Orientierungshilfe

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Elenore May

Mitglied
ORIENTIERUNGSHILFE

Schön sieht es schon aus, wenn die Kraniche im Spätherbst in den Süden ziehen und das Land von Nordost nach Südwest überqueren.
In fast schon perfekter Pfeilformation kommen sie daher, durchqueren die Wolken, um kurz darauf schwebend mit nur wenigen Flügelschlägen auch das Blau zu durchkreuzen. Sie erreichen das nächste Grau, sind nicht mehr zu sehen, nur zu hören sind sie noch: Ihre Zusammenhalt- oder vielleicht auch Durchhalteparolen tragen weit über das Land - diese wenig melodiösen, Trompeten ähnlich, klingende Töne - in denen eine eigentümliche Faszination liegt.

Wie selbstvergessen steht ein Mensch mit Hund auf einer Wiese. Sein Kopf liegt im Nacken und er starrt, angestrengt lauschend, den Mund leicht geöffnet, in den Himmel. Schon werden die Rufe lauter und der Mensch weiß: nur noch Sekunden wird es dauern, bis sich der Zug zeigen wird, der momentan noch hinter den Baumwipfeln ist. Prompt schleicht sich bei ihm ein wehmütiges Gefühl ein - er würde sie gerne auf ihrer Tour begleiten, würde gerne mit ihnen in wärmere Gefilde ziehen; denn ihr Zug sagt ihm: der Sommer hat sich endgültig verabschiedet, jetzt drohen wieder Kälte, Dunkelheit und triste Tage.

Der Hund sieht ebenfalls nach oben (was soll er auch anderes tun, so an der Leine neben seinem Herrn und Meister) und da sind sie: Es ist eine kleine Gruppe von etwa 20 Tieren, die in einer etwas aus dem Ruder gelaufenen Formation auftauchen, exakt über dem Menschen mit Hund in der Luft verharren, plötzlich wirr zu kreisen beginnen und dazu aufgeregter als üblich tröten und schnattern. Einige Ausreißer starten in verschiedene Richtungen durch, kommen zurück und versammeln sich erneut mit dem Rest. Sie bilden ein aufgeregt flatterndes Knäuel, es löst sich kurz auf, um sich sofort wieder zusammenzuknüllen. Sie bleiben am gleichen Punkt, wirken komplett desorientiert; irgendetwas hat diese wundervollen Tiere in unerklärliche Bedrängnis gebracht, ließ ihren Orientierungssinn zusammenbrechen.

Die beiden unten sehen fasziniert zu; trotzdem hat der Mensch keine Erklärung für den Vorgang (dem Hund fehlt diese Option sowieso). Der Mensch sucht den Himmel ab „was kann da passiert sein? Wieso sind die da oben so aufgeregt und wissen anscheinend nicht mehr wohin?“ Doch da ist nichts Außergewöhnliches „ein paar Wolken, ja, aber das kann es wohl nicht sein, das sind die Tiere doch gewöhnt ...“
Der Mensch will helfen – aber wie? Er schaut dem Treiben weiter zu und wird ebenfalls nervös.

Einige Meter hinter ihm ist ein steil ansteigender Hang, der von einem Wald aus mächtigen Buchen und Eichen bewachsen ist. Zuerst noch von allen Beteiligten unbemerkt, erhebt sich aus dem dichten Geäst ein Bussard; lautlos, wie in Watte gepackt, mit ruhigen, weit ausholenden Flügelschlägen steigt er auf und nähert sich den Kranichen, die da nicht all zu hoch und immer noch aufgeregt trötend in der Luft ‚hängen'.

Dem Menschen wird bei dem plötzlichen Anblick des Bussards angst und bange – er will eigentlich nicht hinsehen, nicht zusehen, was da gleich passieren könnte: der Bussard ist ein Beutegreifer, Mäuse und Vögel sind seine Opfer, aber gehören auch Kraniche in sein Beuteschema? Die doch um einiges größer sind als er? Vielleicht ja, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet?

Das Herz des Beobachters schlägt Purzelbäume, sein Puls verstärkt sich, während dieser kräftige Vogel sich unaufhaltsam den Kranichen nähert. „Gleich wird er zuschlagen; wird sich einen von ihnen aussuchen, vielleicht einen schwachen, oder einen der jungen Vögel -“, pocht es im Menschen.

Der Mensch schreit und wedelt aufgeregt mit den Armen. Er will die Kraniche auf die drohende Gefahr aufmerksam machen, will sie verscheuchen, irgendwie versuchen sie vorwärts zu treiben. Doch sie bleiben auf der Stelle, kreisen immer noch aufgeregt und scheinen den Bussard nicht zu bemerken. „Jetzt hat er sie erreicht! Oh Gott! Gleich wird er zuschlagen!“ Dem Menschen stockt der Atem, sein Herz rast – aber wegschauen kann er nicht mehr, wie paralysiert steht er da und wartet ab.
Doch der Bussard fliegt durch den Schwarm hindurch, dreht um und kommt wieder auf die Kraniche zugeflogen „vielleicht, um eine bessere Angriffsposition zu haben? Verflucht! Lass das doch gefälligst sein, die haben doch schon genug Probleme!“, schreit es im Menschen.

Der Bussard verharrt flügelschlagend vor dem Durcheinander, er 'steht' in der Luft. Er bleibt auf gleicher Höhe, dreht plötzlich ab gen Westen, verharrt und hat dabei Probleme die Balance zu halten; er kippt, fängt sich aber sofort wieder – und, wie einer Eingebung folgend, formiert sich der kleine Schwarm Kraniche hinter ihm und bildet seine ihm so typische Pfeilformation – mit dem Bussard an der Spitze!

Mit vor Staunen offenem Mund und hängenden Armen steht der Mensch und betrachtet was da soeben passiert – der Bussard zeigt den Kranichen den Weg! Er bleibt an der Spitze, bis der Schwarm für den Menschen fast nicht mehr zu sehen ist, sie nur noch Flügel schlagenden Punkten gleichen, und ihre Rufe nur mehr als schwache Erinnerung im Ohr zu verklingen beginnen.

Bei dem Menschen stellt sich Genickstarre ein; doch er kann den Blick nicht abwenden. Er kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können - alles noch wie gehabt, der Bussard ist immer noch vorne dran – bis er in einer weit ausholenden Kurve abdreht und langsam zurückkommt.

Mit fest zusammengekniffenen Augen, den Atem anhaltend, die Hände als Abschirmung nutzend, sieht der Mensch, wie die Spitze des Schwarms wieder von einem der Kraniche übernommen wird und sie endgültig von dieser unendlich wirkenden Ferne wie verschluckt verschwinden.

Der Bussard kommt zurück und taucht lautlos im Wald unter.
„Unfassbar!“, denkt sich der Mensch. „Was habe ich da gerade gesehen? Wie kann das sein?“

Er zermartert sein Gehirn und eine mögliche Erklärung für den Vorgang fällt ihm ein: Ganz in der Nähe befindet sich ein Flughafen – kann es sein, dass die Kraniche eine Fehlinformation bezüglich ihres Ortungssinns erhielten? Irgendwelche falschen Signale wegen des Flugverkehrs? Gut denkbar, aber die Sache mit dem Bussard?

Dafür fehlt es ihm, auch wenn er seine Gehirnwindungen noch so sehr anstrengt, an einer Erklärung. Endlich gibt er auf und denkt an den Ausspruch unseres Dichterfürsten „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“

Doch der Vorgang lässt ihm keine Ruhe und er überlegt weiter „vielleicht, vielleicht aber auch - wurde dem Bussard das unruhige Gewusel dieser lärmenden Gesellschaft zu viel. Dazu kommt auch noch, dass ich mit meinem Hund, unruhig auf der Stelle tretend, in der Wiese stehe. Seine Beute, die mit emsigen Trippelschritten, aufmerksamen Knopfaugen und sehr wachsamen Ohren durch das Gras flitzt und auf die er, möglicherweise schon seit vielen Minuten, ansitzt, wird in ihre Höhle verscheucht und er hat das Nachsehen, wenn nicht sofort wieder Ruhe einkehrt und auch ich von hier verschwinde. Darum löste er das Problem auf seine Weise - aber das würde eher dem Denken nach menschlichem Gebrauchsmuster entsprechen ...“, sinniert er und sagt dann entschlossen mit Blick auf den Hund „gut, abgehakt. Ich werde das leider nicht erfahren; da kann ich noch so sehr versuchen, es auf die Reihe zu kriegen … komm Bub, wir gehen!“, und marschiert mit seinem Hund, der es sich auf der Wiese bequem gemacht hat und jetzt freudig hochspringt 'endlich passiert wieder was', weiter.
 



 
Oben Unten