Ost-West-Geschichten

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HeidiS

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Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Wände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergräten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollten das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

„Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden“ , fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommene Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz. Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut- gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im zum umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Wände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollten das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

„Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden“ , fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommene Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz. Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut- gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im zum umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Wände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollten das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommene Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut- gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im zum umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Wände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollten das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im zum umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Wände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollten das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Wände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig neu verteilt wurden die neuen Grundstücke, es entstand eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron in seinem Wald, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffende Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Übersetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells in weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie ernährten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln ein, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu können. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Morgen, Frau Schulze’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn, Frau Schulze?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Schulze bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Schulze ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Mein Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Guten Morgen’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Mann bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Mann ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört das halbe Dorf heute einer Familie, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Der Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Guten Morgen’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Mann bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Mann ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört ein Großteil des Dorfes heute denen, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Der Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Vom Hof hat er ihn gejagt, der neue Eigentümer, er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, der groß genug für zwei Familien war, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Guten Morgen’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Mann bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Mann ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern nun endgültig aufgab.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Ha-ben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört ein Großteil des Dorfes heute denen, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Der Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, so der neue Eigentümer. Ein Hof, der groß genug für zwei Familien ist, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Guten Morgen’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Mann bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Mann ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern aufzugeben.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Haben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört ein Großteil des Dorfes heute denen, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Der Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, so der neue Eigentümer. Ein Hof, der groß genug für zwei Familien ist, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite dieses Eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die andere Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Guten Morgen’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Mann bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Mann ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern aufzugeben.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Haben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört ein Großteil des Dorfes heute denen, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Der Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, so der neue Eigentümer. Ein Hof, der groß genug für zwei Familien ist, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 

HeidiS

Mitglied
Die schokoladengraue Republik

„Der tägliche Verkehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur momentan unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorab, die Braut zur Kirche fährt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhangenes Boot stromabwärts gleitet. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spreewaldsdorf, erreicht. Es ist die Lagunenstadt in Taschenformat, ein Venedig, wie es vor 1500 Jahren gewesen sein mag, als die ersten Fischerfamilien auf seinen Sumpfeilanden Schutz suchten.“
(Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. IV: Spreeland)

Es gab einmal ein Land, da war das Vanilleeis hellgrau und das Schokoladeneis dunkelgrau. Man sagte uns Kindern, dass man von großen Portionen Bauchschmerzen bekommen würde – wir haben es nie herausgefunden. Wir gaben uns mit den kleinen Portionen, die nur einen Groschen oder auch zwei kosteten, zufrieden.

Irgendjemand muss das aufschreiben, was von dieser Dorfstraße am Rand der Fließ- und Sumpflandschaft aus seinen Anfang nahm, dort, wo der Eismann einmal in der Woche des Sommers hielt – war es wieder einmal brütend heiß, kam er auch ohne Vorankündigung zweimal – klingelte und die Menschen herbei eilten, einige barfuß, manche in Holzpantinen. Manche warteten auf ihn, denn er hatte seine festen Halteplätze, von denen aus niemand einen allzu weiten Weg hatte. Fasziniert waren wir von den Kübeln, deren Innenwände dick und spiegelglänzend waren, immer wieder beschlagen, und die so schnell geöffnet und wieder geschlossen wurden, dass wir kaum erkennen konnten, ob der Eisverkäufer seinen hölzernen Spatel gerade in Vanille- oder ins Schokoladeneis tauchte. Sein Klingeln unterschied sich nicht wesentlich von dem des Lumpen- oder dem des Schrottsammlers, aber ein Blick auf die Straße genügte, das kleine schwarze Automobil ausfindig zu machen, denn Lumpen- und Alteisensammler kamen mit dem eigenen Pferdefuhrwerk.

Eher ein Weg war diese Straße, den die Befestigung mit Kopfsteinpflaster erst zur Dorfstraße erhob, auf denen die eisenbeschlagenen Räder der Leiterwagen in beide Richtungen klapperten, gezogen von Ochsen- oder Pferdegespann. Über diese Hauptader war jeder Hof zu erreichen, beiseitig standen die Gehöfte, aneinander gereiht wie an einer Schnur, aufgebaut nach der großen Feuerbrunst, die in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts dieses Dorf fast gänzlich zerstörte. Unendlich schnell fraßen sich die Flammen seinerzeit von Strohdach zu Strohdach, von Holzscheune zu Holzscheune, von Stallung zu Stallung, während die meisten Menschen auf ihren Äckern ihrem Tagewerk nachgingen. Sie sahen die Rauchwolken, sie hörten das Schreien der zu ihnen Radelnden, sie hörten die Kirchenglocken zu einer Zeit, in der kein Läuten angesagt war. Gleichmäßig verteilt wurden die Grundstücke, es entstand so eine neue Gemeinde, in der niemand den Nachbarn etwas streitig machte, in der jeder seinen Platz wiederfand.

Irgendjemand muss das aufschreiben, weil sonst niemand von dem Schloss erfahren wird, welches am Rand des Dorfes als Kleinod eine Zeit repräsentierte, die man für eine vergangene hielt, und meinte, sie mit einer Sprengung ein für allemal auslöschen zu müssen. Weil auferstanden aus Ruinen die neue Zeit anbrechen würde? Dass ein Kind bei diesen Säuberungsarbeiten zu Tode kam – schon damals gab es Kollaterialschäden – Schwamm drüber, mochten sich die Verantwortlichen gedacht haben. Nahm doch der oberste SED-Genosse den Unfall mit tödlichem Ausgang auf seine Kappe – ihn schützte seine Immunität vor Strafverfolgung. Was ist schon ein Einzelner gegenüber dem großen Ganzen? Wollte man doch danach sich ganz der Zunkunft zuwenden, indem man die Vergangenheit dem Erdboden gleichmachte.

Wer weiß noch, dass die obersten Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sich an den Tagen nach dem Volksaufstand am 17. Juni vor dem gewaltigen Zorn der Bauern im Roggenfeld verstecken mussten? Verkriechen mussten sie sich vor Menschen, die überhaupt nicht die Absicht hatten, mit ihnen zu debattieren – die anderen, die von der anderen Seite, hatten dies aber auch nicht vor, sie setzten schon seit jeher auf Einschüchterungen oder gar auf Inhaftierungen, um ein für alle Mal aufzuräumen – oder um wenigstens für eine Weile Ruhe zu haben, und so hofften, dass die nächste Generation, die in den Familien, vor allem aber in den Kindergärten, an den Schulen und Universitäten herangezogen würde, stromlinienförmiger und biegsamer sein würde, weniger anstrengend, pflegeleichter, regierungskonformer, leichter zu nehmen.

Gleichzeitig trauten die Menschen in diesem Teil der Republik bald niemandem mehr, der nicht ihre Sprache sprach – wendisch die Alten, ein Kauderwelsch aus deutsch und wendisch die Jüngeren. Dieser alltägliche Krieg begann inmitten der Dörfer, die flächendeckend mit den Kolchosen des Stalinismus überzogen werden sollten. Dabei waren es die Bolschewisten im fernen Moskau, die vor einer Eins-zu-eins-Umsetzung ihres Modells im weiter industrialisierten Ostdeutschland warnten – aber da waren wohl einige zu eifrig, wollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen schaffen und den neuen Menschen gleich dazu. Die Machthaber konservierten folglich dieses Land auf ihre Art und Weise, indem sie eine Welt als Gegenpol zu der des Westens gestalten wollten. Jenseits des Eisernen Vorhangs, welcher kein feindliches Gedankengut hereinlassen sollte.

\"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.\" Lange Zeit zuvor wollte das junge Paar sich mit der Zukunft in dieser Republik arrangieren – aber welche Zukunft würde es hier für sie noch geben, hier, wo weder die Sonne schien noch von Freiheit etwas zu spüren war? Eine Zukunft stellte es sich vor, aber sie wird dort drüben liegen, auf der anderen Seite dieses Eisernen Vorhangs.

Es entstand so der Kalte Krieg – zuerst im Berlin zu Beginn der sechziger Jahre, im Notaufnahmelager in Marienfelde, nahe des Flughafens Tempelhof. Schutz bot das Lager denen, die alles verlassen hatten, um mit nichts ein neues Leben zu beginnen. Sie kamen zu Tausenden, die wenigsten von ihnen mit noch so kleinem Gepäck, die meisten mit fast leeren Händen. Aufgefangen wurden die Menschen dort – und weitergereicht, von den Helfern des Roten Kreuzes an die Bundesrepublik Deutschland, an den Westen. Niemand dort ahnte in diesen Wochen des Sommers 1961, als das Lager überfüllt war von Durchreisenden für wenige Nächte, was die Machthaber der DDR umsetzen wollten, mitten in der Stadt, quer durch die Stadt.

Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge standen Morgen für Morgen in einer endlos langen Schlange, um Decken und Laken abzugeben, die sie am Abend zuvor nach dem Schlagenstehen erhalten hatten, um es am Abend erneut abzuholen. Sie standen in der Schlange, für jede Mahlzeit, für Geschirr, um die Blechteller nach jeder Mahlzeit wieder abzugeben. Trocken und windgeschützt waren die Kellerräume, dicht bestückt mit Metallbetten, kratzige Wolldecken wurden verteilt. Die Kinder passten auf ihr Spielzeug auf, die Erwachsenen beschützten die Kinder. Sie selbst begaben sich in die Obhut der uniformierten Hilfstruppen, die nach wenigen Tagen schon – es war schließlich ein Durchgangslager – diese Menschen ausflogen in die neue Freiheit, die die neue Heimat werden sollte. Papiere wurden ausgestellt, für die sich meist das Familienoberhaupt in einer Reihe mit den anderen Flüchtlingen anstellte. Eine Propellermaschine nach der anderen – vergleichbar mit den Rosinenbombern zu einer anderen Zeit, jedoch in die entgegengesetzte Richtung – verließ den Flughafen Tempelhof in Richtung Goldener Westen, gleichzeitig strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager, das seine Pforten für alle offen hielt, die dort ausharren wollten für die Zeit, die man benötigte, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Irgendwie würde es schon weitergehen, in der Schlange, mit dem Bus, mit dem Flugzeug, mit dem Leben.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis es vorbei sein würde mit dem Hin- und Herreisen von Ost nach West, vorbei mit den eher flüchtigen und willkürlich durchgeführten Ausweis- und Taschenkontrollen. Vorbei sollte es sein mit den ebenso willkürlich konfiszierten Gänsen, Hühnern, Fahrradschläuchen, Stoffen, mit allem eben, was während der fünfziger Jahre in die eine, wie auch in die andere Richtung transportiert wurde – Frischgeflügel für den Westen, Alltagsgegenstände für den Osten. Verborgen unter dem Mantel, in der Tasche, dem Rucksack. Der Überfluss auf der einen Seite der Sektorengrenze, der ständige Mangel an Dingen des täglichen Lebens auf der anderen Seite ließ diese Warenströme entstehen und letztendlich unverzichtbar werden. Es ging nicht darum, auf keine Westschokolade mehr verzichten zu wollen, sie waren kleine Mitbringsel, mehr nicht. Wichtiger war es, für das Fahrrad, ohne das niemand von Dorf zu Dorf gelangen konnte, aufs Feld, auf den Friedhof, zu Verwandten Ersatzteile zu bekommen, und sei es nur ein neuer Schlauch samt Flickzeug.

Und doch war die Schokolade, wie sie nur der Westen kannte – Cadbury – das Symbol für den privaten Handel im Kleinen. Niemand vergisst, der jemals eine Tafel Schokolade aus dem Osten öffnete, den dünnen gräulichen Film, den er versuchte mit den Fingern abzuwischen, um dann ein abgebrochenes Stück in den Mund zu stecken, den Fettfilm, den die bei der Herstellung verwendete Margarine am Gaumen hinterließ – das Geschmackserlebnis eines Stückes Cadbury-Schokolade. Obwohl sie viel, viel süßer war als das östliche Gegenstück, ließ sie trotzdem einen intensiven Kakaogeschmack durch, den man nicht mehr missen wollte. Diese Schokolade schmolz im Mund, sie entfachte eine regelrechte Geschmacksexplosion. Auf jeder Wunschliste an den Westen – was Lebens- und Genussmittel betraf – tauchte sie deshalb an erster Stelle auf, noch vor dem bald unverzichtbar gewordenen Kaffee oder auch Saatgut. Und vielleicht wären noch viel, viel mehr Menschen zu dieser Zeit in den Westen geflüchtet, wären die als „Geschenksendung, keine Handelsware“ gekennzeichneten Pakete nicht so reichlich über die Grenze gelangt. Das eine oder andere Paket erreichte sein Ziel nicht – irgendjemand hielt den Inhalt für imperialistisches Schmuggelgut, zersetzend für die Empfänger im Osten – und behielt die Ware lieber für sich.

Es verließen junge Menschen ihre Eltern, ihre Nachbarn, ihre Heimat – nicht wegen einer Tafel Schokolade, wohl aber für das, das sie allen versprach.

„Ich bin überall zuhause, wo es Vögel und Menschen gibt“ , schrieb Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis – philosophisch konnte sie sein, die blutige Rosa.

Gerade als wollten sie Stalins Lebenswerk ohne Umwege und möglichst buchstabengetreu auf ostdeutschen Boden umsetzen, mischten sich zuhauf Funktionäre unter ein Volk, welches sie sich vorgenommen hatten zu beherrschen, um eben diesem Volk aufs Maul zu schauen, es durch Spähtrupps zu beobachten. Zuhören wollte niemand von ihnen diesem Volk – Aushorchen, so lautete ihre Aufgabe. Es sollte demokratisch zugehen, so Walter Ulbricht, „aber wir müssen die Kontrolle über alles behalten.“

Überall dort, wo die Bauersleute sich ungezwungen zusammensetzten und überall dort, wo sie sich noch trauten, frisch von der Leber weg zu reden, weil das eine oder andere Glas Bier zuviel, der Korn, der in der Scheune selbst gebrannte Likör die Zunge lockerte – und man unter sich war –, überall dort waren sie geschickt platziert, die grauen unscheinbaren Menschen, meist Männer. Die, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit auffielen, weil kein Bauer sich so oft in die Kneipe setzte, weil kein Bauer sich so kleidete, weil kein Bauer so lange bei einem Glas Bier sitzen blieb. Männer, die lauschten und kein Wort vergaßen von dem, was sie zu hören bekamen. Belangloses wurde später herausgefiltert, denn erst einmal war alles, was aus den Mündern von Bauern kam, verdächtig. „Die Kuh wird später kalben“ – das konnte dies, konnte aber auch jenes bedeuten. Sollte der Vorgesetzte entscheiden, was festzuhalten war und was als unwichtig in den Papierkorb wandern möge.

Fürs erste musste man aber mit diesen Dickschädeln von Bauernvolk fertig werden, irgendwie. Nicht jeder Sturkopf ist ein Konterrevolutionär, und nicht jeder Konterrevolutionär durfte ins Gefängnis gesteckt werden – es gestaltete sich als wirkungsvoller, einzelne herauszugreifen, sorgsam ausgewählt, um Angst und Einschüchterung zu verbreiten – wer würde der nächste sein? Sie hatten es wahrlich nicht einfach, aber sie gaben nicht auf – von oben verordnete Solidarität, das war ja schließlich etwas Neues, an das die zu Beherrschenden erst einmal Schritt für Schritt herangeführt werden mussten. Sie würden es mit der Zeit lernen, nachdem man ihn erst einmal geschaffen hat, ihn, den neuen Menschen. Wenn das Paradies erst einmal da wäre, würden die Menschen in Scharen ihnen, den Parteimenschen, folgen und ihnen zujubeln, anstatt fortzulaufen gen Westen – allein dafür musste die Mauer gebaut werden, denn es gab schon immer Menschen, die zu ihrem Glück gezwungen werden mussten.

Die Zeit des gesellschaftlichen Umbaus bedeutete für die Bewohner der SBZ erst einmal, ihre Heimat nach dem Krieg wieder aufzubauen – da erging es ihnen nicht anders als ihren Mitbürgern im Westen. Zusammenhalt, Solidarität – aber Zwangskollektivierung und der Aufbau von Kolchosen, das waren doch ganz unterschiedliche Erwartungen. „Dürfen wir es uns aussuchen?“ Von oben, vom Zentralkommitee gab es Anweisungen, an die sich ein jeder zu halten hatte, da wurde niemand vor eine Wahl gestellt. Sozialismus light, erst einmal – dann würde man weiter sehen. Bald würden die Menschen verstehen, was getan werden musste, wollte man nicht stehen bleiben.

Vermehrt tauchten die Parteioberen auf den Höfen auf, um eine freiwillige Unterschrift unter das Beitrittsformular zur LPG zu bekommen – das Gewehr dabei lässig über die Schulter gehängt, um die strikte Freiwilligkeit dieser Aktion zu betonen. Erst einmal hörten sie sich an, was die Uniformierten zu sagen hatten – viel war es nicht, eher wortkarg gaben sie sich, die Soldaten des Volkes gegenüber dem Volk. Umsomehr Worte verloren die Bedrängten, suchten den Nachbarn zur linken und den Nachbarn zur Rechten auf, bei Gesprächen über die neue Politik, die sich ihnen nun immer deutlicher zeigte, die sich ihnen regelrecht in den Weg stellte, der man nicht ausweichen konnte.

Längst Vergangenes und schon der Geschichte Zugehöriges – und gleichzeitig ganz bestimmte Erinnerungen kamen auf in diesen Tagen der Kollektivierung nach stalinistischem Vorbild („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Die meisten der Bauern wurden durch die neuen angekündigten Abgaben an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit des Feudalismus, katapultiert, als sie – wie schon ihre Väter und Vorväter – Teile der Ernte an den Baron, Herrscher über des Dorfes Grund und Boden, gleichzeitig dessen Eigentümer sowie auch Besitzer der größten und fruchtbarsten Ackerflächen, Wiesen und Wäldern, abgeben mussten, den Zehnten einer jeden Ernte. Dann kamen die Kommunisten und verlangten als neue Herren einen festgelegten Soll an Getreide, Milch und Eiern. Es musste auch die Stadtbevölkerung ernährt werden; sie verlangte nach Lebensmitteln, verlangte nach Obst und Gemüse, nach Fleisch, Milch und Eiern – aber hatte man seine Erzeugnisse nicht schon immer auf den Märkten in den Städten verkauft?

Niemals fragte sich die Bäuerin, wozu das alles gut sein sollte. Die Urgroßmutter spannte eine Ziege samt Geschirr vor den kleinen Holzkarren und lief die zehn Kilometer in die Kreisstadt neben diesem Wägelchen her; der gleiche Weg führte sie des abends wieder ins Dorf zurück. Ihren Mann verlor sie im Krieg, sie zog die beiden Jungs allein groß und konnte nicht darauf verzichten, sie früh bei der Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern bei Aussaat und Ernte einzusetzen. Dass dann beide in den Krieg ziehen mussten, um für Volk und Vaterland und für den Kaiser zu kämpfen, obwohl beide gebraucht wurden für das Überleben, wen interessierte das schon, ein Bauernopfer? Nur einer der beiden kam aus der Sedan-Schlacht zurück, verwundet zwar, gezeichnet für immer, aber er kam nach Hause. Kriegstraumatisiert, wie so viele andere auch. Keine psychotherapeutische Behandlung ließ sie wieder an den Alltag heranführen, es musste von ganz allein gehen, der Kampf gegen die Natur, aber auch die Arbeit mit ihr.

Die nächste Generation ersetzte Ziege und Karren durch Pferd und einen größeren Leiterwagen, der nun eine ganz andere Fuhre laden konnte; die Wege aber blieben die gleichen, es war immer noch die zwischen den Kiefernwäldern als Schneise verlaufende Chaussee, die bald mit einer Asphaltschicht versehen war und die Räder des Holzwagens so leicht über die Straße gleiten ließen, dass ein Nickerchen auf dem Bock möglich wurde – das Pferd fand den Weg zum Markt und auch zurück auf den Hof allein. Eine Regenperiode, welche den sandigen Boden in schier unüberwindbare, eine undurchquerbare, unpassierbare Wege verwandelte, wurde nicht gleich zur Katastrophe, weil schmale Furchen neben den Straßen auch wieder einen Teil des Wassers abfließen ließ.

Gräben errichten konnten die Menschen dort schon immer. Gräben zogen sie zwischen den Feldern und zwischen den Wiesen, von und zur Spree. Überflutungen waren an der Tagesordnung, aber man wies die Natur schon früh in ihre Schranken. Sehr ausgeklügelt schien dieses System, dabei war es nichts weiter als die notwendige Folge von Beobachtungen über Generationen. Niemand wollte sich der Natur ergeben – sie zu überlisten, schien den Bewohnern dieser Gegend der bessere Weg. Und damit lebte man sehr gut – bis eines Tages eine LPG vor diesen Feldern und Wiesen stand und der Meinung war, dass es für die landwirtschaftlichen Maschinen und Großgeräte einer Kolchose vernüftiger wäre, diese Gräben zuzuschütten, alles zu planieren und damit zukunftsfähiger zu machen. Gesagt, getan, ohne Umschweife, ohne lange zu diskutieren. Die fatalen Folgen dieser Politik machte sich bald in Überschwemmungen sowie in Dürreperioden bemerkbar.

Abgaben? Schon wieder ein Tribut? Will uns da jemand in alte Zeiten zurückschicken, in die Zeit der Lehnsherrschaft? Nicht zuletzt wurde dieser neue Soll dermaßen hochgeschraubt, ‘angepasst’, dass nicht selten Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um die Pflichtabgabe erfüllen zu können. Und gerade die Nachrichten aus dem Radio, die von der Erhöhung des Solls für die Bauarbeiter berichteten, ließen den Hass auf die Vertreter der Partei immer größer werden. Der ideologische Überbau dieser Maßnahmen war den meisten Bauern nicht bekannt – sie wollten eh nichts davon hören, verbanden sie mit alledem eh nur Zwang und neue Knechtschaft. Funktionäre aus der Stadt, Fremde, Schreibtischmenschen, sollten von nun an das Sagen haben – unter diesen täglich härter werdenden Voraussetzungen verließen erst recht Bürger der DDR diese DDR. Solange die Grenzen noch ein bisschen durchlässig waren.

Es war dies das Land, dessen Machthaber darauf achteten, dass niemand aus der Reihe der organisierten Gemeinschaft der Werktätigen tanzt. Wenn der einzelne Bürger sich tatsächlich zuviel herausnehmen wollte, dies auch noch öffentlich verkündete und damit das Ganze, diesen Staat, gefährdete, indem er ihn in Frage stellte, nannte man genau das wohl Individualismus – schließlich hatte man ein Ziel, nämlich eine Internationale der Bauern und der Werktätigen. Heimat war revanchistisch und das Wort ‘Individuum’ allein ist ja schon negativ besetzt; ein Fremdwörterbuch aus der damaligen DDR führte hierfür allein die marxistisch-leninistische Erklärung an, wonach ‘individualistisch’ gleichbedeutend ist mit ‘kleinbürgerlich’. Und Kleinbürgertum wollte man so nicht dulden, denn das würde im Falle der DDR auf Zersetzung der Gesellschaft hinauslaufen – so befürchteten es jedenfalls die damaligen Machthaber vom obersten Politbüromitglied über den kleinsten Helfer im Rat des Bezirks, Rat des Kreises, Rat der Gemeide bis zum Schupo im abgelegensten Dorf.

Wenn totale Kontrolle denn einem guten Zweck diente, nämlich den ‘neuen Menschen’ zu schaffen und mit ihm als Grundstein eine neue Welt aufzubauen – heiligte da nicht der Zweck die Mittel?

Gerechtigkeit über alles. Und gerecht sollte sie vor allem sein, diese neu zu schaffende Welt in der Zukunft. Kein Mensch sollte den anderen ausbeuten dürfen und kein Mensch sollte des anderen Herrn sein. „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern“, heißt es im Lied der Kommunisten. Diese neue Welt ohne Stiefel im Gesicht galt es zu errichten – und sei es mit Gewalt, ohne Blutvergießen würde es keine wirkliche Revolution geben, so Rosa Luxemburg, die dies zuerst immer erneut andeutete, später schrie sie es regelrecht heraus. Für die, die es immer noch nicht verstehen wollten, sollte die Wahrheit einfach, präzise – und lautstark formuliert werden. Alles andere wäre, nun ja, individualistisch gewesen.

So mancher wollte das Spiel nicht mitspielen und brach bald aus diesem Käfig aus. Spielverderber.

Es ging der verschrobene, schon immer etwas verschlossene Mann, der sich am Dorfrand eine Scheune instand gesetzt hatte, um dort allein sein Leben zu fristen und von dem sowieso jeder annahm, dass er bald seine sieben Sachen packen würde, um ‘rüberzumachen’. Nicht eine einzige politische Äußerung war ihm zu entnehmen, und doch verließ er seine Heimat – auch wenn diese nur aus einer winzigen Scholle bestand. Die Gemeinschaft der Genossen und die Fürsorge seines Staates hatte er eh nur so weit in Anspruch genommen, als das er seinen Strom aus dem öffentlichen Netz bezog, sein Trinkwasser schöpfte er aus dem eigenhändig gegrabenen Brunnen. Niemand nahm ihm die Flucht in den Westen übel, gehörte er doch zu denen, die man sowieso zu den Kandidaten zählte – das waren die, die keine Familie hatten, für niemanden Verantwortung übernehmen mussten außer für sich selbst. Bindungslose. Assoziale sowieso. Die, die man gerade nicht zum Einsatz an der Grenze, am Schutzwall, aussuchte – weil sie niemanden zurücklassen müssten im Falle des Falles, sollte er denn eintreten.

Zuerst waren es nur einzelne, dann wurden es tagtäglich mehr – es gingen zumeist die jungen Männer, die sich eine neue Existenz als Handwerker im Westen vorstellen konnten, auf die keine Landwirtschaft wartete – die, die einen Hof zurücklassen müssten, waren vorsichtiger, die meisten von ihnen wollten abwarten, weil sie doch sehr viel zu verlieren hatten. Dann ging aber auch der Nachbar, welcher weder ein Waffenlager auf dem Dachboden hatte und sich auch nicht nur einmal über das Hoch auf den Klassenkampf lustig machte – bis ihre stetig steigende Zahl den Staat zwang, auf diesen nicht enden wollenden Aderlass zu reagieren. Doch immer noch begnügten sich die Grenzsoldaten des Ostteils der Stadt meist mit Ausweiskontrollen, und selbst die Berliner S-Bahn war so etwas wie eine Transitbahn mit regem Ost-West-Verkehr in diesen ereignisvollen fünfziger Jahren, wo der Grundstein gelegt werden sollte für die Kollektivierung, die dann so viele zweifeln ließ an den guten Vorsätzen der Partei und deren Umsetzung so manchen nachts nicht schlafen ließ. Es genügte bereits die Drohung einer Umsetzung der Ideale derer, die Tag für Tag die Zügel etwas straffer zogen – und man ahnte, was einem alles noch bevorstand. Dort, wo einzelne Bauern bereits einen Trecker für die Feldarbeit einsetzten, die meisten jedoch noch mit dem Ackergaul ihre Furchen zogen, dort ereigneten sich Dinge, die die Einheitspartei dazu veranlasste, ihre Spitzeltätigkeit zu perfektionieren.

Was sie denn hier mache, auf seinem Grund und Boden, fragte der Baron, hoch zu Ross durch seine Wälder galoppierend, das dort Reisig auflesende alte Mütterlein. \"Der liebe Gott hat die Wege erschaffen und es ist ihm gleich, wer auf ihnen geht\" – in wendischer Sprache. Eine Szene, wie Theodor Fontane sie nicht hätte besser beschreiben können.

Es war der zuletzt herrschende Baron zu Beginn des letzten Jahrhunderts, welcher das ursprünglich eher unscheinbare Gebäude zu einem spätbarocken Kleinod ausbauen sowie den Park im Stil des Fürsten von Pückler erweitern ließ, dessen Vorbild er wiederum im Branitzer Park der Bezirksstadt Cottbus fand. Der junge Baron, gerade 16 Jahre alt, fand sich kurz nach Kriegsende neben seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester auf dem hohen hölzernen Leiterwagen wieder – der Familie wurde zugestanden, das mitzunehmen, was sie auf diesem Wagen unterbringen konnte, sowie davor zu spannen, was zum Transport dieses Wagens notwendig war. Den Rest – das hieß, das meiste, was sie ihr eigen nennen konnten, mussten sie zurücklassen.

Aus dem Osten, aus Pommern und Schlesien, kamen die Flüchtlinge ins Dorf, ihnen bot das nun verwaiste Schloss mit seiner unvorstellbar großen Küche eine sichere Unterkunft. So etwas wie ein Paradies mag das für sie gewesen sein – die dicken Mauern hielten das Gebäude warm, auch wenn mangels Heizmaterial nicht geheizt werden konnte. Dorfwächtern, zu denen sich einige handverlesene Genossen aufschwangen, war dieses Gebäude ein Gräuel, es waren da einige wenige, dafür umso einflussreichere, beinahe selbstherrlich agierende Genossen der Meinung, dass dieses Schloss und damit die Zeit, für die es stand, ausradiert werden müsse, dann konnte und wollte niemand dem etwas entgegensetzen, Widerspruch war nicht erwünscht, Kadavergehorsam schon eher – und bot man den Mitwissern nicht an, das von der adeligen Familie zurückgelassene Silber und kostbare Porzellan unter sich zu verteilen? Es lockte Bares für die eigene Tasche – Berlin war nicht weit, und der Schwarzmarkt dort funktionierte noch immer. Nicht mit Hammer und Sichel, wohl aber mit Hammer und Eisenstangen sowie auch Sprengstoff – die eine oder andere Landmaschine mag ebenso dabei behilflich gewesen sein – rückte man diesen über die Jahrhunderte stabil gebliebenen Mauern zu Leibe, kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, Türen und Fenster transportierte einer der Wortführer zu seinem Häuschen im Nachbardorf, Wiederverwertung oder auch Recycling würde man das heute nennen. Man wusste, was man vor sich hatte, nämlich Wertarbeit. Bis auf das Gesindehaus wurde alles niedergerissen – „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Es war die totale Symbiose von Theorie und Praxis. Man durfte sich nach getaner Arbeit gegenseitig auf die Schulter klopfen.

Niemand ließ die bisher dort untergekommenen Menschen im Regen stehen, für sie fanden die Verantwortlichen umgehend eine neue Bleibe – sie wurden in genau die Holzbaracken umquartiert, die zur Zeit des Nationalsozialismus als Arbeitslager für Kriegsgefangene dienten. Als ob man gewusst hatte, das man sie noch einmal wird brauchen können, ließ man sie nach dem Krieg erst einmal stehen. Es war eng und zugig dort, nicht annähernd so warm – aber bei wen sollten sich diese armen Menschen beschweren? Hier wollte schließlich jemand den Sozialismus aufbauen, und mit Einzelschicksalen konnte man sich nicht auch noch befassen. Zu individualistisch eben, wo es doch um das große Ganze ging.

Stalin war tot, die Zeit der Trauer bei den Menschen im Arbeiter- und Baunernstaat kurz.

Eine winzige Hoffnung von Freiheit keimte auf an den Tagen vor dem 17. Juni – zuerst unter den Werktätigen in der Hauptstadt der DDR, und von dort aus trug sich diese Hoffnung in weitere, größere und bedeutende Städte der Republik – ruhig war es hingegen in den spreewälderischen Dörfern. Kein Fernsehgerät berichtete in den Nachrichtensendungen über die Ereignisse in der Hauptstadt, denn es gab keine, weder Postkutsche noch Kurier brachte die Nachricht unter die Leute dort – und das Rundfunkgerät wurde nicht so oft und schon gar nicht regelmäßig eingeschaltet. Wie sollte man sich ein Bild machen von dem, was da vor sich ging? Niemand wusste hier etwas von irgendwoher.

An diesem 17. Juni wollte der Bauer seine junge Frau ausführen, in die Bezirksstadt – der Zirkus gastierte. Er schraubte im Nachbardorf an seinem Trecker, der Maschinist stand ihm zur Seite – und bei dieser Gelegenheit wurde das Radio angestellt. Und so viel Zeit auch für die Fertigstellung eines Treckers benötigt wurde und wie eilig man es auch hatte, das Gefährt einsatzbereit auf dem eigenen Hof zu haben – an diesem Tag legte der junge Mann das Werkzeug früher als gewöhnlich zur Seite. An diesem Tag holte der junge Bauer am frühen Abend das Motorrad mit Beiwagen aus der Scheune und fuhr mit seiner Frau die einspurige Chaussee entlang in die zehn Kilometer entfernte Stadt. Der Zirkus hatte sein Zelt am Stadtrand aufgebaut, man wollte nicht zu spät ankommen, um noch Zeit zu haben, einen Platz auswählen zu können. Schließlich hatten beide schon einmal das Stadttheater gemeinsam besucht und wussten daher, wie wichtig es war, nicht auf die letzte Minute bei solch einem Ereignis einzutreffen.

Es sollte keine Vorstellung stattfinden? Sie wurde abgesagt – einfach so? – so jedenfalls lauteten die Stimmen am Ortseingang. Es sollte sogar schon ein Panzer gesichtet worden sein, sagte man. Und es sollte alles mit dem Streik der Arbeiter in Berlin zu tun haben. Wer wagte es, gegen die SED-Regierung, gegen die da oben, die Hand zu erheben? Oder erst einmal die Stimme? Keine Zirkusvorstellung, stattdessen eine allgemeine Ausgangssperre, da hieß es erst einmal: rechtzeitig zurück ins Dorf, bevor man vielleicht noch in die Schusslinie von Panzern oder Gewehrläufen geriet. Nachhause sollte es gehen, zurück an die Arbeit. Das Radiogerät in der Werkstatt verkündete nun die Nachrichten aus der Großstadt über den Sender RIAS Berlin. Plötzlich war sie da, die Stimme, die von den Straßensperren und von den überall auffahrenden Panzern berichtete. Wei-ter arbeiten, bloß keine Zeit verlieren, und doch ließen die beiden Männer plötzlich erneut alles stehen und liegen und fuhren mit dem kleinen Lkw nochmals die wenigen Kilometer in die Stadt. Viel war nicht mehr wahrzunehmen, bis auf zwei Panzer, welche nebeneinander an der breiten Ausgangsstraße – eine dieser Straßen, die da hießen „Straße der Freundschaft“ oder „Straße des Friedens“ oder auch „Straße des Friedens und der Freundschaft“ – standen, gerade so, als blieben sie stehen, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen war, und machten ein Vorbeikommen unmöglich. Beim Bau der Straßen, zumindest der großen Ein- und Ausfahrtwege, schien die Breite von Panzern als Maßeinheit gedient zu haben. Menschen kamen nur zu Fuß voran, aber sie mussten an diesen Panzern vorbei. Eher harmlos sah das Ganze zeitweise aus, vorübergehend. War die Schlacht schon vorbei oder stand sie noch bevor? So richtig konnte niemand das einschätzen.

„Hauen Sie ab, bevor hier auch noch was passiert“, lautete der gut gemeinte Rat von allen Seiten. Eine Ansammlung von mehr als zwei Personen galt als Zusammenrottung, war strikt verboten und wurde umgehend aufgelöst – wenn man Glück hatte, denn falls sich doch mal jemand so weit vor wagte, war auch an Verhaftung zu denken. Und obwohl sie nur zu zweit waren, überkam den Männern ein Gefühl von Mulmigkeit. Schnell noch ein Glas Bier in der nächstliegenden Eckkneipe, dafür musste Zeit sein. Die Kneipe war überfüllt, sie war verraucht – aber das Berliner Pilsener schmeckte umso besser. Soldaten der NVA sahen sie nicht unter den Kneipenbesuchern, und wenn schon, man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen. Und dieses Bier ließ die Männer für einen Augenblick mutig sein. „Uns können die nichts mehr.“ Und wie sie konnten.

Vielleicht lag es daran, dass sie beide Verantwortung für ihre Familie hatten, dass sie deshalb eher den vorsichtigen Weg wählten. Sie stiegen in ihr Fahrzeug und wollten nur noch auf dem direkten Weg nach Hause. Bewaffnete Volkssoldaten mit Stahlhelmen patroullierten an den wichtigsten Straßenkreuzungen, aber niemand machte Anstalten, die beiden aufzuhalten. Stadtauswärts vermuteten die Uniformierten keine Rädelsführer, sondern eben Bauern oder Maschinisten, die nichts weiter als zurück in ihr Dorf und zurück an ihren Arbeitsplatz wollten. Die Chance war zum Greifen nahe, ein Stück Geschichte zu schreiben – aber man ließ sie nicht.

Fürchterlich waren die Nachwehen dieser Tage, und doch war es gleichzeitig erstaunlich ruhig auf den Straßen, obwohl niemand sein Tagewerk ruhen ließ, alles ging seinen gewöhnlichen Gang – so schien es. Manchmal jedoch trügt der Schein. Auch wenn die Hufe der Ackergäule auf dem Kopfsteinpflaster hallten wie an jedem anderen beliebigen Tag. Auch wenn das eine oder andere Ochsengespann einfach mal mitten auf der Straße stehen blieb wie an jedem anderen Tag auch. Wer im Haus blieb, schaute ständig zum Hoftor oder aus dem Küchenfenster. Jedes unbekannte Geräusch, jede unbekannte Person, der man auf der Straße begegnete, löste Misstrauen aus. Die Funktionärselite wusste schon, warum sie auf die Bauern jetzt besonderes Augenmerk zu richten hatte – der Spitzel in der Kneipe leistete gute Vorarbeit. Zuerst jedoch waren es die Funktionäre selbst, die sich vor dem Volkszorn verstecken mussten – oder meinten, dies tun zu müssen, denn irgendjemand schien diese Bauern dazu ermuntert zu haben, sich plötzlich, von einen Tag auf den anderen, beinahe geschlossen gegen diese SED-Leute zu erheben – sie waren keine Respektpersonen mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Gleich Kaninchen, die vom Fuchs gejagt wurden, versteckten sich die verhassten Männer im bereits im Frühsommer hoch stehenden Roggen – und aufgescheucht ergriffen sie von dort aus wieder die Flucht und waren auch dabei beinahe so schnell wie Kaninchen, die um ihr Leben hoppeln müssen. Wer weiß, wozu ein Bauer, der inzwischen auch erfahren hat, warum es auch in der Bezirksstadt Menschenaufläufe gegeben hatte, fähig sein konnte? Die wenigsten hatten ein Gewehr oder ähnliches, aber ein Bauernhof bot so manches, das sich als Waffe einsetzen ließ – und dem ein unbeliebter SED-Parteifunktionär lieber aus dem Weg ging; Mistgabeln hatten sich bewährt, sie flößten dem Gegner zweifelsohne großen Respekt ein. „Also Genosse, darüber kann man doch reden ...“ – nein, solche Worte waren nirgends zu hören. Es war nicht die Zeit für Diskussionen mit Menschen, die noch nie gerne diskutierten, und schon gar nicht mit Männern, die ihnen eh noch nie zugehört haben.

Der Soll für die Arbeiter an der Stalinallee in Berlin sollte erhöht werden – das wiederum bedeutete mehr Arbeit für das gleiche Geld. Es bedeutete aber auch Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktion – der täglichen Arbeit der Bauern auf Feld und Hof.

Schon seit längerer Zeit streiften die unauffällig gekleideten Männer erneut von Gehöft zu Gehöft, um für den Beitritt in die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Typ II zu werben – zuerst war der Beitritt ganz und gar freiwillig, denn der LPG Typ I war ja nur der erste Versuch, Teile der Ackerflächen, Teile der Arbeit zu kollektivieren und Teile der Maschinen im MTS, Vieh in den großen Ställen der LPG zu sammeln. Und trotzdem sagte irgendetwas diesen Bauern, dass die Partei es nicht gut mit ihnen meinte. Gab sich der Baron seinerzeit mit weniger zufrieden, fiel die Ernte einmal schlechter aus als gewöhnlich, galt es nun, einen festen Soll zu entrichten. Niemand musste selbst im Feudalismus Korn nachliefern oder landete gar im Schuldturm des Schlosses, den es eh nicht gab. Die Abgaben an die LPG jedoch, die blieben konstant – 30 Zentner Roggen waren es gegen Ende der fünfziger Jahre, pro Jahr, je Hof. Und das war noch längst nicht alles: es kam nicht selten vor, dass Milch und Eier dazugekauft werden mussten, um den Soll hierfür erfüllen zu können. Das alles ließ das Misstrauen größer werden.

Inmitten des Dorfes öffnete ein Bauer dem unverhofft auf dem Hof auftauchenden Parteigenossen das Tor („Genosse, ich muss bei dir das Soll an Eiern einfordern, das du nicht fristgerecht abgeliefert hast“), aber damit war es mit dem Entgegenkommen und der Gastfreundschaft auch schon vorbei. Er bot dem Funktionär einen Stuhl an mit den Worten, er solle sich ruhig das Ei, das das eine oder andere Huhn als nächstes legen würde, nehmen und in den Korb, den die Bauersfrau für ihn bereit gestellt hatte, legen; irgendwann würde der Korb gefüllt sein – sie können selbst nicht darauf warten, sie müssen schließlich aufs Feld, die Arbeit dort erledige sich nicht von allein. Es ist nicht überliefert, wie lange der betreffende Mensch auf dem Stuhl ausharrte, ob er überhaupt Platz nahm oder ob er gar mit einem schriftlichen Vermerk in seinen Unterlagen den Hof stillschweigend verließ. Tatsache ist jedoch, dass weder die betreffenden Bauersleute noch ihre Hühner standrechtlich erschossen wurden – jedoch gänzlich folgenlos wird dieser Zwischenfall wohl nicht geblieben sein. Aber was sollte man schon unternehmen gegen Bauern, die nicht wollten, dass es ihnen besser ging? Sie ins Gefängnis werfen? Das hätte den Widerstand der anderen Bauern eher noch verstärkt. Folglich ließ man den einen oder anderen eher gewähren und hielt sie allesamt für Jahre an der sehr, sehr langen Leine.

„Wohin wird uns das alles noch führen?“

Am Ende siegten die mit den stärkeren und wirkungsvolleren Waffen – hier spielten Mistgabeln nun keine Rolle mehr. Letztendlich behielten die die Oberhand, die an der Macht waren, die die Armee kontrollierten, die für das Volk sprachen, die Vertreter des Volkes eben, Machtmenschen aus dem Volk. Dorfbewohner, deren Namen auf einer schon länger existierenden sogenannten schwarzen Liste standen, wurden abgeholt, inhaftiert, und man meinte, damit einfürallemal aufgeräumt zu haben. Manch ein anderer hatte noch Tage und Wochen nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen Angst vor Verhaftung, entzog sich dieser vorsorglich durch spontane Flucht in den Westen – über den weiterhin noch offenen Übergang nach Westberlin, über den Kontrollpunkt Friedrichstraße.

Wieder einmal hatte man sich unliebsamer und kritischer Menschen entledigt, wieder einmal war für lange Zeit Ruhe eingekehrt, auch wenn es eigentlich nichts weiter war als Friedhofsruhe. So strömten die Menschen in den folgenden Jahren weiter heraus aus dieser Republik, die doch die ihre sein sollte, die man doch nur zu ihrem Wohl errichtet hatte, die man erhalten und gleichzeitig weiter ausbauen und sichern wollte.

Fluchtgedanken bei den Erwachsenen, Neugierde und Freude beim Auspacken der Pakete aus dem Westen bei den Kindern. Sie ließen die kleinen Mädchen träumen – von Petticoats, die sie wie Prinzessinnen aussehen ließen. Ob es da wirklich ein Land gab, das noch mehr Schönes für sie bereithielt? Die Kinder kümmerte es nicht, sie liefen gleich wieder auf die Straße oder spielten weiter in der Scheune, sprangen in Heuhaufen und spielten im von Hühnern durchstreiften Sandkasten. Damit die schmutzigen Kinderhände die frisch gestärkten Stücke nicht berührten, wenn sie auf Bügeln hingen, hingen sie sehr hoch. So konnten die Mädchen nur hinaufschauen zu diesem Traum aus Tüll, in weiß, hellrosa und in vanillegelb. Für die Erwachsenen hingen die Fluchtpläne ebenfalls noch sehr hoch, aber sie ließen viele nicht mehr los. Ihre Blicke gingen ständig nach oben, dorthin, wo der goldene Westen für sie hing – wie das Schlaraffenland im Märchen – und eigentlich unerreichbar.

Für Bauern und Handwerker, die sich mit dem Verlassen der Heimat beschäftigten, bedeutete der Osten, in dem sie lebten, Rückstand, der Westen war gleichbedeutend mit Fortschritt – folglich kam auch für sie nur diese eine Richtung infrage. Familien und auch Alleinstehende verließen, ganz sicher nicht leichten Herzens, Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie Grund und Boden – und ließen auch sonstiges Hab und Gut zurück. Und sie übertraten nur mit dem, was sie am Leibe trugen – wenn man eine Aktentasche mit Rasierzeug oder eine kunstlederne Handtasche mit einer Flasche Kölnisch Wasser mit einem Taschentuch nicht miteinbezieht – die Sektorengrenze, die den Ostteil der Stadt von dem des Westteils trennte, um an einem ihnen vollkommen unbekannten Ort neu anzufangen. Es genügte die Furcht vor Verhaftung, das ständige Gefühl der Angst, jegliche Selbstbestimmung über den eigenen Hof zu verlieren, die Furcht davor, sich eines Morgens mit anderen Bauern an einem festgelegten Treffpunkt zum Feldeinsatz abholen und von einem Funktionär, von oben bestimmt, für die tägliche Arbeit einteilen zu lassen. So sollte ihre Zukunft aussehen? Dass viele von ihnen dieses Leben im Westen mit dem Anstehen vor dem Fabriktor eintauschen sollten, das erfuhren sie erst viel später. Ihre Vorstellungen und auch Erwartungen waren jedoch erst einmal ganz andere.

Sich davonzustehlen wie ein Dieb in der Nacht. Haus und Hof aufzugeben, das bedeutete zumindest ein Abschied für unbestimmte Zeit. „Dieser SED-Spuk wird nicht ewig dauern.“ Welche Chancen ließen die Machthaber verstreichen – junge Bauern, die demnächst die Landwirtschaft ihrer Väter übernehmen würden, arbeitsfähige Männer und Frauen, die sich Gedanken machten über die Zukunft ihrer Höfe, die die Wirtschaft modernisieren wollten mit Maschinen, die sie gemeinsam erwerben wollten – Hilfe untereinander war schon immer die Stärke dieser Menschen. Aber solche Einzelaktionen, gerade die wollte die Obrigkeit nicht dulden. Abwarten, das LPG-Formular unterschreiben. Erst einmal. Man wird weitersehen. Wäre es für immer und hätte es Folgen, wenn sie sich Bedenkzeit erbitteten? Eine Partei ließ sich nicht lange bitten. Stattdessen wurde es eine Abstimmung mit den Füßen.

Die junge Bäuerin, die mit ihrer hellen kunstledernen Handtasche die Grenze überschreiten wird, kannte bis zur Mitte ihres Lebens nichts anderes als ihre Heimat, die Flusslandschaft im Osten der Republik. Der liebe Gott mochte diese Region irgendwann ein bisschen vergessen haben; die Menschen glaubten manchmal wirklich, alle Last dieser Welt tragen zu müssen. Wenig fruchtbarer Boden, der durch seine sandige Beschaffenheit als kostbarste Frucht gerade einmal Spargel gedeihen ließ, als wollte er damit die Menschen für ihr hartes Los mit dieser Köstlichkeit, diesem Luxusgut, entschädigen. Weißer Spargel kam auf den Tisch, sobald und solange er erntereif war, und niemand machte sich beim Verzehr groß Gedanken, ob denn nun geklärte Butter oder einige Tropfen Speiseöl dazu gehörten oder ob man vielleicht nur die Köpfe abbeißen dürfe – und den Rest, der würde dann an die Schweine verfüttert? Selbstverständlich wurde Butter zerlassen, denn die Alternative wäre Leinöl gewesen – diese allzu schräge Kombination schien niemandem einzufallen. Für Tamtam hatte man keine Zeit – und es war auch nicht notwendig, solange es allen auch so schmeckte. Aus den Spargelabfällen kochte man eine wohlschmeckende Brühe, die die Grundlage für eine herrliche Suppe, verfeinert mit Eierstich, bildete.

Gelbe Suppe: 15 Nelken und 1 1/2 Stangen Zimt werden mit 3/4 Liter Wasser und 1/4 Liter Milch aufgekocht, man füge dann 3 EL Mehl sowie Zucker, eine Prise Salz, Saft und Schale einer Zitrone und Butter hinzu. Einige Safranfäden werden in heißer Milch aufgelöst und dazugegeben, desweiteren gequollene Sultaninen. Auf Tellern verteilt werden gebräunte Zwiebackstückchen und Eischnee darübergegeben.

Weizen weigerte sich, in diesem Landstrich in großen Mengen und in wirklich guter Qualität zu wachsen, die Ähren waren recht klein, folglich blieb den Bauern nur der Anbau von Roggen, Gerste und Hafer, Rüben und – Gurken, neben den üblichen Obst- und Gemüsesorten natürlich, nicht nur auf den Äckern, sondern auch in den Gärten, die zu jedem Hof gehörten, angebaut wurden. Geradezu trotzig mutete es an, dass Bauern Pfirsichbäume anpflanzten; was dabei herauskam beziehungsweise, was diese Bäumchen hervorbrachten, waren weiß- bis hellgraufleischige Früchte, etwas herb, mit festem Fruchtfleisch. Sie blieben klein, waren aber trotzdem saftig – und sie hatten ein Aroma, welches manche Sorten aus dem heutigen EU-Standard nicht hervorbringen. Auch ließ der heiße und trockene Lausitzer Sommer Tomaten und Wein an den sonnigen Giebelwänden, die die tagsüber gespeicherte Wärme nachts an die Gewächse abgab, wachsen.

Eintönige Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, haben ihren Reiz für den, der mit ihnen aufgewachsen ist, dem sie vertraut sind wie die Birken, die vereinzelt zwischen Kiefern oder auch als geschlossener Hain, hell und licht, auftreten. Zahlreiche Mischwälder, wie sie jedes amtlich beglaubigte BUND-Mitglied erfreuen würden, durchzogen das Land, mit allem, was eine mittel- und kontinentaleuropäische Pflanzenwelt hervorzubringen imstande ist. Märkische Heide, märkischer Sand – ob Theodor Fontane je auf diesem Boden ein Fahrrad lenken musste? Es erfordert höchste Geschicklichkeit, aber die Menschen lernten es von Kindesbeinen an und taten es bis ins hohe Alter, denn selbst wer längere Strecken mit der Schmalspurbahn zurücklegen wollte, musste doch erst einmal zum Bahnhof – und der lag in jedem Dorf am Rande der Ortschaft, war ausgestattet mit einem Fahrradschuppen, zum Unterstellen der Räder.

Feucht und sauer waren die Wiesen , und noch saurer als das frisch gemähte Gras war das eingelagerte Silofutter, das im jeweils darauffolgenden Winter verfüttert wurde – das Vieh mochte es nicht besonders gern, verzog regelrecht die Schnauze, wenn die Futterzeit nahte, und manchmal bildete der Bauer sich ein, einen vorwurfsvollen Blick zu erhaschen. „Ist das der Dank dafür, dass wir dir unsere Milch geben?“ „Was soll ich machen? Soll ich mir etwa besser mundendes Gras aus den Rippen schneiden?“ Wenn die Menschen selbst das durch die Lagerung im feuchten Keller angeschimmelte Roggenbrot aßen, weil es zu schade war zum Wegwerfen – allenfalls der Schweinetrog wurde ab und an mit den härtesten Resten damit aufgefüllt – musste doch wohl das Vieh sich mit minderer Nahrung zufrieden geben, aber satt wurden beide, satt wurden Mensch und Tier.

Kämpfen mussten Mensch und Tier gegen die Witterung, sie machte beiden gleich zu schaffen. Nahezu sibirische Winter und trockenheiße Sommer herrschten in diesem Landstrich – was die Flüsse nicht unbedingt daran hinderte, in dieser Niederung ab und zu reichlich über die Ufer zu treten. Aber auch dagegen hatten die Bauern von jeher ein Rezept: sie boten dem Fluss und seinen zahlreichen Seitenarmen – als Opfergabe an die Naturgewalten sozusagen – genügend Flächen an, ausreichend für Überflutungen, wenn ihm, dem Fluss, danach war. Sümpfe entstanden so regelrecht, mit der entsprechenden Flora und Fauna. Frösche und kleine Schlangen, welche wiederum die Störche anlockten, gab es reichlich. Man konnte sie, wenn man die Augen während einer Fahrt auf der schmalen, auf beiden Seiten mit Bäumen gesäumten Landstraße offen hielt, das Tempo drosselte, um irgendwann nur noch im Schritttempo zu fahren und dabei nach rechts und nach links schaute, auf den Wiesen beobachten. Natürlich hatte kein Bauer Zeit, Störche zu beobachten; sie waren einfach nur da, sie liefen hinter ihm her und wurden dabei kaum wahrgenommen. Mähte irgendjemand irgendwo eine Wiese, stakte Meister Adebar unmittelbar hinter dem Bauern mit seiner Sense, um so die dann zuhauf auftauchenden Amphibien nur noch einzusammeln. Und hätte er einen Beutel gleich einem Kängeruh, wäre dieser schnell gefüllt und der Inhalt könnte flugs an den Nachwuchs, der ständig hungrig im Nest wartete, die Schnäbel weit aufgerissen, ausgeteilt werden. Es blieb den Storcheneltern nur, mehrmals hin- und herzufliegen und das eine oder andere Getier, nachdem es am Fundort im Schnabel verschwand, im Nest wieder hervorzuwürgen. Hierbei gelang es so manchem Frosch, wieder in die Freiheit zu hüpfen, auch wenn dies einen Sprung aus der Höhe eines Storchennestes bedeutete.

Ein jeder hatte schließlich seinen Platz gefunden und mochte ihn nicht mehr hergeben. Man vertrug sich, lebte friedlich nebeneinander, Mensch und Getier, Mensch und Natur, Jahrhunderte lang. In der vor Zeiten von den aus dem Osten kommenden Wenden urbar gemachten Gegend entstanden in dieser Zeit Ackerflächen, vor allem an vor Überschwemmung sicheren Gebieten, und das nicht zu rar. Sie ernährten die Bauern und ihre Familien, sie ernährten Knechte und Mägde, sie ernährten auch Teile der Stadtbevölkerung, die sich auf den Märkten mit den Erzeugnissen der Bauern eindeckte. Sie versorgten so die Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone, der SBZ, die ja eigentlich schon die Deutsche Demokratische Republik war, mit Grundnahrungsmitteln, ernährten sie mit dem Lebensnotwendigen. Für alles andere, für das, was das Leben angenehmer machte, war der Westen zuständig, alles fand seinen Weg über die Grenze, alles außer Druckerzeugnisse, wozu auch ein Kalender mit harmlosen Abbildungen von Tierbabies zählten. Sobald der 17. Juni als Feiertag gekennzeichnet war, war solch ein Kalender eben nicht mehr harmlos, sondern zweifelsfrei eine ordentliche Hetzkampagne des allzeit zu misstrauenden imperialistischen Klassenfeindes. War nicht auch der mit Westkakao gebackene Berliner Napfkuchen eine Art Hetze des Klassenfeindes gegenüber DDR-Bürgern und gar nicht so harmlos wie er aussah? Wenn denn solch ein Napfkuchen einmal konfisziert wurde, dann sicher nicht wegen dem Kakaoanteil, viel eher wusste da jemand so etwas zu schätzen und nahm gerne jede Abwechslung zu den beschlagnahmten Gänse und Enten wahr, wenn sie sich denn bot.

Der Rhythmus der Natur bestimmte den Arbeitstag; es war ein sehr, sehr hartes Dasein, und es bestand an den meisten Tagen des Jahres aus nichts als Arbeit, und das bei jedem Wetter – dies Leben war also nicht viel anders als vielleicht im Hunsrück oder im Bayerischen Wald zu dieser Zeit.

Befindlichkeitsstörungen zählten nicht, nur dringlichst verordente Bettruhe galt als Entschuldigung für ein Fernbleiben von der Arbeit, und selbst eine Wöchnerin wagte kaum, länger als unbedingt notwendig der Pflicht fernzubleiben. Hier genügte der strafende Blick der Schwiegermutter, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein Ausruhen, ein die-Hände-in-den-Schoß-legen gestattete nur der Sonntag, und das auch nur, weil es das Kirchenjahr so vorgab. Man verließ sich hierbei auf die Nachsicht des Herrn, wenn vor dem Kirchgang noch das Vieh versorgt werden musste – erst dann begann für den, der es so wollte, die Sonntagsruhe, jedoch hatte so mancher auch hierbei einen Blick für den Nachbarn, sei es aus Fürsorge, sei es aus Neugier oder um sich gegenseitig zu kontrollieren, zu denunzieren: wer fehlte beim Gottesdienst? Für den Pastor war es eine Leichtigkeit, seine Schäfchen zu beobachten. Eine Selbstverständlichkeit war es ebenso für die Staatssicherheit, die Kirchgänger und noch vielmehr den Inhalt der Predigten zu überprüfen. Zur Nazizeit saßen vereinzelt SS-Leute auf den Holzbänken, später übernahmen SED-Bonzen diese Aufgabe, beinahe nahtlos wurden so immer wieder Notizen von dem gemacht, was der Kirchenmann von der Kanzel herab verkündete. Stimmten diese Worte nicht überein mit den Statuten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war Wachsamkeit angesagt, auf wen sollte man öfter ein Auge werfen? Waren die mahnenden Worte allzu deutlich an die staatliche Obrigkeit gerichtet – ebenso. Es gibt keinen Herrn als den unsren? Aufschreiben. Datum. Uhrzeit. Widerworte? Im Gleichschritt marsch.

Nie, nie war es anders gewesen. Weit vor der Zeit der beiden Diktaturen war es jeweils eine adelige Familie, welche als Eigentümer dieses Dorfes auch die Innenausstattung der Gotteshäuser finanzierten und folglich auch mitgestalteten. Von der eigens für sie errichteten Empore herab nahmen sie die Möglichkeit wahr, das Holztürchen ein wenig zur Seite zu schieben, um so zu beobachten, wer denn wieder einmal den Gottesdienst versäumt hatte, ob vielleicht aus dem einen oder anderen Mädchen eine junge Frau geworden war – und vielleicht auch, wer wieder einmal während der Predigt einschlief. Fürsorglich bis harmlos war dies.

Prägend schon für diese frühe Zeit der Barone waren die Lieder des Pietismus; die Lieder eines Paul Gerhardt – in der wunderschönen Backsteinkirche der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Lübben wirkte Paul Gerhardt Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts als Pastor für seine Gemeinde und schrieb nebenbei einige der schönsten evangelisch-lutherischen Kirchenlieder – und eines Matthias Claudius bestimmten das Liedgut im protestantischen Brandenburg. Man meinte, Martin Luther persönlich hätte ebenso dort von der Kanzel donnern können, so spürt man diesen Geist noch heute, glaubt ihn zu erhaschen. Nüchtern bis kalt – obwohl von architektonischer Schönheit – sind diese Kirchen des Protestantismus, und dies war auch so gewollt. Nichts sollte den Kirchenbesucher bei seiner Andacht ablenken, nichts sollte sein Verhältnis zu seinem Gott im Wege sein. Unmöglich, sich dort eine Reliquie vorzustellen, ausgestellt auch noch in einem vergoldeten Schrein, ob mit oder ohne Sichtfenster.

„Abend wird es wieder
über Wald und Feld.
Säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.“

Von wegen. Nicht einmal nachts ruhte diese Welt.

„So legt euch dann, ihr Brüder
in Gottes Namen nieder,
kalt weht der Abendhauch.“

Abends, wenn die Hühner zum Schlafen auf der Stange Platz genommen hatten, hatten die Menschen Gelegenheit, ihrer Scholle zu gedenken. Es sollte ihr gut gehen, es sollte ihnen gut gehen – und mögen sie immer genug zu essen haben. Eine gute Ernte, genug Mehl- oder Brotsuppe und sonntags einen Braten, zum Malzkaffee einen Hefeblechkuchen mit reichlich Butter und Zucker und Zimt.

Wären da nicht die körperlichen Beeinträchtigungen gewesen, die den harten Alltag immer mehr zur Tortour werden ließen – die Bauersleut hätten dieses Leben bis zu ihrem Ende gelebt, ohne sich je um politische Dinge wie Meinungsfreiheit geschert zu haben. Die Frauen setzten sich nicht in die Dorfkneipe wie ihre Männer, wo am ehesten die Gefahr bestand, bei einem Bier zuviel laut zu werden und dann vielleicht bestimmte Gäste dazu zu bringen, aufzuhorchen, wenn da denn jemand etwas Falsches sagt, danach vielleicht in eine dunkle Limousine gezerrt zu werden, um für mehrere Jahre die Familie nicht wiederzusehen, ja nicht einmal von ihnen zu hören. Die Gespräche unter Frauen kreisten meist um andere Dinge als Politik, manchmal reichte das Thema jedoch in ihren Bereich hinein, denn Politik begann nun einmal beim Kühemelken – wie lange würde man die Tiere noch im eigenen Stall halten dürfen? Wieviele Hühner würde man ihnen lassen? Würde man die frisch ausgebrüteten Küken gleich abliefern müssen, sortiert nach Geschlecht und Gewichtsklasse? Dabei sollte es doch eine klassenlose Gesellschaft geben – hatte da jemand etwas missverstanden? Man muss nicht alles verstehen.

Das ruhige Dorfleben wurde erschüttert durch die Verhaftung eines jungen Mannes, Sohn der HO-Verkäuferin und deren Mann, die dadurch beide unfreiwillig ins politische Geschehen der Gemeinde gedrängt wurden. Schon immer gab es Verhaftungen, Verschleppungen – man nahm sie hin; was sollte man tun als abwarten und sich einreden, dass man mit alledem, was ‘die da oben’ machen, nichts zu tun haben wolle? Doch von diesem einen Tag an war nichts mehr wie früher, und an die Stelle des ungezwungenen ‘Guten Morgen’ beim Betreten des Geschäftes war ein leiseres Begrüßen getreten, nachdem man sich im Laden umgesehen hatte. Die Frauen fragten anfangs nach. „Haben Sie etwas gehört, ich meine von Ihrem Sohn?“

Noch nach Tagen konnte sich niemand daran erinnern, vom jungen Mann bei irgendeiner Gelegenheit ein paar Worte und dann auch noch die falschen, gehört zu haben. Aber so war das mit der Jugend – es waren eher die Stillen, die beobachteten, und ehe man sich versah, passierte etwas. Einem platzte der Kragen, die kleinste Ungerechtigkeit ließ ihn aufbrausend werden, und wenn er dann noch zur falschen Zeit am falschen Ort war, war es meist zu spät, schlichtend einzugreifen. Diese jungen Menschen verwandelten sich dann in regelrechte Hitzköpfe, und niemand wollte seine Hand für einen von ihnen ins Feuer legen. „Bleib ruhig, Junge, es nützt dir nichts. Behalt deine Meinung für dich.“

Mit Grübeln allein machte sich noch niemand strafbar, auch in der mehrfach überwachten Republik nicht – mit lautem Gerede über die Politik der Partei, die noch nie ihre Partei war, schon. Gedanken waren auch weiterhin frei, aber hier muss wohl etwas mehr vorgefallen sein in dieser besagten Nacht, vielmehr in diesen Morgenstunden, man hörte bereits den Hahn krähen.

Warum wohl holte man die Menschen bevorzugt im Morgengrauen ab?

Der Hund des HO-Hofes – neben dem Kolonialwarenladen versorgte die Familie einiges an Kleingetier wie Hühner und Gänse sowie auch ein paar Schafe, die auf dem Rasen zwischen den wenigen Obstbäumen ihr Revier hatten – lief noch eine längere Strecke bellend hinter dem Wagen her, bis er irgendwann nicht mehr mithalten konnte und aufgab, ohne dass ihn jemand zurückpfeifen musste. Er kehrte auf den Hof zurück und legte sich vor das Holztor, rührte jedoch am Morgen kein Fressen an, das wie eh und je aus Resten vom Abendessen der Familie bestand; stattdessen kroch er bei Morgengrauen in seine Hütte, die ein Teil des Holzschuppens war. Hier hatte der junge Mann ihm einen Verschlag zusammengenagelt, in dem der Hund nur selten, sehr selten, an die Kette gelegt werden musste, zum Beispiel, wenn die Tollwut in der Gegend akut war und es Vorschrift war, die Tiere wegzusperren, und es bei Zuwiderhandeln Erschießen des streunenden Hundes drohte.

Der Tag verging, und Mitternacht war bereits vorbei, als der Hund aus seiner Unterkunft kroch und langsam zum Hoftor schlich, wo er bis zum kommenden Morgengrauen ausharrte. Gelegentliches Jaulen verriet, dass etwas nicht war wie sonst; er schien Wache halten zu wollen, wie er es eigentlich immer tat – nur wollte er wohl dieses Mal der erste sein, der den jungen Mann nach seiner Freilassung auf dem Hof begrüßen würde. Der junge Mann kam nicht zurück an diesem Morgen, genauso wenig wie am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Rückkehr erlebte der treue Wachhund nicht mehr, sein Alter ließ dies nicht mehr zu.

„Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“

Verschon auch die Schulzes, sie haben es schon schwer genug.

Auch an diesem besagten Tag öffnete der Laden wie gewöhnlich, was blieb dem Ehepaar anderes übrig? Ihr Konsum war der einzige im Ort und außerdem als halbstaatliche Einrichtung für die Versorgung der Gemeinde verantwortlich. Genausowenig wie die Poststelle und auch die Bäckerei konnte es sich dieser Laden erlauben, auch nur für einen Werktag geschlossen zu haben; folglich wurden die schweren hölzernen Rolläden hochgezogen, wurde die Markise ausgefahren – so, wie sie es jeden Morgen eines Arbeitstages taten. Die an diesem Tag angebotenen Lebensmittel waren inzwischen in den dafür vorgesehen Stellen abgeholt, eine handbeschriebene Schiefertafel kündigte die jeweils an diesem Tag abzugebenen Frischwaren an. „Heute Harzer Käse“ oder auch „Margarine eingetroffen“.

Hefeplinse (cirka sechsStück): Man erwärme einen halben Liter Milch in einem Topf und gebe cirka zwanzig Gramm Hefe hinzu, welche man mit Hilfe eines Schneebesens in der Milch auflösen lasse. Zu der lauwarmen Hefemilch gebe man eine Prise Zucker sowie 250 Gramm Weizenmehl (am besten sogenanntes ‘Brötchenmehl’ Type 505) und lasse das Ganze zugedeckt an einem warmen, zumindest aber zugfreien Platz stehen, bis sich die Menge etwa verdoppelt hat und Blasen aufgeworfen hat. Nun rühre man zwei zimmerwarme Eier darunter sowie eine Prise Salz. In wenig Fett (Butter, Butterschmalz oder Pflanzenöl) gebe man eine Schöpfkelle von der Teigmasse und backe so die Plinse goldbraun. Sie sind gut gelungen, wenn sie luftig und locker sind. Mit etwas weicher Butter bestreichen und mit Zucker bestreut zusammengerollt servieren. Wer bereits beim Lesen des Rezeptes an Körpergewicht zunimmt, begnügt sich besser mit einer Portion. – Die Plinse schmecken auch am nächsten Tag noch kalt sehr gut.

Gespräche, sofern sie nur im engsten Familienkreis stattfanden, wurden niemals als eine Gefahr für Leib und Leben gesehen – waren sie ja auch nicht, noch nicht. Es waren meist die Frauen, die es verstanden, eine politische Aussage so humorvoll zu formulieren, dass niemand auf die Idee kam, sie als politisch, also gefährlich anzusehen. Wirklich gefährdet waren die Kinder, denn: Kindermund tut Wahrheit kund, und ganz bestimmte Leute wollten sich dies zunutze machen, hofften auf die Kleinen – allein bei dieser Vorstellung bekommt das Hochnehmen und Tätscheln von Kindern durch Parteimenschen während großer Veranstaltungen eine ganz andere Bedeutung. Bloß kein Verplappern. Nun ja, wurden die Kinder älter und liefen Gefahr, von ihrem Lehrer soweit indoktriniert zu werden, dass sie es als eine sozialistische Pflicht ansahen, unliebsame Gesprächesthemen in der familiären Tischrunde zu melden, könnte es schon brenzlig werden – so vermutete man. Und diese Vermutung hatte nicht getäuscht.

Wie sollten die Menschen damit umgehen? „Nicht einmal den eigenen Kindern kann man vertrauen. Ist das etwa gewollt?“
„In was für einem Land leben wir eigentlich?“
„Wohin wird uns das alles noch bringen?“

Das beschauliche Leben in der Dorfgemeinschaft sollte einem öffentlichen, von allen Seiten und rund um die Uhr kontrolliert, weichen. Ein Leben in verordneter sozialistischer Gemeinschaft erwartete die Menschen, nur wussten es die wenigsten. Dort, wo früher eine Dorfgemeinschaft existierte, sollte ein Kollektiv entstehen. Eigentlich besteht zwischen den beiden Begriffen kein großer Unterschied – es kommt aber darauf an, wer welches Wort in welchem Zusammenhang benutzte.

„Genossen, wir sammlen für Kuba; wer eine Spende geben möchte ...“ Gemeindeversammlungen im umfunktionierten Saal der Dorfkneipe fanden weiterhin statt – schließlich muss ein Landwirt erfahren, was in Planung ist und was davon, vielleicht, ihn und seine Familie und auch seine Nachbarn, betreffen wird. Die Bauern wurden an einen anderen Alltag herangeführt, ‘Verantwortung’ für das Dorfkollektiv zu übernehmen. Trotz aller Widrigkeiten – es war dies etwas Neues, für alle: von oben angeordnete Solidarität zu üben sowie gleichzeitig die Erfahrung zu machen, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn sich jemand dieser Solidarität verweigerte. Aber was sollte Castros Kuba mit den Aluchips der DDR auf dem Weltmarkt, auch wenn dieser fast ausschließlich nur aus dem Ostblock bestand, anfangen? Und wer hatte, wenn er keinen Fernseher hat und keine Zeitung liest, überhaupt schon etwas von der Insel Kuba gehört? Aber den Bauern Kuba, den kannte jeder. Für wen sollten sie noch mal Geld spenden? „Kuba.“ Kuba, das war auch der Name des Bauern, dessen Hof sich gleich neben der Kneipe befand. „Geld für Kuba? Ist dem eine Kuh krepiert – oder warum braucht der Geld?“

So plagte sich die Funktionärselite mit dem Bauernvolk – und gab nicht auf. Für immer würde sich niemand diesem durchorganisierten Leben, für das fleißig die Werbetrommel gerührt wurde, entziehen können. Auch die Jugend nicht, denn auf sie baute die Partei im besonderen. „Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf.“ Schade, dass gerade diese Jugend manchmal so schwer zu überzeugen war – aber jetzt war man erst einmal mit der älteren, der starrköpfigen Generation beschäftigt. Die Jungen, ja, die Jungen, um die würde man sich schon noch rechtzeitig kümmern. Wenn die Zeit dafür gekommen sein wird.

Das Dorf blieb auch mit seiner Nähe zur Bezirksstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnern ein Dorf. Und es waren dort nicht wenige der jungen, sehr jungen Menschen, die miteinander den Traum von einer Jugend träumten, wie sie sie bruchstückhaft bei den Stippvisiten in Westberlin kurz streiften, daran schnupperten; der eine oder andere mag sie etwas zu tief eingeatmet haben, und sie ließ ihn nicht wieder los. Kein James Dean war im sozialistischen Kino oder auf Werbeplakaten zu bewundern und kein Elvis Presley oder Bill Haley verzückte die jungen Menschen mit ihrer Musik. Und doch sickerte etwas durch den bis dahin noch unsichtbaren Stacheldraht, durch die noch nicht errichtete, aber teilweise schon spürbare Mauer.

Es war ein schlichtes rotes T-Shirt, welches wohl kein Grenzpolizist als zersetzend und als amerikanischen Spionageartikel ansah – war Rot nicht die Farbe der Sowjetfahne?–, folglich brachte einer aus der Halbstarkenclique solch ein T-Shirt mit ins Dorf, was zur Folge hatte, dass dieses Kleidungsstück aus dem Westen zu höheren Ehren gelangte als sein Kaufpreis je vermuten ließ. Der halbstarke Junge, der doch kein ‘Halbstarker’ war, streifte es über und seine Schwester tat das gleiche mit einem kurzärmeligen Pulli, welcher bis dahin ein eher stiefmütterliches Dasein fristete und nun aus dem Kleiderschrank gezogen wurde, in eben dieser Farbe – nun wusste sie diesen Pulli auf einmal zu schätzen, denn er ähnelte, wenn man ihn nicht unbedingt von der Nähe aus betrachtete, einem knallroten T-Shirt aus dem Westen. Sie standen beide vor dem großen Spiegel, welcher über der Kommode im Wohnzimmer hing und ließen die kleine Schwester des Nachbarjungen entscheiden, welches Rot das knalligste, das roteste Rot war. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“

Ein knallrotes Stück Stoff aus simpler Baumwolle, das zu der Zeit wohl wie kein anderes das ungestüme Leben des Westens verkörperte – auch wenn die dazugehörige Blue Jeans fehlte, man ließ die Phantasie spielen – schien auch der Anlass für eine Entscheidung der jungen Frau zu sein, von der zu dem Zeitpunkt noch niemand etwas ahnte und auch bis zur Verwirklichung auch niemand etwas erfahren würde. Dass sie sich eines Tages die Zöpfe abschneiden ließ und mit einer modischen Kurzhaarfrisur nach Hause kam, war zwar nicht zu übersehen, schien aber niemanden aufzufallen, es war jedenfall keine Erwähnung wert. Die Bäuerin, die ältere Schwester, hätte diese winzigkleine äußerliche Veränderung bemerkt, aber sie war zu der Zeit bereits wieder bei ihrer Familie im Nachbardorf, bei ihrem Mann, bei den Schwiegereltern und bei den Kindern, die ihr keine Zeit ließen, sich länger mit dem zu beschäftigen, was im umfrisierten Kopf ihrer kleinen Schwester vorging und ob eine Präsentation von einem roten T-Shirt wohl etwas mehr zu bedeuten haben könnte als ein eitler Schönheitswettbewerb vor dem eichenholzgerahmten Spiegel in der guten Stube.

Sie fehlte irgendwann beim Abendessen, diese junge Frau, und niemand vermisste sie, als sie sich am nächsten und übernächsten Tag immer noch nicht blicken ließ. Dann machte sich die Mutter für alle anderen vernehmbar Gedanken, der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihren Bruder dazu veranlasste, dem bis dahin zwar nie besonders harmonisch verlaufenen gemeinsame Essen den Rücken zu kehren, indem er die Tür hinter sich zuschlug, um bis zum nächsten Morgen nicht mehr aufzutauchen. Man teilte die Sorge um die Tochter, die Schwester, und jeder tat dies auf seine Art und Weise kund.

Monate vergingen, bis sich die Abtrünnige mittels eines Briefes bei der Familie meldete. „Es geht mir gut. Ich schicke euch Pakete, sobald ich etwas zusammengespart habe. Ich denke an euch.“ Dem ersten Paket beigelegt war – ein rotes T-Shirt für ihren kleinen Bruder, der nun eigentlich nicht mehr klein war und den sie über alles in der Welt liebte.

„Erzählen Sie uns bloß nicht, Sie hätten davon nichts gewusst. Also raus mit der Sprache: wer war informiert? Und welchen Weg sie genommen hat, war Ihnen wohl auch nicht unbekannt. Wer sind die Fluchthelfer in Berlin? Oder gibt es sonstige undichte Stellen? Nun reden Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie so davon kommen. Wir haben noch ganz andere Mittel, sie zum Reden zu bringen.“ Allein die Uniformen der Männer ließen die übrigen Familienmitglieder vor Angst erstarren und nach Luft schnappen. Ein Fenster öffnen – man traute sich es nicht zu, hielt lieber die stickige Luft aus. Stiefel knallten zusammen, bevor die Männer des Volkes den Hof verlassen hatten und bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Die Mutter glaubte, ihr bliebe das Herz stehen, in Wirklichkeit schlug es schneller und lauter als je zuvor. Niemand sagte auch nur ein Wort. Schon glaubte man, dass die Wände Ohren bekommen haben könnten. Wenn jetzt nur ein Name fallen würde, und wäre er auch noch so harmlos, könnte dies eine ganze Maschinerie in Gang setzen.

„Da dachte man, dass sich wenigstens nach dem Krieg etwas ändern würde, aber jetzt … wer kümmert sich schon um uns? Arbeiten, nichts als arbeiten. Und wofür das alles?“

Damit die 98,9 Prozent Wahlbeteiligung und der davon so gut wie 100-prozentige Wahlsieg der staatlichen Einheitspartei auch erreicht wurden, mussten auch hier einige, nicht wenige, zu diesem Ergebnis gezwungen werden, es herrschte schließlich gesetzliche Wahlpflicht. Nun war jeder Bauer und jede Bäuerin an die zeitweise Anwesenheit von Männern der Partei gewohnt. War es wieder einmal soweit, statteten diese Männer den Höfen regelmäßig Besuche ab, um weiterhin Unterschriften unter die LPG-Beitrittsformulare zu erhaschen. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Überzeugungsarbeit zu leisten – vergeblich blieb es bei vielen, Immer mehr jedoch gaben nach. Die Stimmabgabe zur Wahl der Vertreter der Volkskammer war dagegen ein wirklich leichtes Spiel für die Uniformierten, denn bei Nichtteilnahme an den Wahlen wurden nicht Stimmzettel eingesammelt, sondern gleich die Bürger selbst. Dabei wäre es vollkommen ausreichend und letztendlich auch zeitsparend gewesen, wenn man den Stimmzettel einfach gleich mitgebracht und auf dem Küchentisch gelegt hätte; sollte es doch geheim zugehen mit dem Ankreuzen, hätte man sich ja nur mal kurz umdrehen und den Zettel dann einstecken können. Stimmabgabe erfolgreich durchgeführt! Ein kurzer Blick auf den ausgefüllten Zettel, ob das Kreuz auch an der richtigen Stelle gemacht wurde („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! – auch das ganz im Sinne Lenins – so viel kann man da ja nicht falsch machen“) und man wäre verrichteter Dinge weitergezogen, hätte einen weiteren Querulanten zur Einsicht gebracht und irgendwann ein ganzes Dorf als erfolgreich bearbeitet abhaken können. Ein weiterer kleiner Etappensieg auf dem gemeinsamen Weg zum Paradies auf Erden. Wer bei solch einer Nachhilfe in Demokratie immer noch nicht verstehen wollte wie er abzustimmen hatte, fand sich schnell in einer Akte wieder, und für einen Rentner bedeutete eine Weigerung die Ablehnung eines eingereichten Visumsantrages, und das wiederum zog den Verzicht auf einen Besuch in Westdeutschland nach sich. Wer nicht hören will, muss fühlen – und muss ein Jahr Wartezeit inkauf nehmen, bis er seine Lieben wieder besuchen durfte.

Es war der Trecker, der den Jungbauern plötzlich an seinen Fluchtplänen zweifeln ließ. Immer wieder hat er alles durchgerechnet, um sich letztendlich eine funktionsfähige Zugmaschine zusammenbauen zu lassen, sogar selbst mit angepackt, damit es schneller ging – und kostengünstiger wurde. Zu einem Gefährt, welches den Betrieb des Vaters nach seinen Vorstellungen würde wachsen lassen. Veränderungen, Anschaffungen waren notwendig. Irgendwann würden alle Bauern in Maschinen investieren müssen, und wer es sich allein nicht würde leisten können, würde sich mit Nachbarn zusammentun und gemeinsam einen Maschinenpark anschaffen. Funktionsfähig wären diese Betriebe geworden, konkurrenzfähiger als die überdimensionierten und überall eine Nummer zu groß geratene LPG mit ihren riesigen Tierproduktionsanlagen und mit ihren Ackerflächen, die die Ergebnisse der Flurbereinigung in Westdeutschland bei weitem übertrafen. Gräben wurden zugeschüttet, um so den Traktoren und Maschinen der Genossenschaft erst die Möglichkeit zu geben, wirklich effektiv zu arbeiten – die ökologischen Folgen malte sich niemand aus, warum auch? Für den kommenden Fünfjahresplan reichten die Maßnahmen allemal aus, was wollte man mehr? Einen weiteren Fünfjahresplan, aber das hatte Zeit.

Auf einem Handkarren schaffte der Jungbauer Einzelteile des Deutz-Treckers auf den Hof, den sein Vater ihm inzwischen überschrieben hatte. „Schrott haben wir doch genug in der Scheune, was musst du da noch mehr davon ranschaffen?“ Ein Tüftler, mehr Bastler als Mechaniker, den der junge Bauer mit dem Zusammenbau seines Treckers beauftragte – ein stets düster dreinblickender Mann in einem Alter, in dem man schon an das Leben nach dem Erwerbsleben denkt – lebte allein von diesem Montieren landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge aus bereitgestellten, eher noch auf dem Schwarzmarkt in Westberlin zusammengekauften Einzelteilen. Denn es waren schließlich diese Nutzfahrzeuge, die ständig gebraucht wurden, für die stets Nachschub gefragt war, die aber auch reparaturanfällig waren, kurzum: er war immer beschäftigt, hatte einen krisensicheren Job, der ihn und seine Familie auch über das staatlich angedachte Rentnerdasein hinaus ein Zubrot garantierte. Solch eine Maschine zweiter Hand war für die meisten der Bauern die einzige finanzierbare Möglichkeit, an solch ein Gefährt zu kommen. Meist wurde eine Anzahlung akzeptiert, die restliche Summe dann in Raten an ihn abbezahlt. War ein Stück fertig, setzte er sich auch notfalls eine Nacht lang, zum Beispiel, auf einen Trecker, um zu verhindern, dass ein Bauer vielleicht mit einem noch nicht endgültig bezahlten Gefährt auf und davon fuhr. Gleich einer Glucke, die auf ihren Eiern hocken bleibt, damit sie ja niemand entwendet.

Er bot dem Bauern die Möglichkeit, ein Fahrzeug gleichzeitig zu erwerben und mit deren Hilfe die Finanzierung anzugehen – zehntausend Ostmark sollte dieser Trecker insgesamt kosten, und das war schon eine unvorstellbar große Summe, auch wenn es Ostmark waren. Er versorgte sich auf dem Gelände des MTS mit Treibstoff, erledigte Pflichttouren für die Genossenschaft, um danach den Rest an Benzin in eigene Kanister abzufüllen und für seine Fahrten aufzubrauchen – auch eine Form des Organisierens, viele beherrschten sie und es ging nicht ohne diese im Krieg und in der Kriegsgefangenenschaft erworbenen Fähigkeiten. Der Bürgermeister wird es mit seinem Moskwitsch nicht anders gemacht haben, auf jeden Fall mussten so viel persönliche Bemühungen und Verdienste für die Sache des Sozialismus sich irgendwie rechnen, also nahm man sich nur, was einem zustand. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Man befand sich auf dem richtigen Weg, nämlich in die sozialistische Zukunft, die immer mehr hervorleuchtete – wenn man denn genau hinsah. Und man musste schon genau hinsehen, um sie zu entdecken, die aufgehende Sonne, wie sie angeblich von weither strahlte – wenn sich nicht immer wieder Wolken davorgeschoben hätten. Solch eine Wolke wie die Inhaftierung des Maschinisten, der junge Bauern bei der Modernisierung ihrer Landwirtschaft half – und dies gerade war sein Fehler, ein großer politischer Fehler. Es war dies eine geradezu konterrevolutionäre Tat, weil gerade ein eigener Trecker einen Bauern davon abhielt, der LPG beizutreten – weil dieser Trecker ihnen ein Stück Selbstständigkeit bot. Es gab Funktionäre, die waren der Meinung, dass sechs Jahre Gefängnis eine angemessene Strafe für solch einen Mann war. Für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, bedeutete dies auch, dass der Treckernachschub für eine gewisse Zeit unterbrochen sein würde. So war es auch, ließ aber auch den einen oder anderen einen Fluchtplan schneller in die Tat umsetzen, sein Zögern aufzugeben.

Würde es auf der anderen Seite des Brandenburger Tores so ganz anders sein?

Ihm wurden die bis dahin zugeteilten Benzinrationen gestrichen – weil er sich immer noch hartnäckig weigerte, seine Unterschrift zum LPG-Beitritt zu leisten. Der Benzinnachschub für seinen Trecker, der seine Zukunft bedeutete, versiegte bald ganz; das bedeutete sein wirtschaftliches Aus. Alleiniges Beschränken auf die zwei Ackergäule, vielleicht auch noch dazugenommene Ochsen – er würde sich schnell auf dem Abstellgleis befinden. „Wir haben keine andere Möglichkeit. Wenn wir zu lange warten, kann es zu spät sein. Es könnte jeden Tag zu spät sein. Wenn jetzt so viele rübermachen, werden die Grenzen bald dicht gemacht, sollen wir etwa darauf warten?“

Es wirkte wie ein schleichendes Gift, wenn Kinder in der Schule aufgefordert wurden, ihre Eltern zu bespitzeln und sei es nur, darauf zu achten, ob bei ihnen zu Hause der Fernsehsender des Klassenfeindes eingeschaltet wurde. Vielleicht redete man sogar über Fluchtpläne? Als ob sie ahnten, dass es schon bald nicht mehr möglich sein würde, nur mit einem Personalausweis nach Westberlin zu fahren, nahmen die Pläne in kürzester Zeit konkrete Gestalt an.

Es war Sommer 1961, es war Juli, die Zeit der Sommerferien, Schule und Kindergarten hatten geschlossen. Wer konnte, schickte seine Kinder fort, zu Verwandten in die Stadt zum Beispiel. Die großen wurden in der Erntezeit gebraucht, die kleineren waren mit Spielen und Herumstreifen gut beschäftigt, sprich: sich selbst überlassen. Niemand würde es bemerken, wenn drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren während des Sommers nicht im Dorf waren. Im September, nach den großen Sommerferien, würde das neue Schuljahr beginnen. Ein günstiger Zeitpunkt für eine Flucht, wenn man Kinder im schulpflichtigen Alter hatte. Die älteste Tochter würde nach den Sommerferien in die dritte Klasse wechseln, die zweite Tochter in die zweite Klasse, die Kleinste war noch nicht eingeschult. Wenn jemand während der Sommerferien fort sein sollte – das wäre nichts Ungewöhnliches. So würde es am wenigsten die Aufmerksamkeit von denunzierenden Nachbarn auf sich lenken.

Kein Fluchtführer, kein Abenteuer-Reiseführer oder Survival-Ratgeber gar, mit Checkliste und Tipps für alle möglichen Situationen war ihnen behilflich, die nun folgenden Tage, Wochen und Monate zu überstehen. Folglich entschied man selbst, was einzupacken war – und was man vernünftigerweise gleich zurücklassen sollte, nämlich alles. Und weil nie jemand von ihnen jemals die Möglichkeit gehabt hat, dies fremde Land, in das sie einzureisen gedachten, während einer Urlaubsreise im Vorfeld zu erkunden, blieb auch diesbezüglich alles, was in der Zukunft lag, offen.

Die junge Bäuerin, nicht unbedingt geübt im Gespräch mit Grenzpolizisten aus der Großstadt, malte sich die schlimmsten Situationen aus, denn nur so meinte sie, den Druck aushalten zu können. „Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte! Was ist der Grund ihrer Reise nach Westberlin?“„Haben Sie nicht erlaubte Gegenstände in ihrem Gepäck? Führen Sie etwa Schmuggelware mit sich? Haben Sie vor, unsere DDR für immer zu verlassen? Wenn ja, warum? Warum gefällt es Ihnen bei uns nicht mehr? Was müsste passieren, damit Sie sich bei uns wieder wohl fühlen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Leeren Sie doch bitte einmal Ihre Taschen. Kommen Sie doch bitte mal mit.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sie sich die Frage stellen, ob sie denn nicht zu weit gegangen sind, auch noch in die falsche, weil unsichere Richtung – aber niemand forderte sie auf, mitzukommen, sie durfte ihre Fahrt fortsetzen. Der Grenzpolizist schien geradezu froh zu sein, dass er sich nun endlich dem Rest des S-Bahnwagens widmen konnte. Und was ging ihn eine Frau mit drei kleinen Kindern weiter an? Mit Kindern in der S-Bahn unterwegs nach Westberlin, das schien niemanden zu interessieren, ein Glück. Ihr Mann sollte, so war es abgesprochen, in ein, zwei Tagen nachkommen – eine komplett auftretende Familie, auch eine Familie ohne Gepäck, könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen. Und erneut glaubte sie, angestarrt, gemustert zu werden. „Wollen Sie den Zoologischen Garten besuchen?“ „Möchten Sie in den Geschäften Westberlins einkaufen?“ „Haben Sie Eintrittskarten für das Sechs-Tage-Rennen? Was, mit den kleinen Kindern wollen Sie solche Strapazen auf sich nehmen?“

Ja, was hatte sie eigentlich mit ihren Kindern vor? Den Schwarzmarkt aufsuchen? Sie misstraute sich selbst, meinte, ihr Herzklopfen müsste unweigerlich Alarm auslösen und sämtliche in der S-Bahn patroullierende Uniformierte zusammentrommeln. Und doch war es eine weitaus unbedeutendere Frage, die sie dazu veranlasste, ihr ängstlichstes Gesicht aufzusetzen. Ob sie vorhabe, länger als einen Tag in Westberlin zu bleiben – sagte denn das nicht vorhandene Gepäck, dass sie eben genau dieses nicht plante? Jede Situation schien durchgespielt, keine noch so alltägliche Frage sollte sie überraschen – und doch wurde sie von einer so gewöhnlichen Anrede des Grenzpolizisten aufgeschreckt, dass es beinahe egal zu sein schien, was sie nun antworten würde, es wäre eh das Falsche gewesen. Ein Versinken im Erdboden war nicht möglich, irgendetwas hinderte sie daran, und Hilfe von sonstwoher schien ausgeschlossen. „Nur bis heute abend, wir bleiben nur bis heute abend, heute abend wollen wir wieder zurück. Bevor es dunkel wird, wollen wir wieder zurück sein und darum haben wir ja auch kein Gepäck dabei. Sehen Sie?“ Nach dem Erbleichen zeigte sich Röte in ihrem Gesicht, was der Grenzsoldat, immer noch mit dem Personalausweis beschäftigt, nicht wahrzunehmen schien. Er schien auch nicht zu bemerken, dass sie beinahe schweißgebadet war. Eine hübsche junge Frau war für ihn keines weiteren Blickes würdig, was sie mit größter Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Nicht einmal fünf Minuten waren vergangen, und ihr mehr als vorsichtiges Passieren der Sektorengrenze hätte die Zukunftspläne zum Platzen bringen können wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon – oder bildete sie sich diese Unsicherheit, die sie auszustrahlen meinte, nur ein? Wenn diese Situation anders ausgegangen wäre? Ein Zurück würde es nicht geben, also würde man aus der Situation das beste machen müssen. Vielleicht würde es ja nicht ganz so schlimm werden; wenn man nun würde abgeführt werden, gab es nichts zu verbergen. Was hätte man als Tagestourist zu verbergen gehabt? „Bittesehr.“

„Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise mit der S-Bahn der Deutschen Demokratischen Republik und entschuldigen uns für den schlechten Zustand des Schienennetzes und der Bahnhöfe sowie der Züge. Seien Sie dankbar, dass es überhaupt noch eine S-Bahn gibt in Berlin, und das nicht nur bei uns in der Hauptstadt der DDR, sondern auch im Westen. Soviel Großzügigkeit können wir an den Tag legen, wenn wir nur wollen. Man muss uns nur wollen lassen.“

„Meine Puppe.“ „Wir werden eine neue Puppe kaufen.“

Der kalte Krieg tobte.

Solange die Grenzen noch nicht vollkommen geschlossen und damit so gut wie unüberwindbar waren, verließen die Republikflüchtlinge ihre Heimat über das ausgedehnte Sammellager in Berlin-Marienfelde, wo Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder jeden Alters in riesigen Schlafsälen auf Metallpritschen schliefen, sich mit kratzigen Wolldecken, die sie Tag für Tag auf Neue nach stundenlagem Anstehen gegen die Vorlage von provisorischen Ausweisen entgegennahmen – sicher hatte die Bezeichnung ‘kalter Krieg’ in diesen Übergangslagern ihren Ursprung – über den Flughafen Tempelhof in den goldenen Westen. Eigentlich ging es dort zu wie in einer Halle eines großen Flughafens, der sich um die Passagiere verspäteter oder ausgefallener Flüge zu kümmern hatte. Drunter und drüber ging es, Kinder weinten. Die Menschenansammlung unterschied sich von einer Gruppe Urlauber nur dadurch, dass sich im Lager kaum Spielzeug in den Händen der Kleinen befand, kein Haustier war zu sehen, und das Gepäck fehlte gänzlich, was den Vorteil hatte, dass auch niemand auf seine Koffer aufpassen musste – mit einem Stück Freiheit mehr hatte es jedoch gar nichts zu tun.

Ein Leben im goldenen Westen würde sie für die Zeit in den Lagern entschädigen. Sie würden eine Familie sein wie die anderen auch, würden sich irgendwann eingelebt und sich ein neues Zuhause aufgebaut haben, auch wenn es nicht jeden Tag Schokolade geben würde. Sie träumten von der Schokolade des Westens, Cadbury. Aber vorerst gab es überhaupt keine Schokolade, stattdessen wurden Bonbons verteilt, damit wenigstens die Kinder ihren Appetit auf Süßes stillen konnten. Damit die Kinder wenigstens still waren.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Zur Freiheit des Schokoladeessens-so-viel-man-wollte und die der Petticoats aus gestärktem Tüll. Der Freiheit von Apfelsinen, die nicht unbedingt aus Kuba stammen müssen.

Sie landeten sehr, sehr hart.

Enteignung von Haus und Hof in der verlassenen Heimat war schon fast eine Relexhandlung der Parteioberen im Rat der Gemeinde. Ein komplettes Schlafzimmer, seinerzeit ein Geschenk der Eltern zur Hochzeit des jungen Paares, sollte nicht in fremde Hände gelangen – sie wollten es für sich, in ihre Schlafkammer stellen, konnten es gut gebrauchen und mussten es – kaufen. Kaufen, von der Gemeinde. Sie bezahlten noch einmal für dieses Doppelbett samt Nachtschränkchen – befanden sich in den Schubladen nicht meist die persönlichsten Dinge derer, die in den Betten solch eines Schlafzimmers schliefen, was war mit all diesen Gegenständen geschehen? – für den geräumigen mehrtürigen Kleinderschrank, an deren Türen einst die frisch gestärkten Petticoats hingen und für eine Kommode samt dreiteiligen Spiegel, von der die junge Frau einst die Flasche Kölnisch Wasser genommen und in ihre kunstlederne Handtasche gelegt hatte.

Das wird alles seinen Sinn gehabt haben, denn der sozialistischen Logik solcher Aktionen wie Enteignung kann man sich nun doch nicht entziehen. Was hätte man denn sonst tun sollen seitens der Herrschenden als einem Rentnerpaar ein paar Möbel erneut zum Erwerb anzubieten? So viell Großzügigkeit war kaum zu überbieten. Es blieben schließlich noch genug zu tun für die, die aufräumen wollten. Die übrigen Möbel, das Geschirr, der gesamte Hausrat einer fünfköpfigen Familie war zu konfiszieren und zu entsorgen – oder mit einem kleinen Gewinn für die Gemeindekasse oder sonstwen weiterzureichen. Und mit weniger als hundert Mark Rente ließ sich für ein Rentnerpaar doch wohl ein gebrauchtes Schlafzimmer abzahlen. Außerdem haben alte Leute gewohnheitsmäßig immer ein paar Geldscheine in der Zuckerdose deponiert, und schließlich ließ man ihnen ja auch ein paar Hühner und eine Kuh, ohne sie dafür auch noch einmal zur Kasse zu bitten. Man ließ ihnen eine Kuh, man ließ ihnen ein paar Hühner, die ihnen sowieso gehörten. Auch das zeugte von Großzügigkeit.

Ihr Leben lang hatten die alten Menschen auf diesem Hof gelebt und gearbeitet, dafür behielten sie dort nun lebenslanges Wohnrecht in ihrem Teil des Wohnhauses, nachdem die andere, etwas größere Hälfte samt Dachboden vermietet wurde. Es wurden zwar keine Grenzlinien gezogen – aber für dieses Rentnerpaar wurde es Zeit, sich von ihrem gewohnten Lebensumfeld zu verabschieden.

Für ihre treuen Genossen sorgte die Gemeinde – sie bot ihnen wenige Jahre später dieses Wohnhaus für wenige tausend Mark zum Kauf an, ein Trabant kostete mehr als das Doppelte, was sie für ein Haus samt Nebengebäuden zu entrichten hatten. Grund und Boden, auf dem das Ganze stand? Tausend Quadratmeter überließ man ihnen kostenlos – erst die Treuhand verlangte später einen symbolischen Preis von fünfzig Pfennig dafür. Schließlich handelte es sich um Eigentum von ehemaligen Republikflüchtlingen, und man wickelte eigentlich nur diese Angelegenheit endgültig ab. Hatte nicht ein Hans Modrow sich umgehend nach dem Mauerfall dafür eingesetzt, dass „DDR-Bürger nicht ohne Eigentum“ in die Wiedervereinigung gehen sollten? Die Bundesrepublik – Erfüllungsgehilfe von DDR-Gesetzen? Man wickelte die Gesichichte ab. Versorgungsmentalität. Vertreter der Staatssicherheit fuhren in Moskwitsch- oder Wartburg-Limousinen durch die umliegenden Dörfer und statteten Freunden und Verwandten Besuche ab. Ausweispapiere wurden teilweise eingezogen – Fluchtgefahr. Ansteckungsgefahr. Man dachte gar daran, Kammerjäger zu schicken, um die betreffenden Höfe zu desinfizieren.

Die Gemeindeschwester, eine alte Frau in wallender Ordenstracht, die sich nur noch mit Hilfe ihres Gehstocks fortbewegen konnte, stand am Rand der Dorfstraße und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. „Das ist erst der Anfang, es werden noch viel mehr gehen.“ Niemand nahm ihr Geschwätz ernst.

Gleich der Durchtrennung der wichtigen Ader eines Lebewesens wurde ein Schnitt gemacht an diesem besagten Sonntag im August, und zwar mitten durch einen einst pulsierenden Körper. Die Nahtstellen waren bereits seit geraumer Zeit verödet, wenn nicht schon längst abgestorben, nun wurden die letzten offenen Verbindungen endgültig gekappt und zuletzt auch noch erneut vernäht. Die Knoten wurden fest gezurrt, denn diese Nähte sollten ja für mehr als einhundert Jahre halten. Was blieb, waren Stellen, die nach Bedarf und natürlich nur von einer Seite gleich einer Klappe geöffnet und jederzeit wieder geschlossen werden konnten. Für Katzen und für Mäuse. Und für Menschen. Und diese Mauer wurde so schnell, so plötzlich und unverhofft hochgezogen, dass die Menschen wie gelähmt waren und sich die Augen rieben. Was sie dann zu sehen bekamen, ließ sie erstarren. Und weder die Diplomatie des Westens noch deren Armeen griffen hier helfend ein. Alle schienen sie die Hände in den Schoß zu legen.

Manche warteten zu lange, manche waren schnell genug, gerade so, als ob sie geahnt hätten, was sich da anbahnte – es lag etwas in der Luft. Es wurde zusehends schwieriger, diesen Schutzwall zu durchbrechen, es wurde irgendwann gänzlich unmöglich. Aber selbst das hielt einige wenige nicht davon ab, denn ab hier gab es Hilfe für die Flucht in den Westteil der Stadt nur noch über abenteuerliche Wege, die kein Spionageroman spannender hätte schildern können. Und was wäre James Bond ohne den kalten Krieg? Kein ‘Top Secret’ wäre ohne die perfektionierten Grenzkontrollen entstanden.

Vom Bau der Mauer mitten durch Berlin erfuhren die Flüchtlinge, als sie im Westen angekommen waren, der Rückweg war damit versperrt. Und eine Ewigkeit sollte der Schutzwall stehen – er fiel nach vierzig Jahren in sich zusammen. Nein, natürlich nicht, die Menschen halfen etwas nach. Vor allem die Menschen, für die diese Mauer das Paradies beschützen sollte. Sie rissen sie ein, ohne die Machthabenden um Erlaubnis zu fragen – und sie arrangierten sich schnell mit dem neuen Gesellschaftssystem. Sie verstanden es, vorhandene und auch nicht durch den Mauerfall mit fallende Verbindungen zu nutzen. Der, der es zu DDR-Zeiten vorzug, seinen eigenen Weg zu gehen, verpasste die Strömung, die es den anderen, den angepassten, erlaubte, im Fahrwasser weiter zu schwimmen. Kein Baron mit Grund- und Boden, der die Hälfte des Dorfes ausmachte, ließ sie mehr für sich arbeiten. Dafür gehört ein Großteil des Dorfes heute denen, die rechtzeitig das entsprechende Kapital vorweisen konnte – ihren Einfluss in der Gemeinde klug nutzend. Niemand muss zwar für sie arbeiten, aber sie können weit mehr ihr eigen nennen als sie wirklich zum Leben brauchen. Sozialismus? „Den haben wir niemals gewollt, aber wir haben uns arrangiert, und das nicht schlecht.“

Es wohnt jetzt jemand anderes in dem Haus, das einmal unser Zuhause war. Der Vater klopfte einst an, fragte, ob er sich in einem Winkel des großen Hofes ein kleines Haus bauen dürfe. Fürs Alter. Er wolle keine Fremden auf seinem Grund und Boden, so der neue Eigentümer. Ein Hof, der groß genug für zwei Familien ist, und den er fast geschenkt bekam.


© Heidrun Schuppan
 



 
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