelockten, braunen Haaren sitzen braune Augen in einem markanten Gesicht. Er ist seit einem Monat Rekrut. Bei der Luftwaffe.
\"Höa ma, Alter,\" Kalle ist wie immer stinkbesoffen.
\"Da ham se se aba ma wieder gut plattgemacht, wa?\"
\"Jau.\"
Mehr sagt Philipp nicht. Er hasst Kalle, zeigt es aber nicht. Vorgestern hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn zu erschießen. Sie waren draußen am Schießstand. Hatten beide ihre Pappkameraden anvisiert. Und gelöchert. ’Philipp, nur ein kurzer Schwenker nach links. Dann einfach abdrücken. Und dann war’s das mit Kalle.‘ Dann hatte er weiter auf seinen Pappkameraden geschossen. Schließlich darf man Menschen nicht einfach umbringen, Philipp. Aber hassen darf man sie schon. Und so will Philipp seinen Hass eben manchmal ausleben. Vorgestern hatten sie seinen Kameraden weggetragen - keine Ahnung, ob die Hand noch zu retten sein würde. Das hatte Philipp verbittert gemacht. Und hart. Dabei wollte und sollte er doch den Bund als Abenteuer betrachten. In Eutin stationiert, bei Hamburg, fern der westfälischen Heimat. Ein neues Kapitel im Leben aufschlagen.-

Philipp wird zum Hauptmann `reingerufen. Er klopft an. Tritt ein. Macht seine Meldung.
\"Herr Kroniger. Ich habe gehört, dass Sie verweigern wollen.\"
\"Ja, Herr Schulz. Das will ich.\"
\"Und warum?\"
\"Ich möchte nicht auf Menschen schießen.\"
Der Hauptmann nickt verständnisvoll.
\"Aber, Herr Kroniger. Im Krieg ist das leider unerlässlich. Schließlich müssen wir unsere Demokratie schützen. Das ist Ihnen doch klar?\"
\"Ich weiß nicht, Herr Hauptmann.\"
\"Gehen Sie nochmal in sich, Herr Kroniger.\"
\"Ist gut, Herr Hauptmann.\"
Sie verabschieden sich militärisch und Philipp verlässt das Büro.-

Die Trillerpfeife schreckt die ganze Kompanie aus dem Schlaf. Auch Philipp purzelt aus dem Bett.
\"Kompanie aufsteh’n!\"
Schreit es über den Gang. Nach Morgendusche im Gemeinschaftsraum und korrekt militärischer Ankleide geht es in Reih’ und Glied ‘rüber zum Frühstück. Allein unter Kameraden. Philipp würde am liebsten aus der Truppe ausscheren. Weiß aber, dass sie ihn dann einsperren. Wegen Befehlsverweigerung. Also marschiert er widerwillig mit.

\"Willst du wirklich verweigern?\"
Kamerad Stubenfreund fragt schüchtern nach. Philipp nickt. Schlingt entschlossen seine Haferflocken `runter.
\"Warum denn?\"
\"Ich will keine Menschen töten.\"
\"Ach so.\"
Stubenfreund wird nachdenklich.
\"Du, Philipp. Vielleicht mach’ ich`s auch so wie du.\"
Philipp freut sich.-

Eine halbe Stunde später freut er sich nicht mehr.
\"Los, runter!\"
Scharf ertönt die Stimme des Unteroffiziers. Die ganze Truppe schmeißt sich in den Dreck. Auch Philipp. Was bleibt ihm anderes? Das machen sie ein paar Mal. Philipp kommt aus dem Matsch gar nicht mehr `raus. Nach dem Rödeln dann tarnen. Gebüsch umhängen. Sie laufen `rum wie die Wichtelmännchen. Fühlen sich scheiße. Der Mist ist wirklich kaum zu ertragen. Sie spielen ein wenig Indianer. Häuptling Unteroffizier immer voran. Philipp geht mit äußerstem Widerwillen mit. Beißt die Zähne zusammen. So geht es über die mittägliche Gulaschkanone weiter in den Nachmittag. Endlich gibt es ein wenig Erleichterung. Die Kameraden sind zum Schießplatz marschiert. Als die Waffen ausgegeben werden, ist Philipp erleichtert.
’Herr Kroniger. Sie sind einer der besten Schützen in der Kompanie.‘
Philipp hat die Worte des Hauptmanns noch im Ohr. Routiniert nimmt er sein Gewehr entgegen. Begibt sich an seinen Schießstand. Und legt in aller Ruhe auf den Pappkameraden an. Zielsicher wie gewohnt trifft er. Mitten ins Schwarze. Allerdings fühlt er sich dabei weniger beim Militär als auf dem Kirmesplatz. Und stellt sich vor, er würde für seine Liebste eine rote Rose schießen. Philipp ist von dem Gedanken beseelt. Trifft gut, fühlt sich gut. Als er kurz nach rechts schaut, sieht er Kalle.
’Das alte Arschgesicht.‘
Die nächste Kugel versiebt er.-

Philipp schießt im Moment nicht so gut, da nützen auch die Gedanken an die imaginäre Liebste nichts. Kamerad Kalle macht ihm das Leben schwer. Schon durch seine pure Anwesenheit. Philipp spürt, wie sein Arm zittert. Er gibt noch ein paar mehr oder weniger schlechte Schüsse ab, dann kommt der Unteroffizier und beendet die Übung. Philipp ist fertig. Nicht vom Schießen, sondern durch Kalles Anwesenheit. Der auch noch sein Mitbewohner auf der Stube ist. Die ganze Zeit über staut sich die Wut in ihm auf. Nach Abendessen, Schuhe putzen und Stubenreinigung ist es dann soweit:
\"Na, feiner Herr? Welches Buch lesen wir denn heute?\"
\"Geht dich einen Scheißdreck an.\"
\"Aber, aber. Was kennt der feine Herr denn für Ausdrücke? Das haben wir aber auf der Schule nicht gelernt. Und von Mama auch nicht.\"
Philipp sieht rot und haut Kalle eine `rein. Zeng. Fresse dick. Kalle holt zum Gegenschlag aus. Trifft aber nicht, weil Philipp sich vorher geduckt hat. Dann tritt er Kalle mit voller Wucht vor`s Schienbein. Kalle schreit auf, vor Wut und Schmerz. Bevor er sich wehren kann, öffnet sich die Tür. Und der Gefreite springt `rein.
\"Festhalten! Beide!\"
Fordert er die Stubenkameraden auf. Die Stubenkameraden gehorchen. Ruckzuck ist auch der Unteroffizier da. Und lässt sich berichten.
\"Abführen!\"
So sitzen sie, nach einem langen, harten Tag, in getrennten Zellen.-

\"Los! Aufstehen!\"
Philipp reibt sich die Augen. Er sieht die Gitterstäbe und weiß, wo er ist. Mit dem Aufstehen hat Philipp keine Probleme, egal, wie kurz die Nacht war. Und sie war sehr kurz. Dann geht`s mit der Ermahnung, \"schnell zu machen\", unter die Dusche. Dann flink zähneputzen und ankleiden. Hurtig und ungefrühstückt ab zum Hauptmann.
\"Flieger Kroniger,\" heute redet ihn der Hauptmann nicht mit \"Herr\" an, \"was haben Sie da für einen Scheiß gebaut!?\"
\"Los, antworten Sie!\" schiebt er angesichts von Philipps Sprachlosigkeit noch hinterher.
\"Ich hasse meinen Kameraden.\"
\"Name!\"
Blafft Schulz ihn an.
\"Schnelleisen.\"
\"Also, Flieger Kroniger,\" der Hauptmann guckt unvermittelt freundlich, \"Kamerad Schnelleisen ist vielleicht manchmal ein bisschen unbedarft. Trotzdem darf er am Wochenende nach Hause. Und Sie nicht. Weil Sie ihn geschlagen haben. Sind Sie damit einverstanden, Flieger Kroniger?\"
Hauptmann Schulz schaut Philipp eindringlich an.
\"Ja, Herr Hauptmann.\"
\"Abtreten!\"-

Am Wochenende hat Philipp viel Zeit. Meist latscht er mit müden Knochen auf dem Kasernengelände `rum. Und denkt an seine Prügelei mit Kamerad Kalle. Kalle ist jetzt im Wochenende. Er nicht. Das macht ihn neidisch. Und lässt ihn in Gedanken den Kamerad Kalle weiterverprügeln. Während er so in sich hineinhorcht, tut es ihm auch einmal sehr weh, als er an die nahe gelegene Liebesinsel im Großen Eutiner See denkt...

Lustlos sitzt er im Mannschaftsheim und löffelt sein Süppchen.
\"Ach, der Kamerad Kroniger.\"
\"Tag, Herr Gefreiter.\"
\"Sie können mich ruhig duzen. Ich heiße Torsten.\"
\"Philipp.\"
Er ist ganz überrascht ob der ungewohnten Vertrautheit. Torsten ist von einer anderen Ausbildungskompanie.
\"Philipp. Ich hab` von deinem Fall gehört. Und ich muss sagen: Hut ab. Starke Leistung. Hätt’ ich nicht gebracht.\"
\"Ach, Torsten. Gehört doch nichts dazu.\"
\"Na, na, Kamerad. Gehört schon `ne ganze Menge dazu. Schnelleisen ist ja wegen seiner braunen Einstellung bekannt. Wurd` echt Zeit, dass der mal in die Schranken verwiesen wurde.\"
\"Das stimmt allerdings. Aber er hätte die Tracht Prügel nicht von mir bekommen müssen. Der Arsch ist doch jetzt zuhause und lacht sich kaputt.\"
\"Philipp, Kopf hoch! Klar ist der ein Arsch. Aber der wird im Leben schon noch seinen Meister finden. Aber was ist denn mit dir? Du scheinst hier ja auch nicht grade glücklich zu sein.\"
\"Torsten, ich weiß gar nicht, was ich will. Nur, was ich nicht will!\"
\"Und das wäre?\"
\"Zum Beispiel in Reih` und Glied marschieren!\"
\"Hm, hm. Ich kann dich schon verstehen.\"
\"Deswegen will ich auch verweigern.\"
Philipp sagt das leise und ein wenig traurig.
\"Philipp, ich find`s hier auch oft Mist. Aber im Unterschied zu dir hab` ich mich entschlossen, das durchzuziehen.\"
\"Was soll ich machen? Ich halt`s hier einfach nicht aus!\"
\"Gut, Philipp. Ich sprech` mal mit dem Pfarrer! Vielleicht kann der dir ja weiterhelfen.\"
\"Das wär` echt nett von dir.\"
\"Klar, mach` ich doch. Ich geb` dir dann Bescheid.\"
\"Danke. Bis dann.\"
Philipp steht auf, zahlt sein Süppchen, gibt Torsten kameradschaftlich die Hand. Und geht.-

Es ist früher Freitagnachmittag. Philipp sitzt in Hamburg-Barmbeck in einem von der Kirche gesponserten Büro. Sein Gegenüber heißt Mike Schiller und ist Sozialarbeiter, der angehende Kriegsdienstverweigerer berät.
\"Guten Tag.\"
Philipp gibt Mike die Hand. Er wirkt etwas steif.
\"Mein Name ist Philipp Kroniger. Ich komme hier
\"Ich bin Mike. Guten Tag, Philipp,\" Mike lächelt gewinnend, \"setz’ dich doch. Möchtest du einen Kaffee?\"
\"Ja, gern.\"
Philipp ist doch etwas unsicher.
\"Ja, dann erzähl’ mal. Du möchtest also verweigern. Wie ist es denn dazu gekommen, dass du jetzt beim Bund bist?\"
\"Also, ich hatte Stress mit meinen Eltern. Tierischen Stress. Sie haben mir nach dem Abitur, das harte Arbeit für mich war, keine Pause gegönnt, sondern mich gezwungen, eine Ausbildung zu machen, die ich niemals wollte. Groß- und Außenhandelskaufmann wär’ ja okay gewesen, aber nicht in einem Turbo-Autohaus. So musste ich die Lehre nach sechs Wochen schmeißen. Dann ging’s mir dreckig, und mein Zorn richtete sich gegen meine Eltern.\"
Philipp macht eine Pause.
\"Ich bin fast durchgedreht. Hab’ mein Zimmer verwüstet.\"
Er macht eine Pause. Mike lässt ihm Zeit.
\"So konnte es nicht weitergehen,\" hebt Philipp wieder an, \"ich musste ‘raus. Da hab’ ich mir gedacht, gehste mal zum Bund. Und da bin ich vom Regen in die Traufe gekommen.\"
\"Drill, scheiß Vorgesetzte, blöde Kameraden. Oder?\"
\"Also, die Vorgesetzten gehen sogar. Aber Drill stimmt. Und ein Kamerad ist sogar ein Schwein.\"
\"Und jetzt willst du da weg.\"
\"Ja.\"
Philipp klingt entschlossen, mit einer Spur Nachdenklichkeit.
\"Ich halt’s da einfach nicht mehr aus. Und eh’ ich vor die Hunde gehe...\"
\"Gut, Philipp. Das Ziel ist also klar. Jetzt müssen wir gucken, wie wir es für dich erreichen. Dazu ist aber vor allem auch deine Mitarbeit gefragt.\"
\"Okay, Mike. Kein Problem.\"
\"Du musst deine Hausaufgaben machen. Ich geb’ dir hier schon mal Informationsmaterial über Fragen, die während der mündlichen Verhandlung kommen können. Du liest dir das durch und überlegst, wie du auf die Fragen antworten würdest.\"
Philipp sind das fast etwas zuviel Anweisungen von Mike, er sieht das Gespräch aber als seine letzte Chance an. Also pariert er.
\"Gut, Mike. Ich nehm’ das dann mal mit. Und bei unserem nächsten Treffen hab’ ich die Antworten drauf.\"
Philipp spürt, wie er langsam wieder selbstsicherer wird. Sie vereinbaren den nächsten Termin für folgenden Freitag und verabschieden sich freundlich voneinander.-

Die Zeit nimmt eine Zigarette. Nimmt einen tiefen Zug, lehnt sich zurück. Und betrachtet gelassen die Menschen, die sie, mal schneller, mal langsamer, durchstreifen.-

Philipp hat Wochenende. Sitzt in einer Kneipe in St. Pauli. Blinzelt durch die rauchgeschwängerte Luft. Und nimmt einen tiefen Schluck Bier aus dem Pilsglas. Geraucht hat er auch nie, bis ihm der Rocker neben ihm eine Selbstgedrehte hinhält. Da kann er nicht ’Nein‘ sagen. Zusammen qualmen sie eine, dann noch eine. Und noch eine. Das nächste Bier geht auf den Rocker, Philipps neuen Kumpel. Der Rocker hat mit Philipp einen Vertrag geschlossen. Er bezahlt ihm den Abend und der darf sich dafür Peters - so heißt der Rocker - Lebensgeschichte anhören. Es geht um Liebe, Eifersucht und Mord. Philipp richtet es die Nackenhaare auf. Aber da Philipp sich im Leben schon so manch’ haarsträubende Geschichte angehört hat, haut es ihn nicht um. Irgendwann geht der Rocker. Philipp steht allein vor dem Tresen und sinniert noch etwas vor sich hin. Zwischen eins und vier. Aus den Augenwinkeln sieht er noch eine Nette...

Philipp steht am Hamburger Hafen. Sieht das Wasser der Elbe. Und die Schiffe, weiß schimmernd, die auf dem Weg zum Meer sind. Sieht in die Ferne, stellt sich vor, wie ein Kreuzfahrtschiff auf dem Weg nach Amerika ist. Das geschäftige Treiben an Bord, die harte Arbeit der Seeleute, die livrierten Stewards, die schicken Damen der Gesellschaft, den einsamen Käpt’n. Auf einmal will er mit. Und ist riesig enttäuscht, weil sein schöner Traum für längere Zeit unerfüllt bleibt.-

Philipp hat die erste Nacht in der Jugendherberge genächtigt, er verbringt dort auch die zweite. Die von Samstag auf Sonntag. Diesmal nüchtern. Ernüchtert. Grade nochmal davongekommen.
Er sitzt am gemeinschaftlichen Frühstückstisch. Und löffelt gedankenverloren sein Müsli. Da sieht er die Nette vom vorgestrigen Kneipenabend wieder. Er geht hin und fragt sie, ob sie sich zu ihm setzen möchte. Zu seiner Überraschung sagt sie ‘Ja’. Sie setzt sich und nach kurzer Zeit sind die beiden ins Gespräch vertieft. Sie heißt Iris...

Die kommenden Wochen plätschern so vor sich hin. Philipp liegt im Schlamm. Marschiert in Reih` und Glied. Putzt die Knarre. Lässt sich anschreien. Er hat einen eleganten Reflex entwickelt, genau in dem Moment des beginnenden Schreies die Ohren auf Durchzug zu stellen. So stört es ihn nicht weiter.-

An den Wochenenden verwandelt sich die gesunde Anspannung in ein tiefes Glücksgefühl. Jedes Mal, wenn er mit dem Zug nach Hamburg `reinfährt, steigert sich die Vorfreude von Kilometer zu Kilometer. Gefühle erzeugen Gedanken, Gedanken erzeugen Worte. Vorerst allerdings, an den Freitagnachmittagen, wird noch hart gearbeitet. Philipp bereitet sich mit Mike zusammen auf die mündliche Verhandlung vor. Sie gehen immer wieder Argumente für seine beabsichtigte Kriegsdienstverweigerung durch. Philipp wird langsam besser und kann Mike im Rollenspiel - Mike der Vorsitzende, Philipp der Verweigerer - schon ganz gut Paroli bieten.
\"Warum wollen Sie verweigern?\"
\"Ich will keine Menschen töten!\"
\"Warum haben Sie nicht sofort verweigert, sondern sind erst zum Bund gegangen?\"
\"Ich hatte persönliche Probleme mit meinem privaten Umfeld. Statt der erhofften Orientierung fand ich beim Bund jedoch nur Orientierungslosigkeit.\"
\"Was würden Sie tun, wenn Sie nachts mit Ihrer Freundin durch den dunklen Wald gingen, und Sie würden von einem Typen angegriffen?\"
\"Ich würde meine Freundin und mich verteidigen.\"
\"Dann müssen Sie auch Ihr Vaterland verteidigen.\"
\"Nein, denn zivile Notwehr ist etwas anderes, als sogenannte Staatsnotwehr.\"
So oder ähnlich finden die Rollenspiele statt. Das Fieber bei beiden steigt. Der Tag der Verhandlung rückt immer näher. Philipp geht kurz aus dem Büro, um frische Luft zu schnappen. Der Himmel färbt sich langsam rot von der untergehenden Sonne. Philipp erscheint er mit einem Mal blutrot.-

Philipp ist ein geradliniger Mensch. Er geht nach dem Motto \"Hart, aber herzlich\" durch’s Leben.
Musste aber die Erfahrung machen, dass er aufgrund dieser offenen und ehrlichen Art auf dem Gymnasium, der kurzen Ausbildung und in Freundschaften Schwierigkeiten hatte. Große Schwierigkeiten. Größte Schwierigkeiten. Um sich das Leben mit seinen Mitmenschen wenigstens etwas zu erleichtern, wird er das ein oder andere Mal etwas kompromissfähiger. Überschreitet dabei allerdings bisweilen die Grenze zur Verstellung.
,Wer bin ich?‘
Es schreit in ihm, sucht verzweifelt nach Antwort. Findet keine...

Der Zug rattert durch die Gegend. Es ist sechs Uhr früh. Kalt und neblig. Und die ersten verschlafenen und lustlosen Gestalten hocken auf ihren Bänken und fahren zur Arbeit. Eine Gestalt ist gar nicht verschlafen. Und noch weniger lustlos. Glücklich lässt sich Philipp den roten Feuerball ins Gesicht scheinen. Die Nacht war kürzer als kurz, aber das interessiert ihn gar nicht. Er ist so inspiriert, am liebsten würde er ein Gedicht schreiben. Er sinniert gerade über die Bräutigamseiche. Sie ist der einzige Baum auf der Welt, an den man schreiben kann. Als er an ihren Namen denkt, fahren sie in den Eutiner Hauptbahnhof ein. Philipp sieht die ersten Bundeswehrfahrzeuge. Halbwegs ernüchtert fährt er mit dem Bus zur Rettbergkaserne, grüßt militärisch am Eingangstor. Und seine alte Welt, die er so dringend verlassen will, hat ihn wieder. Schnell ist er auf der Stube, hat sich noch schneller umgekleidet und tritt in Uniform vor den Hauptmann. Schulz begrüßt ihn freundlich:
\"Guten Morgen, Herr Kroniger. Sie machen einen ausgeglichenen Eindruck. Hatten Sie ein schönes Wochenende?\"
\"Sehr schön.\"
Philipp ist ganz überrascht ob der Freundlichkeit des Kompaniechefs.
\"Was macht die Wehrdienstverweigerung?\"
\"Den Antrag habe ich gestern abgeschickt. Jetzt warte ich auf einen Verhandlungstermin.\"
\"Gut, Herr Kroniger. Sie machen schön Ihre Grundausbildung weiter, bis Sie als Wehrdienstverweigerer anerkannt sind. Ich wünsche Ihnen eine gute Woche.\"
\"Danke, Herr Hauptmann. Ich Ihnen auch.\"
Philipp verlässt das Büro. Die Persönlichkeit des Hauptmanns beeindruckt ihn. Die Bundeswehr als Institution lehnt er dagegen ab. Gedankenschwer betritt er die Stube. Seine Kameraden haben bereits ihre Trainingsanzüge übergestreift - Kalle ist übrigens nicht mehr dabei. Der Kompaniechef hat ihn in ein anderes Ausbildungsregiment versetzt. Ab geht´s mit dem Bundeswehrbus zum Städtischen Schwimmbad. Philipp freut sich auf´s Schwimmen, hat es immer gerne praktiziert. Hat kein Gramm Fett zuviel an seinem drahtigen, durchtrainierten Körper. Er springt ins Wasser, krault die erste Bahn. Philipp findet so richtig Spaß an der Bewegung. Mit dem Gegner, den er sich durch seine Zermürbungstaktik den Vorgesetzten gegenüber aufgebaut hat, rechnet er nicht. Es ist ein kleines, mageres Bürschchen. Offiziersanwärter. Der schreit:
\"Aufhören! Was erlauben Sie sich!\"
Philipp nimmt erstaunt den Kopf hoch. Muss sich das Lachen
verkneifen, als er das Männchen sieht, das den Schrei ausgestoßen hat.
\"Der wirkt so ängstlich, dass er sich vor sich selbst in die Hose scheisst.\"
Das ist das Zitat eines Stubenkameraden von Philipp. Und der ängstliche Zwerg namens Müller plustert sich weiter auf:
\"Sofort aus dem Wasser `raus!\"
Da will einer drangsalieren, den man als Gegner gar nicht ernst nehmen kann. Philipp gehorcht amüsiert. Zieht sich am Beckenrand hoch. Und klettert ´raus.
\"Warum benutzen Sie nicht die Leiter, Flieger Kroniger?\"
\"Herr Gefreiter! Bitte entschuldigen Sie mein Fehlverhalten!\"
Einige von Philipps Kameraden müssen sich bereits das Lachen verkneifen.
\"Flieger Kroniger! Sie müssen hier gar nicht glauben, Sie wären der tolle Hecht! Schwimmen Sie gerne?\"
\"Sehr gerne!\"
\"Gut. Dann ist das Schwimmen für Sie gestrichen. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie zum Mannschaftsbus. Warten Sie dort. Und in der Kaserne dürfen Sie dann nachher den Hof fegen!\"
Philipp geht auf ihn zu. Will ihn schlagen. Kamerad Peter packt ihn an der Schulter, hält ihn zurück. Philipp hebt den Arm. Ballt die Faust. Kamerad Horst hält den Arm fest.
\"Nur weiter so, Flieger Kroniger. Ich werde bei Ihrem Hauptmann Meldung über Sie machen!\"
Philipps Gesicht ist vor Wut ganz rot angelaufen. Die Kameraden Horst und Peter geleiten ihn in die Umkleidekabine, passen auf, dass er nicht noch mal zum Bürschchen zurückgeht. Lassen ihn dann allein, als er sich abgekühlt hat. Im Mannschaftsbus wird ihm die Zeit gar nicht lang, sie ist voller schöner Phantasien mit Iris gefüllt. Und er braucht die Kraft der Phantasie, um mit der Montagmorgenrealität fertig zu werden. Als er im Bus irgendwann das Bürschchen zu Gesicht bekommt, steigt zwar die Wut wieder in ihm hoch - er beherrscht sich aber. Seine Wut ist ein Problem. Irgendwann wird sie ausbrechen. Vorerst bleibt er aber ruhig. Er sieht aus den Augenwinkeln die Silhouetten der Häuser von Eutin, das Witwenpalais, die Sankt-Michaelis-Kirche, das Weber-Geburtshaus vorbeiziehen. Weber, Tischbein, Voß. Vor seinem geistigen Auge erscheinen noch die schönen Skulpturen: Der junge Poet, die Schauende, der Dumm-Hans, die Lesende, das Mädchen im Wind. Und freut sich auf das schöne Buch, das er sich vor ein paar Tagen gekauft hat. \"Die Traumnovelle\" von Arthur Schnitzler. Philipp findet es sehr spannend und tiefgründig. Er sinniert ein wenig. Dann sind sie an der Kaserne angekommen. Beim Aussteigen ist er nochmal kurz davor, dem
Bürschchen ein Bein zu stellen - er beherrscht sich aber. Nach dem Umziehen, kurz bevor sie wieder in Uniform antreten, begegnet ihm Kalle. Philipp schlägt ihn nicht, zischt ihn nur kurz an:
\"Verpiss dich!\"
Guckt dabei so giftig, dass Kalle wortlos verschwindet.-

Dienstagmorgen erscheinen Philipp die Schreie dreimal so laut als sonst. Der Tag beginnt grau in grau, der Himmel weint und für Anfang Juli ist es ziemlich kalt. Philipp macht sich warme Gedanken, die ihn den Mist um ihn herum vergessen lassen. Er denkt an Iris schönen Körper. Und an ihre kluge Stimme, die ihm geraten hat, den Befehl zu verweigern. Und sich abführen zu lassen. Philipp geht zum Hauptmann hin.
\"Ich verweigere das Schießen!\"
Er trägt das in einem mutigen Ton vor.
\"Flieger Kroniger. Machen Sie keinen Scheiß! Gehen Sie zu Ihren Kameraden und fahren Sie mit `raus!\"
Die Stimme des Hauptmanns ist bestimmt, aber gelassen.
\"Ich verweigere den Gehorsam!\"
Es kommt etwas dünner, dennoch entschlossen.
\"Flieger Kroniger! Das war jetzt die zweite Befehlsverweigerung!
Beim nächsten Mal lass` ich Sie abführen!!!\"
Schulz’ Stimme klingt schneidend. Er hat die Lautstärke gesteigert. Philipp steigen die Tränen in die Augen. Sein Wille ist gebrochen. Wie ein geprügelter Hund verlässt er das Zimmer. Keine Ahnung, wie er zum Schießstand kommt. Das Gewehr wiegt dreimal so schwer wie sonst. Es zittert ihm in der Hand. Sein Arm ist merkwürdig kraftlos. Kein Wunder, dass er nur Fahrkarten schießt. Nebenan die Schreierei. Wie soll es nur weitergehen?-

Philipp schwitzt. Auf dem unbequemen, harten Holzstuhl. Seit zehn Minuten läuft seine Verhandlung. Die Verhandlung, die darüber entscheidet, ob er noch längere Zeit Frondienst verrichten muss. Oder etwas Soziales tun darf. Den Vorsitzenden, einen weißhaarigen, schmerbäuchigen, ehemaligen Richter, findet er von Anfang an zum Kotzen.
\"Sie wollen also Ihr Vaterland im Stich lassen.\"
Das sind seine ersten Worte nach der förmlichen, steifen Begrüßung.
\"Nein. Das will ich nicht. Ich leiste meinen Dienst für die Gesellschaft.\"
Philipps Augen funkeln ärgerlich.
\"So. Und warum haben Sie nicht sofort verweigert?\"
\"Aufgrund meiner persönlichen Lebensumstände musste ich von zuhause weg.\"
\"So, so. Ich habe allerdings gelesen, dass Sie eine Ausbildung abgebrochen haben. Sind Sie so ein Schwächling?\"
Philipp will aufspringen und dem alten Knacker an den Kragen gehen.
\"Hören Sie. Sie haben wohl in Ihrem langen Leben nicht viel erlebt. Sie mussten nie etwas durchstehen. Sonst würden Sie nicht so reden.\"
Philipp hat es grade noch geschafft, die Kurve zu kriegen. Zwar deutlich, aber nicht beleidigend zu werden. \"Haben Sie jetzt Ihr Abitur geschafft oder nicht?\"
\"Wie Sie meinem Lebenslauf entnehmen können, habe ich es geschafft.\"
Mike sieht, wie sich Philipps Gesicht von Neuem zu röten beginnt. Sofort beantragt er beim Vorsitzenden eine Verhandlungspause, die ihm auch gewährt wird. Sie verlassen das Büro. Auf dem Gang nimmt er Philipp beiseite:
\"Philipp! Ab jetzt führe ich die Verhandlung für dich. Du redest nur noch in Absprache mit mir,\" beschwört er ihn eindringlich.
\"Aber Mike -\"
\"Nix ’Aber Mike‘. Bevor du dem Alten an den Kragen gehst, muss ich eingreifen.\"
Sie gehen noch kurz ein paar Fangfragen durch. Dann wieder `rein ins Büro.
\"Herr Kroniger. Wie würden Sie handeln, wenn Sie mit ihrer Freundin abends allein durch den Wald gingen. Und von einer Person angegriffen würden?\"
Mike nickt ihm zu. Die Antwort hatten sie vorbereitet.
\"Ich würde uns beide verteidigen. Es gibt einen Unterschied zwischen ziviler Notwehr und sogenannter Staatsnotwehr. Wenn ich zivile Notwehr übe, heißt das noch lange nicht, dass ich im Kriegsfalle die Waffe in die Hand nehmen muss.\"
Der Alte schweigt. Dann schickt er Philipp und Mike `raus, um sich mit den beiden Beisitzern zu beraten. Der lange Gang des ehemaligen Gerichtsgebäudes riecht nach Schweiß. Philipp und Mike schwitzen aus jeder Pore. Sie sind sehr aufgeregt. Nach langen Minuten quälenden Wartens werden sie schließlich `reingerufen.
\"Sie sind als Wehrdienstverweigerer anerkannt. Sie bleiben noch Angehöriger der Bundeswehr, bis Ihr Wehrdienstverhältnis in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt worden ist.\"
Der Vorsitzende sagt das in sehr unsympathischem Tonfall. Aber das interessiert Philipp nicht. Er bricht in lauten Jubel aus. Schnappt seinen Freund und stürmt aus dem Raum, das Kopfnicken der Beisitzer nicht registrierend. Auf der Straße brüllt er weiter. Er kann es nicht fassen. Die Anspannung muss `raus, Erleichterung greift Raum. Es ist Freitagnachmittag und Philipp feiert mit Mike. Er haut das Geld `raus. Erst wird Mike zum Essen in ein feines Fischrestaurant eingeladen. Dann geht`s zum Freitagabendspiel nach St. Pauli. Last not least zu Peter in die Hafenstraße. Wo Philipp und Peter sich besaufen, als gäbe es kein Morgen. Alles auf Philipps Kosten, versteht sich. Der innerhalb weniger Stunden seinen letzten Sold verjuxt. Aber das ist ihm im Moment egal.
Um Mitternacht ziehen zwei versoffene Gestalten die Hafenstraße entlang. Unter Absingen schmutziger Lieder. Danach geht`s noch in eine WG von Peters Leuten. Es wird weiterhin um die Wette gekifft und gesoffen. Nach dem unvermeidlichen Filmriss wacht Philipp am nächsten Morgen in Peters Armen auf. In voller Montur. Sein armer Schädel zerplatzt fast. Wankend sucht er den Weg zum Wasserhahn. Er hält den Kopf unter den kalten Strahl, um wach zu werden und seinen Nachdurst zu stillen. Dann verlässt er sofort die WG. Um geschwächt und unter tödlichen Kopfschmerzen zu Peters Wohnung zurückzukehren.-

Hauptmann Schulz fragt sofort am Montagmorgen nach:
\"Wie war´s, Herr Kroniger?\"
\"Ich hab`s geschafft!\"
Philipp kann vor Begeisterung kaum an sich halten.
\"Na, dann herzlichen Glückwunsch, Herr Kroniger. Ich habe Respekt vor mutigen Leuten wie Ihnen. Das würde nicht jeder durchziehen.\"
\"Danke, Herr Hauptmann.\"
Philipp ist es fast peinlich.
\"Sie bleiben noch ein paar Wochen bei uns. Dann ist Ihr Wehrdienstverhältnis in ein Zivildienstverhältnis umgewandelt. Ab Mittwoch bekommen Sie von mir Heimaturlaub. Dann können Sie sich in Ruhe eine Zivildienststelle suchen.\"
Schulz wünscht ihm noch einen guten Tag. Philipp ebenso, wie immer von der Persönlichkeit des Hauptmanns beeindruckt. Als angehender Zivi geht er zu den Sanitätern, um ihnen ein wenig über die Schulter zu schauen. Die freuen sich über einen Interessierten. Und zeigen ihm erste Hilfe. Und wie man einen Verband anlegt. Philipp ist ganz bei der Sache. Kalle ist schon ganz weit weg. Und er vergisst beinah’, dass er sich ja immer noch in der Kaserne befindet. Immerhin, die Grundausbildung hat er nicht nur überstanden. Sondern auch bestanden. Seine Kameraden aus den ersten drei Monaten sind praktisch alle weg, an andere Kasernen versetzt. Mit denen, die übriggeblieben sind, hat er nicht viel zu tun. Man grüßt sich und geht ansonsten seiner Wege. Immerhin, der Gefreite Torsten ist immer noch Gefreiter. Sie sprechen schon mal etwas länger und trinken nach Dienstschluss im Mannschaftsheim das ein oder andere Bier. Torsten will nach der Bundeswehrzeit Medizin studieren. Er hat sich schon mit einigen theoretischen Inhalten des Studiums befasst. Philipp lauscht begierig seinen Ausführungen. Vage Vorstellungen verdichten sich. Und mit einem Mal sieht er am beruflichen Horizont eine neue Perspektive auftauchen. Die Tage sind insgesamt harmonischer und ruhiger geworden. Das heißt, einmal hat er noch beinahe seine zweite Schlägerei. Irgendein Kraftprotz nennt ihn einen \"Scheiß-Zivi\" und ein \"Weichei\". Philipp will ihm auf`s Maul hauen. Aber zum Glück ist grade Torsten zugegen und geht dazwischen. \"Aufhören!\"
Er drängt die beiden auseinander.
\"Sonst geh` ich mit euch beiden zum Hauptmann!\"
Die Kontrahenten geben sich einsichtig.-

Die Tage gehen dahin, zwischen Schreibstube, essen, Schreibstube, lesen und schlafen. Irgendwann ist der Tag X da. Der Tag des Abschieds. Philipp hat sich ganz fest vorgenommen, mit zwei lachenden Augen zu gehen. Zuerst verabschiedet er sich von Torsten, dann vom Spieß. Nickt dem ein oder anderen freundlich zu. Schließlich klopft er ein letztes Mal beim Hauptmann. Ertappt sich dabei, wie er militärisch grüßen will. Nimmt die Hand schnell wieder `runter. Schulz lächelt jovial.
\"Herr Kroniger. Das ist jetzt nicht mehr nötig. Schließlich sind Sie ab morgen Zivildienstleistender.\"
\"Ja, Herr Haupt-, wollte sagen Herr Schulz.\"
\"Ist schon gut, Herr Kroniger. War ja nicht immer einfach mit Ihnen. Aber wie ich Ihnen schon mal sagte: Sie sind ein intelligenter junger Mann. Machen Sie was draus.\"
Philipp schweigt. Trotz seiner Sympathie für ihn will er sich vom Hauptmann nicht beeinflussen lassen.
\"Denken Sie mal darüber nach.\"
Philipp nickt nur. Seine Nachdenklichkeit paart sich mit Verlegenheit.
\"Werd’ ich machen, Herr Hauptmann.\"
\"Schulz.\"
Philipp lächelt. Es menschelt.-

- ENDE -
 



 
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