Pani Lore

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
„Pani Lore!!!“
Die befehlsgewohnte Stimme von Major Dzikowski dröhnte durch die Villa. Sie drang bis hinunter in den Keller und machte Lore auf den Umstand aufmerksam, dass das Schießen abgeflaut war. Lauschend hob sie den Kopf. Aus der Richtung, in der die so hartnäckig verteidigte Brücke lag, vernahm sie nur noch vereinzeltes Gewehrfeuer. Die Kanonen schwiegen.
Doch sie wusste: Es würde gleich wieder losgehen. Es hatte in den vergangenen drei Tagen mehrmals derartige Verschnaufpausen gegeben, wo sie annahm, ihre gespannten Haltung aufgeben und durchatmen zu dürfen. Aber solche Unterbrechungen waren stets von kurzer Dauer geblieben.
Das Ungeheuer, das den Namen „Krieg“ trug, hielt nicht nur dieses Dorf, sondern die ganze Umgebung in seinen Krallen. Nie hatte es lange gebraucht, neue Kräfte zu sammeln, um danach mit unverminderter Wucht über das Land und seine Bewohner herzufallen. An drei Tagen und Nächten hatte Lore seinen todbringenden Atem bereits verspürt. Wann würde das aufhören?
So oft es ging, versuchte sie sich in ihrem Verschlag zu verkriechen, den eine morsche Bretterwand vom Rest des Kellers trennte. Zwischen all den Gerätschaften, die niemand mehr benötigte, hatte sie sich etwas Platz geschaffen, um auf dem mit rohen Ziegeln gepflasterten Fußboden einen dürftig gefüllten Strohsack ausbreiten zu können. In einem Regal standen die wenigen Habseligkeiten, die sie in Sicherheit zu bringen vermocht hatte.
„Lore!!!“
Von außen wurde ungeduldig gegen die Bretterwand gedroschen. Sie erkannte Anteks Stimme und gönnte sich einen Seufzer, bevor sie sich aufrichtete. Sie hob die Beine, um mit dem nötigen Schwung von ihrem Strohsack hochzukommen, da wurde die Tür brutal aufgerissen.
„Lore! Du kommen – Major Dzikowsk! Er …!“
Anteks Jungengesicht, auf dem sich soeben noch die Bedeutung des vom Bataillonschef persönlich erteilten Befehls widerspiegelte, veränderte sich schlagartig. Der geöffnete Mund blieb in seiner Position, aber statt weiterer Worte drang nur ein gedämpftes Röcheln zwischen den blassen Lippen hervor. Lore sah seinen gläsern gewordenen Blick auf einen Punkt gerichtet, der etwa in Höhe ihrer Schenkel liegen mochte. Sie wusste nicht genau, was er sah und beeilte sich beim Aufstehen. Schon nahmen die Pupillen des Jungen eine leichte Trübung an, die sie nur zu gut kannte. Auch der Hausherr, Christof Wernicke, seines Zeichens Rauchwarenhändler zu Leipzig, bekam diesen Blick viel zu häufig. Bei dem, sich so bieder gebenden Familienvater wurde dieses Stieren allerdings nicht von jungenhafter Neugier, sondern von wissender Geilheit ausgelöst. Und Lore durchschaute sofort, dass sie wieder mal „fällig“ war. Sie hatte lange gebraucht, um sich mit dem Umstand abzufinden, dass es zu den normalen Aufgaben eines Dienstmädchens im Hause dieses reichen Kaufmannes gehörte, gleichwohl den fleischlichen Gelüsten des Hausherren zu genügen. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden und Techniken entwickelt, die den übergewichtigen, kurzatmigen Wernicke rasch ans Ziel brachten und ihn nach kurzer Ekstase wie einen vollgesogenen Blutegel von ihr abfallen ließen. Sie schüttelte sich danach wie ein frisch getretenes Huhn, ehe sie wortlos ihre Hausarbeit wieder aufnahm.
„Major haben Gäste! Du machen Tee!“, stieß Antek hervor, während Lore ihren dicken Blondzopf nach hinten warf und mit ein paar Handstrichen ihre Kleidung zu richten suchte.
Sie trat einen Schritt auf den Jungen zu und blickte ihm ins Gesicht. Der Rest einer Verlegenheitsröte lag noch auf seinen Wangen.
‚Gerade mal sechzehn Jahre alt und schon Soldat’, dachte sie.
Er hatte ihr unlängst voller Stolz erzählt, den französischen Einmarsch in Russland als Trommler mitgemacht zu haben. Ein Säbelhieb auf den linken Unterarm hätte ihm bei Borodino das Leben kosten können. Zum Glück ging die Schlacht siegreich aus. Antek konnte rechtzeitig ein Feldlazarett eingeliefert werden. Später, als die Grand Armee längst Moskau eingenommen hatte, brachte man ihn in die Heimat zurück. Der verheerende Rückzug blieb ihm somit erspart. Eine schlecht verheilte Sehne schränkte die Beweglichkeit seines Handgelenkes ein. So avancierte er im Frühjahr bei der Neuaufstellung des Korps Poniatowski zum Burschen von Major Dzikowski. Diese Rolle gefiel ihm. Sein Bemühen, dem Artillerie-Kommandeur jeden Wunsch zu erfüllen, bevor dieser ihn überhaupt ausgesprochen hatte, besaß etwas Rührendes.
„Ich komme“, sagte Lore müde und ruckelte an ihrem Brusttuch.
„Pani Lore – bitte – neu!“
Diesmal war es der Eifer, der eine neue Rotwelle über sein Antlitz strömen ließ. Er strich sich mehrfach über den Bauch und zeigte dann auf den ihren.
„Neu!“, wiederholte er.
Lore schaute an sich herunter und nickte. Ihre einstmals weiße Schürze wies zahlreiche Blutflecke auf. Sie hatte am Nachmittag dem Feldscher beim Verbinden geholfen. Vier junge Artellenristen – höchstens einer von ihnen mochte eine Überlebenschance besitzen. Später verteilte man die notdürftig Versorgten auf leere Munitionswagen, die zurück nach Leipzig gingen, um neue Granaten zu holen – falls es überhaupt noch welche gab
Lore griff in das Regal und fand tatsächlich eine saubere Schürze – die Letzte. Während sie die alte ablegte und die neue umband, trat Antek ungeduldig von einem Bein auf das andere.
„Schnell!“
Lore lächelte. Längst war sie gewöhnt, von Antek, dem alles zu langsam ging, angetrieben zu werden. Aber er wurde nie barsch oder gar unflätig. Sie fühlte, dass er Respekt vor ihr besaß.
„Komm!“
Antek hastete die Kellertreppe empor. Während sie ihm nacheilte, vergaß sie ihre Röcke weit genug zu raffen, und da passierte es. Sie trat auf den Saum, strauchelte und fiel, mit einem Aufschrei die letzten Stufen überfliegend, in den Korridor. Sie rutschte ein Stück über den von unzähligen Stiefeln verdreckten Fußboden und dachte nur: ‘Die schöne saubere Schürze!’
Schon war Antek neben ihr, um ihr aufzuhelfen. Als er sie ungeschickt unter den Armen packte und an ihrem Oberkörper zog, schwappte eine ihrer Brüste aus dem verrutschten Mieder. Die Arme des Jünglings erschlafften schlagartig. Um ein Haar hätte er sie losgelassen. Doch Lore gelang es, auch ohne seine Hilfe, auf die Beine zu kommen. Beim Aufrichten verstaute sie hastig ihre Brust dort, wo sie hingehörte. Dabei spürte sie, wie ihr Gesicht brannte. Neben Scham musste wohl auch ein Quäntchen Wut mit im Spiel gewesen sein. Wut auf Antek, der erneut diesen Schleierblick bekam.
„Jetzt fang bloß nicht an zu sabbern“, zischte sie aufgebracht und funkelte mit ihren auffallend großen Blauaugen.
Antek versuchte ein entschuldigendes Lächeln, zuckte aber gleichzeitig mit den Achseln, als Zeichen, dass er nicht verstanden hatte.
„Du sollst endlich aufhören, mich …!“
Weiter kam Lore nicht, denn soeben wurde eine der vom Flur abgehenden Türen aufgerissen, und auf der Schwelle erschien der kleine krummbeinige Major.
„Was stehen umher?! Durchlaucht haben eilig! Lore! Küche! Marsch!“
Der Bataillonskommandeur schien nervös zu sein, denn er befingerte unablässig die Enden seines über die Mundwinkel hängenden Schnurrbartes.
„Lore gestürzt!“, erklärte Antek hastig und nahm Haltung an.
„Alles guttt?“ Der Offizier musterte die junge Frau aus wässrigen Augen.
„Mir ist nichts passiert“, sagte Lore hastig und deutete einen Knicks an. Dann huschte sie an dem Mann vorbei und verschwand in der Küche.

Wenige Minuten später klopfte sie an die Tür zu Wernickes Bibliothek, die jetzt Dzikowski als Befehlsstand diente. Ein schmetterndes „Herein“ gestatte ihr den Eintritt. Im Raum befanden sich drei Personen. Und nur einer sprach: Major Dzikowski. Er stürmte mit hinter dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab, blieb abrupt stehen, schleuderte ein paar Satzfetzen in den Raum, um gleich darauf seine Wanderung fortzusetzen. Er sprach ein Gemisch aus Französisch und Polnisch, sodass Lore nicht alles verstand.
Am Schreibtisch saß, lässig zurück gelehnt, ein junger Mann in der Uniform eines Gardehauptmanns. Lediglich die Art, wie er an seiner kurzen Tonpfeife sog, verriet etwas von seiner Nervosität. Der Dritte hockte in einem Sessel, die Ellenbogen auf die Lehnen gestützt, den grau-schwarzen Lockenkopf in die Hände vergraben. Lores erster Blick fiel auf die prächtigen Epauletten, welche die breiten Schultern des hohen Gastes zierten. Dieser stattliche Mann mit dem ernsten Gesicht – das war also der berühmte Fürst Poniatowski, seit gestern sogar Marschall von Frankreich. Während sie überlegte, ob sie auf ihn zugehen und einen tiefen Knicks machen sollte, hielt Dzikowski inne. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er die Frau an.
„Hinstellen!“, bellte er.
Dann durchmaß er mit seinen verdreckten Stiefeln erneut das Zimmer. Lore dachte daran, dass man später, wenn dieser Albtraum vorbei sein würde, das Parkett nur noch herausreißen könnte.
Wenn erst alles vorbei wäre … nichts wünschte sie sich mehr.
Während sie zögernd zum Tisch ging, vernahm sie abermals Dzikowskis wütendes Schimpfen. Sie hörte Worte heraus, wie: „Tapferkeit, Hunger, keine Munition, drei Tage tapfer durchgehalten, viele Tode … darf nicht umsonst sein. Und ständig wiederholte er die Worte: „Retraite! Jamais! Rückzug! Niemals!“
Lore stellte die Tassen behutsam auf den Tisch und goss den Tee ein. Sogar etwas Zucker hatte sie gefunden. Der Gardehauptmann musterte sie dabei mit den Augen eines Pferdehändlers, lächelte blasiert und nickte unmerklich.
„Prüfung bestanden“, hieß das wohl.
Jetzt hob der Fürst den Kopf, blinzelte aus müden Augen zu Lore hoch und murmelte in fast akzentlosem Deutsch: „Danke, mein Fräulein.“
Er rührte ein wenig im Tee, ehe er vorsichtig einen Schluck aus der zarten Porzellan-Tasse nahm. Dabei straffte sich seine Gestalt. Ein scharfer Blick traf Dzikowski. Und dann mit schneidender Stimme: „Détendez-vous! Ils marchent à Leipzig! Dans une heure! Voilà un ordre!“
Der kleine Major zuckte zusammen, nahm sofort Haltung an.
„A vos ordres, mon seigneur!“
Lore spürte Erleichterung in sich aufkommen. Marschall Poniatowskis Befehl schien unmissverständlich. In spätestens einer Stunde würden die Polen aus dieser Villa verschwunden sein. Sie empfand keinen Hass gegen diese ausgezehrten Soldaten, aber ihr Abzug würde Frieden einkehren lassen. Sie könnte den Siegern entgegen eilen und ihnen danken.
‚Ich werde alles zusammensuchen, was im Haus noch an Essbarem aufzutreiben ist‘, dachte sie. ‚Auch die Soldaten der Verbündeten dürften hungrig sein – und müde.‘
Während sie sich zum Gehen wandte, hörte sie, wie Dzikowski fragte, wer denn den Rückzug seiner Batterie und derer an den Lößnitzer Teichen decken würde.
„Die bergischen Lanciers.“
„Auch das noch!“ Dzikowski riss verzweifelt am Schnurrbart. „Ausgerechnet Deutsche! Wo die doch schon seit Stunden reihenweise zum Feind überlaufen.“
„Die Lanciers sind zuverlässig“, schnitt ihm der junge Gardeoffizier das Wort ab.
Lore drückte die Klinke und stahl sich hinaus.
An der Pleißebrücke donnerten wieder die Kanonen.
„Bald – bald hat das ein Ende“, flüsterte sie und ließ sich in der Küche auf einen Stuhl fallen. Ihr Blick fiel durch die offene Tür auf den Flur.
Sie sah, wie Fürst Poniatowski mit seinem Begleiter die Bibliothek verließ und zum Ausgang eilte. Wenig später vernahm sie das Klappern von Hufen, das aber rasch vom Lärm des Kampfgetümmels verschlungen wurde.
„Antek! Wo steckst du?!“, hörte sie jetzt den Major brüllen.
Als der Junge angeflitzt kam, wurde er mit Anordnungen zugedeckt. Schließlich rannte er nach draußen, und keine zehn Minuten später betraten zwei junge Leutnants das Haus, salutierten vor ihrem Abteilungschef und nahmen dessen Befehle entgegen. Rückzug! In den vom Pulverdampf schwarz-grau gefärbten Gesichtern zuckte es. Einer wischte sich verstohlen über die entzündeten Augen.
Die Offiziere waren kaum abgefertigt, da trampelten etliche Soldaten in die Diele und gaben dem noblen Parkett den Rest. Es hatte in den vergangenen Tagen fast ununterbrochen geregnet, und so waren sowohl das Schuhwerk als auch die Uniformen über und über mit lehmigem Schlamm besudelt.
Dzikowski ließ die Kämpfer gar nicht erst in sein Zimmer, sondern fertigte sie im Türrahmen stehend ab. Seine Befehle unterstrich er mit fahrigen Gesten.
Obwohl Lore nichts verstand, gewann sie den Eindruck, dass der drahtige Pole mit seinem hektischen Gebaren vor allem seine Verzweiflung über den befohlenen Rückzug zu kaschieren suchte.

Lore fühlte: Sie erlebte gerade den letzten Akt einer gewaltigen Tragödie, zu deren hunderttausenden Komparsen auch sie gehörte. Aber ihre winzige Rolle schien fast zu Ende gespielt.
Durch das scheibenlose Küchenfenster konnte sie auf die Dorfstraße blicken, die, nur durch den Vorgarten vom Haus getrennt, keine zwanzig Meter entfernt verlief. Sie schaute auf einen endlosen Zug sich dahin schleppender Soldaten. Ausgemergelte, hohläugige Gestalten in zerfetzten, schmutzstarrenden Uniformresten. Die meisten ohne richtige Schuhe, viele mit blutigen Verbänden bedeckt. Eine gespenstische Schar von jungen Greisen.
Sie kamen aus den weiter südlich gelegenen Dörfern und strebten nun der Stadt zu. Kaum einer der Vorüberziehenden fühlte sich in der Lage, seine Erschöpfung hinter einem forschen Schritt zu verbergen. Hungrig und frierend schlurfte das Gros über das holprige Pflaster. Viele erweckten den Eindruck, als würden sie jeden Moment unter der Last ihrer Gewehre und der unbequemen Tornister zusammenbrechen. Rechts neben sich hatten sie die noblen Sommervillen der betuchten Leipziger Kaufmannschaft mit ihren von zierlichen Zäunen umgrenzten Vorgärten. Links der Straße den Pleiße-Mühlgraben, der nach den ergiebigen Regenfällen zu einem reißendes Gewässer angeschwollen war. Das gegenüberliegende Ufer fand man dicht bewaldet. Nicht ohne Grund gingen die Blicke der Soldaten misstrauisch dorthin. Immer häufiger sah man helle Uniformen zwischen den Bäumen umher huschen. Dann fielen die ersten Schüsse. Lore sah mehrere Polen unvermittelt im Schritt verharren, ehe sie langsam zu Boden sanken. Keiner von ihnen schrie. Es sah beinahe so aus, als wären sie dankbar, sich endlich Ruhe gönnen zu dürfen. Niemand erwiderte das Feuer der österreichischen Plänkler, die sich im Wald relativ sicher wähnen durften. Vielleicht fehlte es auch an Munition oder an Kraft – wahrscheinlich an beidem. Man beschleunigte lediglich den Schritt, um rascher aus der Gefahrenzone heraus zu kommen. Weiter vorn donnerten Dzikowskis Kanonen, die immer noch erfolgreich die Brücke gegen einen in Massen herbei eilenden Feind verteidigten. Im Rücken der Batterie wusste man sich geschützt. Man beeilte sich, diesen Punkt zu erreichen, um von dort aus unbehelligt in Richtung Leipzig zu ziehen.
Der aus der Dämmerung heranwälzende Strom wollte nicht abreißen, und so gerieten ständig neue Ziele vor die Läufe der österreichischen Gewehre.
Plötzlich der gleichmäßige Takt von Trommeln. Die Kolonne, die jetzt die Straße herauf kam, marschierte in geschlossener Formation. Ein Bataillon der „Alten Garde“! Lore erkannte die Elitesoldaten an ihren hohen Bärenfell-Mützen. Als sie auf Höhe der Heckenschützen ankamen, erklangen Befehle. Schon formierte sich die Einheit dich an der Böschungsoberkante zu einer Linie zu zwei Gliedern. Ruhig und der Getroffenen nicht achtend, brachten sie ihre Gewehre in Anschlag. Den ersten beiden Salven folgte ein rollendes Feuer. Obwohl die meisten Kugeln wohl in den Bäumen stecken blieben, schien der Beschuss beim Feind Eindruck zu hinterlassen.
Die Österreicher feuerten noch rasch ihre Flinten ab, ehe sie sich tiefer in den Wald zurückzogen. Eine verirrte Kugel klatschte nicht weit vom Küchenfenster an die Mauer der Villa. Instinktiv zog Lore den Kopf ein und wich vom Fenster zurück.
Achtlos rührte sie in dem Topf mit den Resten der lauwarm gewordenen Pferdefleisch-Suppe, aber sie ahnte, dass niemand mehr danach verlangen würde. Sie ließ den großen Holzlöffel fahren, ging zur Tür und blieb an den Rahmen gelehnt stehen.
Die im Haus verbliebenen Polen rückten ab. Während Dzikowski, den Abzug seines Stabes überwachend, durch die Räume hastete, wurde auf dem Hof das Gepäck auf Karren geladen. Lore starrte auf den Flur, sah die Soldaten aus dem Gebäude hetzen, vernahm ihre Rufe, aber es schien, als hätte sich zwischen ihr und dem Geschehen ein schützender Nebel gelegt. Eine tiefe Ruhe überkam sie. So verharrte sie geraume Zeit. Erst als ihr bewusst wurde, allein in der großen Villa zu sein, verflüchtigte sich der Schleier und ließ neue Ängste zu ihr vordringen.
Der Lärm im Haus hatte aufgehört, aber draußen tobte nach wie vor dieses Menschen verschlingende Ungeheuer. Nein – es war noch nicht vorbei.
Sie löste sich vom Türrahmen, lief zum Eingangsportal, verriegelte das Schloss und hob den schweren Sicherungsbalken, den Wernicke erst vor einigen Tagen hatte installieren lassen, in die dafür vorgesehenen Aussparungen im Mauerwerk.
Und nun?
Lore wusste, dass sie nichts weiter tun konnte, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sie beschloss, ihr Versteck im Keller aufzusuchen, um dort auf das zu warten, was auf sie zukommen würde. Das Einzige, womit sie die verbleibende Zeit auszufüllen trachtete, war, Trost und Zuversicht aus Gebeten zu schöpfen. Der Wunsch, in ihrem Schlupfwinkel Gott darum zu bitten, er möge sie unbeschadet aus der Misere retten, wurde so übermächtig, dass sie mit immer größer werdender Hast die Stufen der Kellertreppe nahm.
Das Licht ihrer Kardanlampe erhellte das muffige Gewölbe nur schwach und zauberte bewegte Schatten auf die Wände, von denen Bedrohliches auszugehen schien. Lore atmete auf, als sie den vertrauten Verschlag betrat. Sie stellte die Lampe ab und bückte sich hinunter zum Strohsack, um ihn aufzuschütteln. Just in diesem Moment nahm sie eine Bewegung in ihrem Rücken wahr. Mit einem Angstschrei fuhr sie hoch und drehte sich um.
„Antek!“
In ihren Ruf mischten sich Erleichterung und Erstaunen. Aber als sie seinen Namen zum zweiten Mal rief, schlich sich Argwohn in ihre Stimme.
„Was in Gottes Namen tust du hier? Warum bist du nicht bei deinen Kameraden?“
Auf dem Gesicht des Jünglings lag ein verlegenes Lächeln.
„Ich wollen sagen – adieu.“
Noch ehe sie reagieren konnte, trat er an sie heran, schlug beide Arme um ihren Oberkörper und ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken.
„Lore! Lore, ich sterben …“ Der Rest wurde von einem Schluchzen erstickt.
Sie wusste, dass der Junge viel mehr Grund hatte, verzweifelt zu sein, als sie. Sie konnte hier unten auf die Sieger warten und auf eine respektvolle Behandlung vertrauen. Er musste jetzt hinaus in diese Hölle. Ihre eigenen Ängste verblassten vor dem Mitleid, das sie überkam.
„Leb wohl, Antek“, flüsterte sie.
Sanft streichelte sie seinen Rücken und spürte dabei, wie sich der Junge noch dichter an sie drängte. Sein Atem, der ihr über den Nacken strich, wurde plötzlich heiß. Sie wusste, was das bedeutete. Ihre Anteilnahme brach in sich zusammen. Reflexartig wand sie sich aus seiner Umarmung, stemmte beide Hände gegen seine Brust und versuchte ihn von sich zu stoßen. Er reagierte blitzschnell, indem er nur kurz losließ, um sofort erneut zuzupacken. Jetzt krallten sich seine Hände in ihre Hüften. Doch je mehr er sie an sich zu ziehen suchte, umso stärker versteiften sich ihre Arme, die ihn auf Distanz hielten.
Eine ganze Weile dauerte dieses ungewöhnliche Ringen, keiner gab nach. Erst als Lores Atem in ein heftiges Keuchen überging, gab Antek sie frei. Resigniert ließ er die Arme unschlüssig am Körper baumeln, hielt den Blick zum Boden gesenkt, und seine Miene drückte Verzweiflung aus. Als er den Kopf hob, entdeckte sie zwei Tränen, die sich einen Weg über die Wangen bahnten.
„Lore, bitte!“ Das war nur ein vibrierendes Flüstern.
Lore, die den Jungen immer noch auf Abstand hielt, fühlte sich merkwürdig berührt. Was war das? Gefühle durchströmten sie, die ihr neu zu sein schienen – eine Mixtur aus Mitleid, nachempfundenem Schmerz und schwer zu erklärender Verbundenheit.
„Du wirst nicht sterben, Antek“, sagte sie und wunderte sich, wie weich ihre Stimme klang.
„Doch!“, kam es beinahe trotzig zurück. Und voller Verzweiflung: „Ich sterben – und nicht sein Mann. Nicht wissen, wie mit Frau …“
‚Das also ist es‘, fuhr es ihr in den Kopf. ‚Eigenartig, wie Männer sein können – selbst solche, die erst auf dem Weg dorthin sind. Den Tod vor Augen, besaß dieser Jüngling keinen dringlicheren Wunsch als ihr beizuwohnen. Was treibt Männer in eine derartige Besessenheit, die für Augenblicke alles andere vergessen macht?
Sie selbst empfand es stets als lästig, meistens eklig und nicht selten auch schmerzhaft, wenn Wernicke über sie herfiel. Was ließ den zu einem dumpfen Tier werden? Was fand der wohlsituierte und gebildete Familienvater daran, sich schnaufend auf sie zu werfen und sein unappetitliches Ding in ihrem Leib wühlen zu lassen? Was trieb ihn, sich keuchend in ihr auf und ab zu bewegen, bis er unter unwürdigem Stöhnen seinen widerlichen Stachel herauszog, um mit einem unartikuliertem „Öööch“ ihren Bauch mit diesem glibberigen Zeug zu besudeln?
Die Gier, mit der Wernicke sie zu überfallen pflegte, mochte auch hinter Anteks Stirn lauern. Zu sehen war sie nicht. Kräftig genug schien er, um sie zu dem zu zwingen, was ihm so viel bedeuten mochte. Aber er nahm sie nicht einfach – er flehte sie an, es ihm zu gestatten. In seiner Stimme, seinem Blick und seinen Gebärden las sie nur dieses verzweifelte Flehen.
Auf einmal tat er ihr unendlich leid. Vielleicht würde er wirklich schon bald – von einer Kugel getroffen, von einem Bajonett durchbohrt oder von einer Granate zerrissen – sein noch kaum gelebtes Leben aushauchen zu müssen. Vermochte ihm das Bewusstsein, wenigstens eine Frau besessen zu haben, das Sterben erleichtern?
Das erwachende Mitgefühl mit diesem Jungen lenkte einen Moment lang von ihren eigenen Ängsten ab. Hinzu kamen Empfindungen, von denen einige aus dem Schutt ihrer Vergangenheit erstanden, während andere völlig neu in ihr zu sein schienen. Sie glaubte zu spüren, dass es auch ihr helfen könnte, wenn sie ihm seinen Wunsch erfüllte.
Ihre Arme erschlafften, ließen es zu, dass die Distanz aufgegeben wurde. Doch wenn sie erwartet hatte, dass er sie erneut an sich pressen würde, sah sie sich getäuscht. Noch immer stand er in gleicher Haltung vor ihr, aber in seinen Augen sah sie Hoffnung aufblitzen. Sie musste sich nicht einmal überwinden, um ihn liebevoll in die Arme zu nehmen und ihm einen Kuss auf die heißen spröden Lippen zu drücken.
Während er ungeschickt diesen Kuss zu erwidern suchte, löste sie mit einer Hand die Schnüre ihres Mieders. Die Pracht der hervorquellenden Brüste ließ Antek aufstöhnen. In seinem Blick spiegelte sich jedoch keine Gier, sondern pure Bewunderung. Die Art, mit der er zaghaft nach den festen milchig-weißen Halbkugeln griff und mit der er seine Fingerspitzen über die dunklen Höfe wandern und die Warzen umkreisen ließ, besaß etwas Rührendes.
„Na komm!“, sagte Lore und ihre Stimme klang rauer als beabsichtigt.
Sie löste sich von ihm und glitt auf das nicht mehr saubere Laken, das über den Strohsack gebreitet lag. Ohne auf ihn zu achten, legte sie sich auf den Rücken, raffte den Rock bis zu den Oberschenkeln, zog die Beine an und öffnete sie ein wenig. So wollte es Wernicke immer. Er pflegte einen Moment lang den Blick zwischen ihre Schenkel zu genießen und dabei sein Ding massierend einzuspeicheln, ehe er sich wohlig grunzend über sie hermachte. Anteks Augen hatten sich an der gleichen Stelle festgesaugt, doch der Junge blieb untätig. Nur sein hastiges Atmen mit weit geöffnetem Mund verriet etwas von seiner hochgradigen Erregung.
„Na komm schon“, wiederholte Lore und streckte ihm die Arme entgegen.
Antek fiel zu ihren Füßen auf die Knie und rutschte auf ihnen bis auf Höhe ihrer Waden. Schon beugte er sich nach vorn – da wurde er von Lores Händen aufgehalten.
„Die wirst du wohl ausziehen müssen“, lachte sie und deutete auf seine schmutzstarrende Hose.
Er zögerte einen winzigen Verlegenheits-Moment, dann öffnete er den Gürtel und ließ das gute Stück fallen.
„Oh Gott“, entfuhr es Lore. Sein Phallus – sie hatte dieses Wort mal irgendwo aufgeschnappt – wirkte wie der Griff einer Sense, der steil vom Sensenbaum absteht. Wie sollte das gehen? Trotz ihrer Bedenken zog sie ihn über sich.
Doch was nun begann, gestaltete sich als ein wildes linkisches Herumstochern zwischen ihren Beinen, das ihr Eingreifen erforderte. Sie griff nach seinem zu bersten drohenden Schwengel und verteilte mit der anderen Hand rasch etwas Mundfeuchte an ihrem Eingang. Es schmerzte, als er dank ihrer Hilfe endlich einzudringen vermochte. Ihr kleiner Wehlaut ließ ihn sofort innehalten.
„Tun weh ich?“
„Nein, nein“, log sie und bedeutete mit ein paar ermunternden Beckenbewegungen, er solle weitermachen.
Automatisch ging er auf den von ihr vorgegebenen Rhythmus ein. Als es ihm gelang, ein weinig tiefer einzudringen, begann er heftiger zu stoßen. Obwohl ihr das unangenehm war, bemühte sie sich, dies zu ignorieren und sich ganz auf den Jungen zu konzentrieren, der keuchend über ihr schwebte und in immer kürzeren Abständen unartikulierte Laute ausstieß. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihr das Zittern seines von ihr umklammerten Beckens signalisierte, dass er kurz vor dem Höhepunkt stand. Ein Aufschrei, in den sich Jubel und Glückseligkeit mit bisher nie erfahrener Wonne mischten, erfüllte das schmutzig-düstere Gewölbe. Das Leuchten in den Augen des Jünglings schien einen Moment lang das Licht der Lampe zu überstrahlen. Er richtete sich kerzengerade auf, warf den Kopf weit nach hinten und verharrte sekundenlang in dieser Pose, ehe er schlagartig wie ein geplatzter Weinschlauch in sich zusammensank und mit dem Kopf zwischen ihren Brüsten landete. Wieder ging ein Zucken durch seinen Körper, diesmal ausgelöst von einem Weinkrampf. In sein Schluchzen mischten sich gestammelte Dankesworte, die Lore nicht alle verstand, aber die ein bislang unbekanntes Gefühl in ihr auslösten. Sie fühlte Wärme in sich aufsteigen und merkte, wie dieses Wohlgefühl, welches sie ihm bereitet hatte, sich auf sie zu übertragen begann.
Sie schlang ihre Arme um seine Schultern und presste ihn an sich. Dann ließ sie ihre Hände streichelnd über seinen Rücken fahren. Nur am Rande nahm sie wahr, wie sein erschlafftes Glied aus ihr heraus glitt. Sie spürte auch keine Panik in sich aufkommen, als sie sich bewusst wurde, dass er sich komplett in ihr ergossen hatte.

Lore hätte nicht zu sagen gewusst, wie lange sie so gelegen hatten, bis er sich langsam zur Seite rollte. Er weinte nicht mehr, und in seiner Stimme lag Stolz, als er sagte: „Jetzt … ich sein … Mann!“
„Ja, Antek – jetzt bist du zum Mann geworden“, bestätigte Lore, wobei sie sich innerlich fragte, wie nur wenige Sekunden einen Menschen so einschneidend verändern können. Oder übertrieb Antek in seiner vielleicht nur vorübergehenden Hochstimmung? Während sie darüber sinnierte, fühlte sie seine Hand in ihrem Gesicht. Sanft zogen seine Fingerspitzen in ihrem Antlitz die Linien nach, die wahrscheinlich nur er sah.
„Lore – du sein so schön. Schönstes Frau von alle Welt.“
„Antek, du übertreibst“, gurrte sie und fuhr ihm durch die verschwitzten Haare.
„Du viele Männer machen so voll Gluck?“
„Nein“, sagte sie und dachte daran, dass sie auf diese Art noch keinen Mann glücklich gemacht hatte. Sie besaß nie den Eindruck, dass Wernicke beglückt sei, wenn er ihr Bett verließ und auf nackten Sohlen zurück ins eheliche Schlafgemach schlich; oder in sein Arbeitszimmer – je nach Tageszeit.
Unwillkürlich musste sie an Sebastian denken. Sie sah ihn vor sich, den strohblonden Jüngling mit den verliebt blitzenden Augen unter der vom Tanzen schweißnassen Stirn. Erntedankfest 1808! Ist das tatsächlich schon fünf Jahre her?
Sie hatten den Festplatz schon zeitig verlassen, um sich hinter einer bunt belaubten Linde in die Arme zu fallen. Seine Küsse – so intensiv, so aufregend, so süchtig machend nach mehr. Doch es war beim Küssen geblieben.
Als er sie wenige Tage später fragte, ob sie seine Frau werden wolle, hatte sie, ohne zu zögern, „Ja“ gesagt.
Jedoch Junker Gottfried von Knürschütz, zu dessen Leibeigenen Lores Familie gehörte, versagte die Heiratserlaubnis. Sebastian gehörte einem anderen Herren, und Knürschütz mochte nicht zulassen, dass Lore zu diesem Grundherren wechselte. Alles Bitten fruchtete nicht.
So beschlossen die Liebenden, aus ihrer mecklenburgischen Heimat zu fliehen. Ins Königreich Westphalen wollten sie. Dort gab es keine Leibeigenschaft mehr und jeder durfte heiraten, wen er gedachte.
Im Mai 1809 war es, als sie bei Nacht und Nebel ihre Dörfer verließen. Auf der drei Tage währenden Flucht bis zur Elbe schliefen sie aneinander gekuschelt im Stroh abseits gelegener Feldscheunen. Sie träumten von einer unbeschwerten Zukunft und küssten sich die Lippen wund. Mehr nicht. Sebastian war ein gläubiger Mensch, der für es für selbstverständlich hielt, frühestens in der Hochzeitsnacht seiner Lore beizuwohnen. Er verkörperte nicht nur einen prinzipienfesten Protestanten, sondern auch einen glühenden Patrioten und erklärten Hasser des „Blutsäufers“ Napoleon. Das Schicksal wollte es, dass sie am dritten Tag in dem Städtchen Dömitz anlangten. Dort war tags zuvor der Major Ferdinand von Schill mit seiner verwegenen Schar eingezogen. Er hatte mit seinem wagehalsigen Zug durch anhaltinische Lande einen Volkskrieg gegen die napoleonische Fremdherrschaft entfachen wollen, aber nur wenige Freiwillige schlossen sich ihm an. Es kam, wie es Lore befürchtet hatte – Sebastian trat in die Reihen der Rebellen.
Als die schillsche Einheit in einer Stärke von knapp eineinhalbtausend Mann nach Stralsund aufbrach, folgte Lore mit dem Tross. Was hätte sie anderes tun sollen?
Zehn Tage danach musste sie miterleben, wie ihr Verlobter in einer Seitenstraße der Stralsunder Innenstadt, von einer dänischen Kugel getroffen, verblutete. Mithilfe eines leicht verwundeten preußischen Husaren gelang es ihr, im letzten Moment aus der Stadt zu fliehen.
Mit ihm erreichte sie schließlich Frankfurt an der Oder. Während der Husar im Lazarett Aufnahme fand, nahm sie eine Stellung als Haushaltshilfe bei einem französischen Militärarzt an. Drei Jahre später musste der mit Napoleons Großer Armee nach Russland ziehen. Er fiel im August 1812 in der Schlacht um Smolensk. Als die Nachricht von seinem Tod eintraf, war es dem Vermieter ein Fest, mit süffisantem Lächeln das Franzosen-Liebchen an die Luft zu setzen. Dabei war es zwischen ihr und dem Arzt nie zu Intimitäten gekommen. Ganz anders als bei Wernicke. Als sie nicht wusste, wo sie hin sollte, riet ihr ein Bekannter des Arztes, nach Leipzig zu gehen. Er beschrieb ihr die Stadt als reizvoll und weltoffen.
„Tja, so bin ich hier in dieser Connewitzer Villa gelandet – bei diesem fiesen Wernicke.“
„Was sein ‚fies‘?“
Lore versuchte, es zu erklären. Und da Antek nicht gleich zu begreifen schien, entlockte er ihr ungewollt immer mehr Details. Bisher hatte sie keinem Menschen von Wernickes Überfällen erzählt. Je länger sie darüber sprach, umso befreiter fühlte sie sich mit einem Mal.
Als sie schwieg, hörte sie Antek schwer atmen. Eine Weile sagte er nichts, aber dann brach es aus ihm heraus: „Ich töten Wernicke!“
Antek hatte sein Streicheln aufgegeben, und die Fäuste geballt.
„Das wird nicht möglich sein, Antek“, sagte sie.
„Warum?“
„Weil du jetzt dort raus gehst und dich von den Österreichern umbringen lässt.“
Sie sagte das in einem Ton, der ironisch sein sollte, aber das verstand er nicht oder er wollte es nicht verstehen. Zumindest schien er betroffen zu sein. Er hatte seine Lippen nach innen gestülpt und bearbeitete sie mit den Zähnen.
„Du haben recht“, hörte sie ihn schließlich flüstern.
„Untersteh dich!“, zischte sie und zog ihn an sich.
Sein halbherziges Sträuben währte nicht lange. Stattdessen umfing er sie nun seinerseits und begann ungeschickt, aber ausgesprochen sanft ihren Leib zu liebkosen.
Lore fühlte die Dankbarkeit, die er mit diesem Streicheln auszudrücken suchte. Wo nahm dieser Junge all die Zärtlichkeit her, mit der er Finger und Lippen agieren ließ? Das hatte sie so noch nie erlebt. Bei Sebastian hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er sie mit angezogenen Zügeln umarmte. Mit der Zeit war sie zu der Überzeugung gelangt, dass ihn die Angst beherrschte, er könne seine selbst auferlegte Zurückhaltung verlieren. Doch Anteks Zärtlichkeit war eine entspannte, eine Danksagung, die ihr noch nie zuteilgeworden war und die ihr kleine Wellen wohligen Schauderns durch den Körper schickten.
Sie spürte jäh das Bedürfnis, die Liebkosungen des Jungen zu erwidern – ihm etwas von dem zurückzugeben, was sie von ihm empfing. Ungewollt flüsterte sie Worte, die er wohl kaum zur Hälfte verstand. Egal – sprach sie nicht vor allem zu sich selbst?
In diesem Moment übermannte sie ein bisher unbekanntes Gefühl, das sie vielleicht erschreckt hätte, wenn ihr das Wort dafür eingefallen wäre. Begierde!
Als sich Anteks Atem wieder beschleunigte und sich das Spiel seiner Hände nur noch auf wenige Stellen ihres Körpers zu konzentrieren begann, empfand sie das zum ersten Mal in ihrem Leben als angenehm. Auf einmal wünschte sie sich mehr von diesem – reines Begehren ausdrückenden – Berührtwerden. Sie gewahrte, wie ihr Körper weich wurde – sich zu öffnen begann. Es war nicht nur ihr hitzig gewordener Leib, der unvermittelt nach mehr schrie. Die Seele stimmte in diesen Ruf mit ein.
Antek schien das zu spüren. Sein Drängen nahm zu, und Lore gab nicht nur nach, sondern fühlte sich ebenfalls fordernd werden.
„Lore! Bitte!“, meinte er wohl nachhelfen zu müssen. Doch das erwies sich als unnötig.
„Ja, komm … Bitte!“, flüsterte sie zurück.
Sein diesmal problemloses Eindringen quittierte sie mit einem heftigen Seufzer. Heißer Atem traf auf heißen Atem.
Und während er sich in ihr bewegte und sie den Rhythmus aufnahm, um ihn später selbst zu bestimmen, durchlebte sie die ihr bis dahin unbekannten Phasen aus brennendem Verlangen, unbändiger Lust und tiefer Erfüllung.

Später lagen sie eng beieinander auf dem schmalen Strohsack, der von dem zerknautschten Laken längst nicht mehr komplett abgedeckt wurde. Lore spürte an manchen Stellen das grobe Sackleinen unter sich, aus dem vereinzelt stachlige Halme spießten. Doch das dadurch hervorgerufene Kratzen und Pieken registrierte allein ihr Unterbewusstsein. Das Einzige, was sie wirklich fühlte, bestand aus einer Mischung aus wunderbarer Ruhe und wohliger Entspannung. Die Wärme, die von Anteks Händen ausging, durchrieselte sie und ließ sie träge werden. Tief in sich empfand sie ein mit Worten nicht zu beschreibendes Glücksgefühl, das sie im Moment durch nichts in der Welt missen mochte. Sie fragte nicht nach dem Warum, suchte keine Erklärung für das, was ihr in diesem Augenblick widerfuhr. Sie genoss es einfach, so dazuliegen, Antek im Arm zu halten und seinem regelmäßigen Atem zu lauschen. Erst als der in verhaltenes Schnarchen überging, fand Lore allmählich in die Realität zurück. Ihre komplett nach innen gerichteten Wahrnehmungen begannen sich wieder nach außen zu kehren.
Gemessen am Lärm der letzten Stunden, umgab sie eine auffallende Stille. Dass die Kanonen nicht mehr feuerten, war Lore schon vorhin nicht entgangen. Aber auch das Gewehrfeuer war nur noch vereinzelt und aus größerer Entfernung zu vernehmen. Im und um das Haus war Ruhe eingetreten. Keine peitschenden Schüsse, keine Kommandorufe, kein Geschrei, kein nervöses Trappeln von Pferdehufen. Diese Ruhe wirkte, als sie Lores Bewusstsein erreichte, beinahe beängstigend. Hatte das Blut saufende Ungeheuer das gebeutelte Dorf aus seinen Klauen entlassen?
Lore vermochte einen Seufzer nicht zu unterdrücken. Entsprang er der aufkommenden Erleichterung, ihrem immer noch präsenten Glücksgefühl oder der Einsicht, sich wieder der Realität stellen zu müssen? Ihr wurde die Endlichkeit dessen, das sie gerade durchleben durfte, bewusst. Wie sollte es weiter gehen? Diese Frage begann ihr Stück für Stück, die Entspannung zu nehmen und das Wohlgefühl aus der Seele zu prügeln.
Unruhe erfasste sie, ohne dass sie einen konkreten Anlass erkannte. Sie richtete sich auf und betrachtete, auf die Ellenbogen gestützt, den schlafenden Antek. Über seinen gelösten Zügen schien eine pure Zufriedenheit ausstrahlende Aura zu schweben. Die Ruhe, die von dem Schläfer ausging, erfasste auch sie wieder. Sie lockerte ihre Haltung und wollte sich auf das Lager zurücksinken lassen, als Geräusche ihr Ohr erreichten, die sie in ihrer Stellung verharren ließen. Laute Kommandos und Waffengeklirr drangen von der Straße bis herunter in den Keller. Kehrte das Ungeheuer zurück? Besetzten die Polen erneut das Dorf, oder zogen die Alliierten ein? Als die Haustür mit harten Schlägen traktiert wurde, schnellte sie hoch. Gespannt lauschend, lehnte sie sich gegen die Wand. Sie fühlte ihr Herz immer schneller pochen.
Vom Vestibül her war das Stampfen schwerer Stiefel auszumachen. Die eindringenden Soldaten mussten durch die scheibenlosen Fenster geklettert sein. Deutlich machte sie jetzt aus, wie von innen der schwere Balken aus der Halterung gewuchtet wurde. Angesichts des nun einsetzenden Lärms schien es, als würde ein ganzes Bataillon das die Villa besetzen. Aus dem Gebrüll ließen sich Satzfetzen herausfiltern, die Lore verstand. Die Eindringlinge bedienten sich einer Sprache, die dem Deutschen sehr ähnlich schien. Österreicher! Die Sieger! Oder durfte sie Befreier sagen?
Lore hätte gern aufgeatmet, als sie Schritte auf der Kellertreppe hörte, doch als ihr Blick auf Antek fiel, wusste sie, was ihr die Brust so einengte. Was würden die Sieger mit dem Besiegten tun?
Jetzt kamen die Schritte näher. Die morsche Tür wurde aufgestoßen. Drei Soldaten stürmten in den Raum, blieben jedoch blitzartig stehen, als sie die halb nackte Frau mit dem gelösten Blondhaar gewahrten. Lore sah in drei sich weitende Augenpaare und ahnte nichts Gutes.
„Schau her, wos hama do? Fesch!“
Einer der Männer machte einen Schritt auf sie zu, packte ihre Hände, mit denen sie das geöffnete Mieder zusammenhielt, und riss sie zur Seite.
„Schaut‘s eich doas a, was für fesche Tutteln. Ka Tabernakelbusen wie der bei uns’rer Zenzi.“
Er drehte sich kurz um, registrierte das anerkennende Nicken seiner Kameraden, und dann packten seine Hände zu. Lore fühlte sich hart gegen die Wand gedrängt, während sich schwielige Finger in ihren Brüsten verkrallten. Entsprang es der Angst, dem Schmerz oder dem Ekel, was sie aufschreien ließ?
„Woas koa Lust zum Schnackseln?“ Mit diesen Worten begann der Mann, bereits mit einer Hand zwischen ihren Schenkeln zu wühlen.
Während sie vergeblich den Soldaten abzuwehren versuchte, sah sie aus den Augenwinkeln einen Schatten heran fliegen. Antek!
Mit gesenktem Kopf ging er auf ihren Peiniger los und stieß ihm mit all der Wucht, die er aufzubieten vermochte, beide Fäuste seitlich in die Rippen. Erschrocken wich der Angegriffene einen Schritt zurück, um sich dann Antek zuzuwenden. Aber da traf ihn ein schwerer Schlag direkt in die Magengrube, und ehe er nach Luft schnappend zusammenklappte, folgte noch ein fürchterlicher Tritt in seine bereits angeschwollene Männlichkeit. Zum Glück für den Mann trug Antek kein Schuhwerk. Trotzdem war der Kerl nicht einmal fähig, zu schreien. Gurgelnd fiel er auf die Knie. Antek – blind vor Wut – wollte sich erneut auf ihn stürzen, doch da erhielt er einen Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts auf den Strohsack warf.
Ein Soldat, der einen blutigen Kopfverband trug, hatte den Hieb mit dem Kolben seines Gewehrs geführt. Grimmig schaute er auf den Jungen, der nun seinerseits nach Luft rang und der vergeblich versuchte, auf die Beine zu kommen.
Lore sah, wie der Soldat das Gewehr umdrehte und das Bajonett fällte.
„I stech di ab, du polakische Ratz“, hörte sie ihn zischen und sah ihn einen Ausfallschritt nach vorn machen. Im gleichen Moment warf sich Lore über den Jungen.
„Wies ihr wollt. Dann eben beide – die Ratz und die Hatschen“, schnaufte der Angreifer.
„Naa, Alois – lass gut sei. S’iss scho gnug Blut flossn.“
Es war, der Dritte, ein bereits Grauhaariger, der das sagte. Er trat neben seinen Kameraden, und seine Hand legte sich schwer auf den Gewehrlauf.
„Zuviel Blut“, wiederholte er, und seine Stimme klang müde.
„Alois! Stich zu!!!“, krächzte der am Boden Liegende. „Die Franzosenbrut hat’s nicht anders verdient!“
„Pappn hoidn!“, fuhr der Graubart dazwischen. „Der Junge ist Pole und das Frauenzimmer…“
„Na und? Mit den Franzosen hams paktiert. In orsch sans krochen, dem Napoleon, diesem Blut saufenden Satan.“
„Jetzt komm mir nicht mit dem Schmarrn, den du vom Leitnant aufschnappt hoast“, wies ihn der Alte zurecht. Er strich sich über den gewaltigen Schnurrbart, und ein spöttisches Lächeln überzog sein Gesicht, ehe er fortfuhr: „Glaubst du, unser geliebter Kaiser Franz hätte dem Antichrist seine Tochter zur Frau geben? Schuld an diesem Gemetzel tragen sie alle – die Gekrönten. Egal ob sie Franz, Friedrich Wilhelm, Alexander oder Napoleon heißen. Sie haben die Suppe eingebrockt, an der wir nur wir zu löffeln haben. Es kratzt die hohen Herren nicht, wenn die Soldaten auf beiden Seiten zu Tausenden verrecken. Wir sind nicht mehr, als …“
Er brach unvermittelt ab, und sein Körper straffte sich.
Im Rahmen der Tür, die nur noch windschief in den Angeln hing, tauchte ein schmalbrüstiger Offizier auf. Kaum zu glauben, dass der eine so kräftige Stimme besaß.
„Was ist denn hier los!?“, donnerte er.
„Melde gehorsamst – zwei Gefangene gemacht“, bellte der Schnauzbart beflissen.
„Gefangene?“ Der Blick des Offiziers wanderte durch das Gewölbe und blieb auf dem Strohsack hängen. Der Anblick, den das merkwürdige Paar ihm bot, ließ ihn verächtlich die Mundwinkel verziehen.
„Fürwahr – ein grandioser Fang! Ein Trommel-Bub und die Bataillonsshure!“
Lore wollte aufbegehren, aber sie zweifelte, ob der Leutnant sie anhören würde. Der hatte nämlich damit zu tun, seine Leute aus dem Raum zu scheuchen und nach oben zu schicken.
„Ihr besetzt mit der dritten Korporalschaft den Vorgarten! Dalli!
„Und was machen wir mit denen da?“, knurrte der, dem Antek so übel mitgespielt hatte. Mühsam brachte er sich in die Senkrechte.
„Das hat Zeit! Los, ab mit euch! Keinen Mucks will ich hören! Absolutes Sprechverbot dort oben.“
„Was ist denn los?“, fragte der Veteran.
„Feinberührung. Die werden sich wundern. Geschossen wird aber erst auf meinen ausdrücklichen Befehl.“

Lore und Antek waren allein.
„Wie geht es dir?“, fragte sie besorgt und strich ihm über den Kopf.
„Alles gutt“, ächzte der Blessierte und versuchte aufzustehen. Als ihm das mit Lores Hilfe gelungen war, stand er einen Moment lang an die Wand gelehnt, die Hand auf die geprellten oder gar gebrochenen Rippen gepresst.
„Wir müssen rasch weg von hier. Sie werden bald wiederkommen“, raunte Lore und neigte lauschend den Kopf zur Seite. In der Villa herrschte Totenstille. Was hatte das zu bedeuten? Aus der Ferne konnte man Hufgetrappel hören. Es schien näher zu kommen.
Lore trat an die hofseitige Kellerwand und begann an einem Regal zu zerren.
„Hilf mir!“, keuchte sie.
Gemeinsam gelang es ihnen, das schwere Stück beiseitezuschieben. Ein mannsbreiter Schacht tat sich dahinter auf, der hinauf zu einem ebenerdigen Fenster führte.
„Wir müssen dort hoch. Los! Du zuerst!“
Lore stand schon neben dem Lichtschacht und hielt die Hände vor ihrem Schoß gefaltet.
„Nein du!“
Lore blieb ungerührt stehen und zischte: „Beeil dich!“
Antek gehorchte. Er bestieg die dargebotene und unter seinem Gewicht schwankende Räuberleiter. Als er sich den Schacht hinauf zwängte, hörte sie sein unterdrücktes Stöhnen. Mit der einen Hand an einen Mauervorsprung gekrallt, versuchte er mit der anderen die Verriegelung der Blechplatte, zu lösen, die das Fenster von außen verschloss. Das schwere Teil ließ sich nur nach oben öffnen und man konnte es von innen nicht in dieser Lage arretieren. Antek war gezwungen, sich durch einen Spalt zu drängen. Das rostige Blech gaben dabei Hose und Jacke den Rest. Als er die Öffnung passiert hatte und sich aufrichtete, schrie er kurz auf. Doch der Schmerzenslaut ging im Lärm unzähliger Hufe unter. Die Reiter mussten bereits auf Höhe der Villa sein.
Er arretierte die Klappe, zog seinen Gürtel aus der Hose und legte sich bäuchlings vor das Fenster. Lore erhaschte den Riemen, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die kräftige Frau emporgeklommen war.
Dann standen sie beide schwer atmend an der Hauswand und sahen sich um. Es ließ sich nichts Verdächtiges ausmachen. Bei der Dunkelheit, die auf dem Hof herrschte, musste das jedoch nichts bedeuten.
Lore wies mit dem Arm auf ein niedriges Nebengebäude.
„Dort müssen wir hin. Das ist der Pferdestall. Da finden wir …“
Ihre weiteren Worte gingen in einem urplötzlich ausbrechenden Höllenlärm unter. Entlang der Straße entluden sich auf einen Schlag Hunderte Gewehre. An allen Fenstern der besetzten Häuser, in den Sträuchern der Vorgärten und hinter jedem Zaunpfeiler verbargen sich die Schützen – nur beim Aufblitzen des Mündungsfeuers für Bruchteile von Sekunden sichtbar.
Wie Lore und Antek später erfuhren, handelte es sich bei den Reitern um das knapp fünfhundert Mann starke bergische Kavallerie-Regiment, das an diesem Tag als Bedeckung einer Batterie fungiert hatte. Nach dem Abzug der Geschütze sollten diese Lanzenreiter eine Stellung zwischen Leipzig und Connewitz einnehmen. Sie wussten aber nicht, dass die Österreicher dieses Dorf kurz vorher besetzt hatten. Nichts ahnend waren sie in die Siedlung eingeritten, und jetzt saßen sie in der Falle.
Bei dem einsetzenden Gedränge, das die scheuend ineinander verkeilten Pferde verursachten, traf nahezu jeder Schuss. Gegenwehr schien zwecklos. Was hätte man mit Lanze oder Reiterpistole gegen einen Feind ausrichten sollen, der aus sicherer Deckung feuerte? Panik brach aus, und wer konnte, versuchte zu fliehen.
Obwohl auf der Rückseite der Villa kaum mit verirrten Kugeln zu rechnen war, zog Lore den Kopf tief zwischen die Schultern, als sie über den Hof zum Pferdestall hastete. Antek blieb dicht hinter ihr. Das große Tor stand halb offen, und nacheinander schlüpften sie hindurch.
„Was wollen hier?”, fragte Antek mit gedämpfter Stimme, obwohl das bei dem Krach da draußen unnötig war.
„Wir müssen in die Wohnung von Kutscher Heinrich”, erklärte Lore und wandte sich nach rechts.
Als sie den Begriff „Wohnung” gebrauchte, wusste sie, wie sehr sie damit übertrieb. Ein vom Stall abgetrennter Verschlag, dessen ärmliche Ausstattung die Dunkelheit verbarg. In der Kammer stank es nach Schweiß, menschlichen Ausdünstungen und kaltem Pfeifenrauch
„Wo sein Heinrich?“
„Weg“, knurrte Lore und dachte daran, wie die Familie Wernicke schon vor fünf Tagen die Flucht nach Grimma angetreten hatte. Heinrich musste sie kutschieren.
„Und du passt mir gut auf das Anwesen auf. Ich verlasse mich auf dich“, hatte der Hausherr zu ihr gesagt, ehe er in die Kutsche gestiegen war. Mit einer Hand hatte er Lore über die Wange gestrichen und gemeint, dass alles schon nicht so schlimm kommen würde.
Am liebsten hätte sie ihn angespuckt.
Lore tastete sich vor zu einer morschen Truhe, von der sie wusste, dass Heinrich dort ein paar alte Kleidungsstücke verwahrte. Für Antek kramte sie eine zigfach geflickte Hose hervor. Sie fand auch eine arg zerschlissene Joppe, die sie dem Jungen über die Schultern warf. Für sich entdeckte sie einen abgewetzten Mantel.
Es dauerte geraume Zeit, bis Antek die Hose gewechselt, das hässliche Stück mit seinem Gürtel zum Halten gebracht und die zu langen Hosenbeine aufgekrempelt hatte. Zusammen mit der Joppe hätte man ihn für eine verwitterte Vogelscheuche halten können.
„Komm!“
Lore schob Antek vor sich her, bis sie den Hinterausgang des verwaisten Pferdestalles erreichten. Zögernd trat sie nach draußen. Hier begann die Streuobstwiese des Herrn Wernicke. Das wenige Mondlicht, das die feinen Wolkenschleier zu durchdringen vermochte, ließ die Bäume wie eine Schar finsterer Riesen erscheinen.
Lore neigte lauschend den Kopf. So schlagartig, wie das Schießen begann, hatte es aufgehört. Die Reste des Reiterregimentes mussten aus dem Dorf entkommen sein. Zurück blieben Tode und Verwundete. Die Schreie der Blessierten, die von der Straße herüber drangen, hätten ihr normalerweise Schauer über den Rücken gejagt, wenn sie durch die Gräuel der letzten Tage nicht bereits abgestumpft gewesen wäre.
„Komm!“, wiederholte sie und trat zwischen die Bäume. Mit ausgreifenden Schritten eilte sie über die Wiese. Antek, den sein zu großes Beinkleid behinderte, tat sich schwer, an ihrer Seite zu bleiben. Das wurde noch schlimmer, als sie sich wenig später durch dichtes Gestrüpp kämpfen mussten. Da fühlte sich Lore kräftig am Arm gepackt und blieb stehen. Antek griff auch mit der anderen Hand zu und zog die Frau zu sich heran.
„Was ist mit dir?“, fragte sie verwirrt und versuchte seine klammernden Hände abzuschütteln.
„Wo gehen hin? Was haben du ...?“
Er ließ seine Rechte fallen, presste sie auf die Rippen. Das Atmen schien ihm Mühe zu bereiten.
„Wir gehen zur Witwe Kroll. Sie ist eine gute Frau. Sie hat mir schon oft geholfen. Es ist nicht mehr weit bis zu ihr.“
„Und wenn dort Austriak ...?“
„Ich glaube nicht, dass so weit entfernt von der Hauptstraße die Österreicher hocken. Und wenn doch, dann müssen wir ein anderes Versteck finden.“
Sie merkte, dass er nicht alles verstanden hatte, aber der Klang ihrer Stimme schien ihn zu beruhigen. Er ließ sie los.
Als sie erneut eine Wiese erreichten, zeigte Lore nach vorn, wo sich eine armselige Kate zwischen zwei Bodenwellen duckte.
„Dort ist es“, sagte sie. „Komm!“
Doch da fühlte sie sich abermals zurückgehalten.
„Lore ... du ... gehen allein!“
Überrascht schaute sie ihn an. Auf seinen gehetzten Zügen spiegelte sich Ratlosigkeit.
„Antek, was soll das? Wir gehen gemeinsam zur Witwe Kroll und bitten sie, uns wenigstens für diese Nacht aufzunehmen.“
Er stand wie angewurzelt und schüttelte den Kopf.
„Was wollen du Pani Kroll sagen, wer sein ich?“
Während er sprach, legte er seine Arme um sie. Es war eher ein Klammern, als eine Umarmung. Den Kopf auf ihre Schulter gelegt, flüsterte er Worte, die sie nicht verstand. Bis auf das letzte – „Adieu.“
„Nein Antek, nix adieu“, raunte sie. „Ich lasse dich hier nicht zurück.“
„Doch!“
Wie um diesem Wort den nötigen Nachdruck zu verleihen, ließ er die Arme sinken. Er war gerade dabei, einen Schritt zurückzutreten – da riss sie ihn ihrerseits an sich. Widerstandslos ließ er es geschehen, dass sie sein Gesicht in beide Hände nahm und beschwörend in seine Augen sah. Bemerkte er, wie sich ihr Blick verschleierte, je stärker sie ihn nach innen richtete? Da war es erneut – dieses Glücksgefühl, das sie nie mehr missen mochte. Sie spürte, dass ihr dieser Junge etwas gegeben hatte, das nur er ihr zu schenken vermochte. Sie wollte es immer wieder empfangen, um es genauso so intensiv zurückzugeben. Sie wusste: Antek gehörte zu ihr.
„Ich werde sagen: „Schauen Sie, Witwe Kroll – das ist mein Mann!“
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Lieber Ralph,

soeben habe ich mich durch deinen Text gearbeitet und möchte dir von meinen Eindrücken berichten:

Die Gechichte benötigte Zeit, um in Fahrt zu kommen. In Teilen wird zu weitschweifig Redundantes erzählt, dadurch verleihst du zwar zum einem dem Geschehen eine dichte Atmosphäre, doch gleichzeitig lenkst du vom Kern der Geschichte (das Verhältnis zwischen Lore und Antek) ab. Ich würde gnadenlos straffen, mehr Show und weniger Tell einbauen.

Als es dann aber losgeht mit Lore und Antek entwickelt die Geschichte einen Sog, der mich weiter und weiter lesen ließ. Als Mann fühle ich mich nicht dazu berufen, die Beweggründe für Lores Handeln nachzuvollziehen, in Teilen ist ihr Verhalten für mich schleierhaft. Gelungen aber finde ich die Umsetzung der Ambivalenz, wie sie den Geschlechtsverkehr mit einem Lüstling (Wernicke) zutiefst verabscheut und dann die gleiche Art Geschlechtsverkehr mit einem anderen (Antek) zunächst duldet und dann sogar genießt. Die Frage, die sich aufdrängt: Ist sie die Bataillonshure, wie sie genannt wird, oder ist sie einfach eine selbstbestimmte Frau?

Die Szene mit den österreichischen Soldaten ist dir wunderbar gelungen, der Dialekt passt für mich, die Spannung ist greifbar, gleichzeitig wird deutlich, wie Frauen im Krieg zum Spielball der Soldatengelüste wurden. Die Deeskalation der Szene durch den Leutnant gefällt mir ebenfalls sehr gut, da ansonsten die Szene hätte unfreiwillig komisch werden können. Auch Anteks Reaktion wird in dieser Szene wunderbar eingefangen.

Das Ende, die romantische Liebe, quasi, kam für meine Begriffe nicht überzeugend genug daher.

Insgesamt viel Licht und ein bißchen Schatten. Ich finde, dass Lore und Antek schenller in den Mittelpunkt der Geschichte rücken müssten. Ein paar mehr Dialogszenen am Anfang wurden die Geschichte auflockern und leichter verständlich machen.

Insgesamt aber gerne gelesen. Chapeau, Monsieur. Du bon boulot!

Sprachliches:

Die befehlsgewohnte Stimme von Major Dzikowski dröhnte durch die Villa.
[blue]Die befehlende Stimme[/blue] da befehlsgewohnt zweideutig sein kann (gewohnt, Befehle zu geben oder zu empfangen?)

...und gönnte sich einen Seufzer
klingt schief, finde ich

..auf dem sich soeben noch die Bedeutung des vom Bataillonschef persönlich erteilten Befehls widerspiegelte
zu umständlich formuliert

k
urzatmigen Wernicke rasch ans Ziel brachten und ihn nach kurzer Ekstase [blue]wie einen vollgesogenen Blutegel[/blue] von ihr abfallen ließen.
starker Vergleich, gefällt mir, obwohl ich bei längerem Nachdenken glaube, dass er ja hier Flüssigkeit abgibt statt aufnimmt

Antek konnte rechtzeitig ein Feldlazarett eingeliefert werden
hier fehlt die Präposition 'in'

[blue]Grande Armée[/blue]

Vier junge Artellenristen – höchstens einer von ihnen mochte eine Überlebenschance besitzen.
Artilleristen?

und strebten nun der Stadt zu.
klingt wieder schief, kann aber nicht sagen warum

Das Einzige, womit sie die verbleibende Zeit auszufüllen trachtete, war, Trost und Zuversicht aus Gebeten zu schöpfen.
http://www.duden.de/rechtschreibung/trachten

...auf sie zu werfen und sein unappetitliches Ding in ihrem Leib wühlen zu lassen?
Hmm, auch nicht so meins

Die Pracht der hervorquellenden Brüste ließ Antek aufstöhnen. In seinem Blick spiegelte sich jedoch keine Gier, sondern pure Bewunderung. Die Art, mit der er zaghaft nach den festen milchig-weißen Halbkugeln griff und mit der er seine Fingerspitzen über die dunklen Höfe wandern und die Warzen umkreisen ließ, besaß etwas Rührendes.
Eine der schwierigeren Stellen: milchig-weißen Halbkugeln (gibt's auch milchig-schwarz? außer in Celans Todesfuge?)

Warum jetzt hier der deutsche Begriff?

die ihr noch nie zuteilgeworden war und
zuteil geworden

„Feinberührung. Die werden sich wundern. Geschossen wird aber erst auf meinen ausdrücklichen Befehl.“
Feindberührung, oder fehlt das d absichtlich?

Liebe Grüße,

CPMan
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Ralph,
Mich hats überrascht, wie schnell ich doch diese 16 Seitenlange Geschichte (die ich mir aus zeitlichen Gründen einteilen wollte) an einem Stück durchgelesen habe.
Tja…Toll, wenn man das Handwerk so gut beherrscht…Mir hat die Einführung gefallen und ich empfand sie nicht als zu lang/ausschweifend. Am meisten hat mir die Szene in der Bibliothek gefallen, in der all die verschiedenen Figuren sehr glaubwürdig dargestellt werden; es sind immer so kleine Sätzchen, die Du dranhängst und die ein Bild sofort lebendig wirken lassen; wobei hier eine Atmosphäre entstand, die mich gleich in ‘Lores Kopf’ hineinversetzte.
Was ich am Ende nicht ganz nachvollziehen konnte: Warum verliebt sich Lore in diesen Antek? Erklärt wird, dass er sie “immer respektvoll behandelt”, dass er nicht zu den “obergeilen” gehört, wie all die andren Männer, die sie nur im Bett haben wollen. Und als Lore dann noch erfährt, dass Antek keinerlei Erfahrungen mit Frauen hat, ist es um sie geschehen.

Dieser Punkt erschien mir ein wenig unglaubwürdig. Zum einen muss Lore ja doch eine Charakterstarke Frau sein, die mit “allen Wassern gewaschen ist”, da sie es gewohnt ist, von einem Bett ins andere zu hüpfen (weil man sie ja nur dazu benutzt). Für eine solche Frau würde Antek (meiner Meinung nach) eher wie ein “lieber Bubi” wirken. Denn, und dies ist der zweite Punkt: Viel erfahren wir ja nicht über ihn, ausser, dass er mit glasigem Blick auf ihre Schenkel blickt und umbedingt mal "mit ihr will". Es wird beschrieben, dass er weint, als er zuerst zurückgewiesen wird, aber ist das der Grund, warum eine "erfahrene Frau" sich in einen 16 jährigen auf diese Weise verliebt?
Ein wenig mehr Charakterstärke für Antek würde das Verliebtsein der Frau vielleicht verständlicher machen, ein wenig mehr “Komplizität”: Vielleicht sollte Antek auch gleich in die Bibliotheks Szene mit eingebaut werden. Es könnten Szenen entstehen in denen er die “groben Manieren” der Männer Lore gegenüber genauestens registriert, während er ihr jedoch ein Gefühl der Komplizität und des Beschützsein gibt. Auf diese Weise würde die Struktur der Geschichte auch ein wenig “runder wirken”, da sie am Anfang auf eine gewisse Weise in zwei geteilt ist: Die Männer unter sich – und später nur noch Lore und Antek.
Noch ein weiterer Punkt war die Szene in der Antek ‘nachdem Liebe machen’ einschläft: Die Haustür wird mit harten Schlägen traktiert, Waffengeklirr; der Balken der Tür wird herausgewuchtet; die Tür wird aufgestossen; Soldaten stürmen in den Raum und sofort “wühlt einer der Männer in Lores Schenkeln” (diesen Satz fand auch ich nicht so angebracht ;) ) Und Antek?? Schläft er die ganze Zeit? Hört er nichts? Wacht er nicht auf? Irgendwie hat man ihn hier an dieser Stelle vergessen.

Abgesehen von diesen Punkten, mein allergrössten Respekt für diese sehr lange Erzählung. Ich wünschte ich wäre imstande auch so etwas zu schreiben.
Auch entschuldige ich mich für diesen etwas wirren Kommentar – den ich (aus Zeitnot) sehr in Eile geschrieben habe.
Mit Gruss,
Ji
 

PEEB

Mitglied
Da dieses Werk keine Kurzgeschichte darstellt und die Informationsfülle, der einer mindestens doppelt so lang geratenen, dafür aber monoton gehaltenen Story locker übersteigt, kann nur eine Höchstwertung abgegeben werden, auch wenn ich wirklich drei Fehler fand :D Ein Tippfehler, ein Satz mit einer Vorsilbe resp. dem Wort "für" zu viel.

Der Perfektion der Geschichte geschuldet ist, dass ich ängstlich überlegen muss, ob der Fehler nicht doch in meinem Verständniss liegt!?
Anderen widersprechend, finde ich nicht, dass der Schwerpunkt auf die Liebesbeziehung zwischen Wopczek und einer gebeutelten Frau liegt, die lange missbraucht wurde. Der Tenor liegt für mich in der Gesamtheit und der Ableitung des primären Geschehens zwischen den Hauptprotas, nämlich dass es auch lebenswerte Momente in der Hölle des Kriegs geben kann. Aber der Text verteufelt den Krieg trotzdem als das, was er ist. Manche versuchten sich in diesem Spagat, in einer Lyrik und mein Tadel, der dessen Misslingen ansprach, wurde schlimmer verdroschen als die Holzwand im Text :D
Gruß
PEEB
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Lieber CPMan,

zunächst erst einmal herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. So sieht man sich also unter der Trikolore wieder.
Ich hatte schon bezweifelt, ob sich tatsächlich jemand durch diesen langen Text kämpft. Bevor ich den Text einstellte, habe ich mir überlegt, ob ich nicht ein paar Sätze voran stelle, in denen ich darauf aufmerksam machen wollte, dass ich zumindest mit dem ersten Drittel nicht zufrieden bin, weil ich (trotz einiger Kürzungen) nie das Gefühl losgeworden bin, zu langatmig eingestiegen zu sein. Ich wollte die Leser darum bitten, mir aufzuzeigen, wo Kürzungspotenzial vorhanden sein könnte. Mit deinem Hinweis
Die Gechichte benötigte Zeit, um in Fahrt zu kommen. In Teilen wird zu weitschweifig Redundantes erzählt, dadurch verleihst du zwar zum einem dem Geschehen eine dichte Atmosphäre, doch gleichzeitig lenkst du vom Kern der Geschichte (das Verhältnis zwischen Lore und Antek) ab. Ich würde gnadenlos straffen, mehr Show und weniger Tell einbauen.
hast du keine Wunden gerissen, sondern den Finger in eine vorhandene gelegt. Mit allem, was du anführst, hast du Recht, aber ich weiß momentan ums Verrecken nicht, wo der Rotstift anzusetzen ist. Aber da wird mir schon etwas einfallen. Es sind hier einige Passagen (u.a. die Sache mit Lores Verlobten und dessen Tod als Kämpfer in Schills Reihen, Lores Aufenthalt bei dem französischen Arzt, Dzikowskis Verzweiflung über den Rückzug, nachdem man drei Tage lang das Letzte gegeben hat oder das eigentlich überflüssige Auftreten von Poniatowski.) Ich habe das alles reingepresst, um Lores Beweggründe für ihr Verhalten so erschöpfend wie möglich sichtbar werden zu lassen. Auch das ging wohl ein wenig in die Hose. Also bleibt nur: „Gnadenlos straffen!“ Seufz.
Als Mann fühle ich mich nicht dazu berufen, die Beweggründe für Lores Handeln nachzuvollziehen, in Teilen ist ihr Verhalten für mich schleierhaft.
Wieder ein Volltreffer! Irgendwann habe ich mal aus berufenem Mund gehört, dass man es zumindest als Anfänger vermeiden sollte, perspektivisch in die Rolle des anderen Geschlechts zu schlüpfen. Ji Rina haut in die gleiche Kerbe. Da werde ich noch ausführlicher darauf eingehen.

Überrascht hat mich die Frage:

Die Frage, die sich aufdrängt: Ist sie die Bataillonshure, wie sie genannt wird, oder ist sie einfach eine selbstbestimmte Frau?
Nein – eine Hure ist sie nicht. Ich lasse das den österreichischen Leutnant nur sagen, weil er ja nicht wissen kann, wer und was sie ist. Und so, wie er die Beiden vorfindet, liegt seine Vermutung wohl nahe. Eine selbstbestimmte Frau? Ich bilde mir ein, dass sie im Rahmen der Handlung anfängt, eine zu werden.
Ich finde, dass Lore und Antek schneller in den Mittelpunkt der Geschichte rücken müssten.
Mal sehen, ob ich das einigermaßen hin bekomme. Ich muss zugeben, dass die Erzählung ein ziemlich verkrampfter Versuch von mir war, diese Geschichte aus einem Kapitel eines schon lange vor sich hin schmorenden Romanfragmetes zu entwickeln. Vieles von dem, was man über Lore in der Erzählung erfährt, wird im Roman bereits zuvor abgehandelt. Antek, der hier zum „Mann“ von Lore wird, stirbt im Roman kurz nach dem Liebesakt. Lore verliebt sich dagegen in einen Oberst, an dessen Stelle ich in der Erzählung (mal so) dem Poniatowski eine Nebenrolle verpasst habe.

Aber das wollte ich alles gar nicht schreiben. Ich wollte dir vielmehr nochmals danken und dir verraten, dass mich alles andere in deinem Kommentar natürlich sehr gefreut hat.

Zum Schluss noch ein Wort zu deinen Anmerkungen „Sprachliches“

Zur „befehlsgewohnten Stimme“ nehme ich deinen Vorschlag an und ändere in „befehlende“. Das ist dann zwar etwas anderes, als ich meine, aber zumindest eindeutig. Da gebe ich dir Recht.

...und gönnte sich einen Seufzer
klingt schief, finde ich
Ich denke darüber nach. Sollte die Schräglage auch mir zu groß sein, lasse ich sie einfach nur seufzen.

..auf dem sich soeben noch die Bedeutung des vom Bataillonschef persönlich erteilten Befehls widerspiegelte
zu umständlich formuliert
Stimmt. Da kann man auch locker zwei kurze Sätze draus machen.

kurzatmigen Wernicke rasch ans Ziel brachten und ihn nach kurzer Ekstase wie einen vollgesogenen Blutegel von ihr abfallen ließen.
starker Vergleich, gefällt mir, obwohl ich bei längerem Nachdenken glaube, dass er ja hier Flüssigkeit abgibt statt aufnimmt
Hm. Wahrscheinlich hast du Recht, aber mir will im Moment kein passenderes Viech als einfallen, das für eine derartige Metapher herhalten könnte. Schaun wir mal.

Antek konnte rechtzeitig ein Feldlazarett eingeliefert werden
hier fehlt die Präposition 'in'
Und wie die fehlt! Danke.

Grand Armee. Grande Armée
Nochmal danke.

Vier junge Artellenristen – höchstens einer von ihnen mochte eine Überlebenschance besitzen. Artilleristen?
Uff – das ist mir schon peinlich.

und strebten nun der Stadt zu.
klingt wieder schief, kann aber nicht sagen warum
Ja, das klingt zu harmlos. Die Jungs streben nicht nach Leipzig. Sie schleppen sich dort hin. Wäre ich allerdings alleine nie drauf gekommen, dass das schief klingt.

Das Einzige, womit sie die verbleibende Zeit auszufüllen trachtete, war, Trost und Zuversicht aus Gebeten zu schöpfen. Hier klicken
Ich habe geklickt, und bin der Meinung auch der Duden trachtet danach, mir beizupflichten. Ich gebe allerdings zu, dass ein solcher Satz ziemlich verstaubt daher kommt. Vor über 100 Jahren gab es jede Menge vom „Sehnen“ und „Trachten“ zu lesen. Wenn mir nichts Besseres einfällt, lasse ich es so.

...auf sie zu werfen und sein unappetitliches Ding in ihrem Leib wühlen zu lassen?
Hmm, auch nicht so meins
Da geht es dir wie Lore. Ist das zu drastisch? Empfindet die ehemalige Magd vom Lande weniger derb? Bin mir nicht sicher.

Die Pracht der hervorquellenden Brüste ließ Antek aufstöhnen. In seinem Blick spiegelte sich jedoch keine Gier, sondern pure Bewunderung. Die Art, mit der er zaghaft nach den festen milchig-weißen Halbkugeln griff und mit der er seine Fingerspitzen über die dunklen Höfe wandern und die Warzen umkreisen ließ, besaß etwas Rührendes.
Eine der schwierigeren Stellen: milchig-weißen Halbkugeln (gibt's auch milchig-schwarz? außer in Celans Todesfuge?)[
Stimmt „milchig-weiß“ ist wirklich zu viel des Guten. Und der Satz selbst gefällt mir auch nicht mehr. Da muss noch entflochten werden. (Die Todesfuge musste ich erst googeln. Pssst)

Großer Armee. Warum jetzt hier der deutsche Begriff?
Keine Ahnung. Ich tippe auf Nachlässigkeit.

die ihr noch nie zuteilgeworden war und… zuteil geworden
Sollte nicht vorkommen, aber im Eifer des Tastengefechts…

„Feinberührung Feindberührung, oder fehlt das d absichtlich?
Die Kriege verlören ihre Schrecken, wenn man dieses kleine „d“ weglassen könnte und die Gegner nur noch Feinberührungen hätten. Leider gehört das „d“ hinein. Was ein Buchstabe so ausmachen kann.

Auf dein „Chapeau, Monsieur. Du bon boulot“ bin ich schon ein wenig stolz. So etwas könnte man auch einem Handwerker sagen, dem eines seiner Produkte ganz gut gelungen ist. Da Schreiben in erster Linie ein Handwerk ist, bin ich guter Hoffnung, dass ich in diese Kunst zumindest ansatzweise zu beherrschen lerne.

Lieben Gruß von
Ralph
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ji,

zunächst erst einmal auch dir ein großes Dankeschön für deinen (trotz Zeitnot) so ausführlichen Kommentar.
Beim Lesen deiner Zeilen wurde ich ziemlich hin und her gerissen. Dass du mir ein „gutes Handwerk“ und unter anderem die „Glaubwürdigkeit meiner Figuren“ bescheinigt hast, ließ – zumindest einen Moment lang – so etwas wie Selbstzufriedenheit aufkommen. Doch dank deiner kritischen Anmerkungen fand ich mich sehr schnell im Hobby-Schreiber-Alltag wieder. Im Wesentlichen sprichst du drei Dinge an, in denen dir (zum Teil erhebliche) Schwächen aufgefallen sind.

Ich beginne mal mit dem Punkt, wo ich nicht zustimmen kann oder zumindest etwas verwirrt bin. Du schreibst:
Noch ein weiterer Punkt war die Szene in der Antek ‘nachdem Liebe machen’ einschläft: Die Haustür wird mit harten Schlägen traktiert, Waffengeklirr; der Balken der Tür wird herausgewuchtet; die Tür wird aufgestossen; Soldaten stürmen in den Raum und sofort “wühlt einer der Männer in Lores Schenkeln” (diesen Satz fand auch ich nicht so angebracht ) Und Antek?? Schläft er die ganze Zeit? Hört er nichts? Wacht er nicht auf? Irgendwie hat man ihn hier an dieser Stelle vergessen.
Okay – das mit dem „Wühlen“ ist wohl eine Spur zu drastisch, sollte aber das derbe, rücksichtlose Vorgehen des Soldaten verbildlichen. Kann man ändern.

Aber deine Frage: „Wo war zu diesem Zeitpunkt Antek?“ kann ich nicht ganz nachvollziehen. Er springt ihr doch bei, schlägt den Mann, der Lore bedrängt“, nieder, ehe er durch den Schlag mit dem Gewehrkolben quasi kampfunfähig wird. Und dann soll er auch noch aufgespießt werden, was Lore zu verhindern sucht, indem sie sich vor ihn wirft.

Obwohl… Je länger ich überdeine Worte nachdenke, umso mehr beginne ich zu glauben, dir Recht geben zu müssen. Kann es sein, dass du den Moment im Auge hast, als der Krach im Haus beginnt – also noch bevor die Soldaten eindringen? Stimmt! Da fehlt was. Es kann nicht sein, dass er selig weiter pennt. Ich werde sie also gemeinsam ängstlich sein lassen, und aneinander geklammert das erwarten lassen, was da an Bedrohlichem zu befürchten ist. Oder so ähnlich.

Was ich am Ende nicht ganz nachvollziehen konnte: Warum verliebt sich Lore in diesen Antek? Erklärt wird, dass er sie “immer respektvoll behandelt”, dass er nicht zu den “obergeilen” gehört, wie all die andren Männer, die sie nur im Bett haben wollen. Und als Lore dann noch erfährt, dass Antek keinerlei Erfahrungen mit Frauen hat, ist es um sie geschehen.
Dieser Punkt erschien mir ein wenig unglaubwürdig. Zum einen muss Lore ja doch eine Charakterstarke Frau sein, die mit “allen Wassern gewaschen ist”, da sie es gewohnt ist, von einem Bett ins andere zu hüpfen (weil man sie ja nur dazu benutzt). Für eine solche Frau würde Antek (meiner Meinung nach) eher wie ein “lieber Bubi” wirken.
Ja, zu diesem Ergebnis kommt CPman auch wenn er schreibt:
Das Ende, die romantische Liebe, quasi, kam für meine Begriffe nicht überzeugend genug daher.
Warum verliebt sich Lore in den Jungen? Zunächst erst einmal: Sie ist für mich keine
die mit “allen Wassern gewaschen ist”, da sie es gewohnt ist, von einem Bett ins andere zu hüpfen (weil man sie ja nur dazu benutzt)
denn es gibt vor Antek nur zwei Männer, mit denen sie einmal gewollt und einmal ungewollt intimen Kontakt hatte. Ihr Verlobter hat es nicht einmal zum Letzten kommen lassen, da er aus Glaubensgründen das „erste Mal“ der Hochzeitsnacht vorbehalten wollte. Ihr von Wernicke aufgezwungene Sex ist alles andere als dafür geeignet, Lustempfinden in ihr zu wecken. Ein solches Erleben – nämlich richtigen Sex als etwas Schönes zu empfinden – erfährt sie erstmalig durch Antek. Und weil sie das nicht mehr missen will, klammert sie sich in gewisser Weise an ihn, wobei ich dir zustimmen muss, dass daraus noch nicht gleich die „große Liebe“ erwächst. Viel Stoff für mich, alles noch einmal neu zu durchdenken.
Denn, und dies ist der zweite Punkt: Viel erfahren wir ja nicht über ihn, ausser, dass er mit glasigem Blick auf ihre Schenkel blickt und umbedingt mal "mit ihr will". Es wird beschrieben, dass er weint, als er zuerst zurückgewiesen wird, aber ist das der Grund, warum eine "erfahrene Frau" sich in einen 16 jährigen auf diese Weise verliebt?
Ein wenig mehr Charakterstärke für Antek würde das Verliebtsein der Frau vielleicht verständlicher machen, ein wenig mehr “Komplizität”: Vielleicht sollte Antek auch gleich in die Bibliotheks Szene mit eingebaut werden. Es könnten Szenen entstehen in denen er die “groben Manieren” der Männer Lore gegenüber genauestens registriert, während er ihr jedoch ein Gefühl der Komplizität und des Beschützsein gibt. Auf diese Weise würde die Struktur der Geschichte auch ein wenig “runder wirken”, da sie am Anfang auf eine gewisse Weise in zwei geteilt ist: Die Männer unter sich – und später nur noch Lore und Antek
Hier muss ich dir (das Zähneknirschen hält sich in erträglichen Grenzen) uneingeschränkt zustimmen. Über Antek als Persönlichkeit erfährt der Leser so gut wie nichts. Nicht mal sein Äußeres wird beschrieben. Ein Riesenmangel!
In meinem Roman(noch)fragment besitzt Antek nur eine kleine Nebenrolle. Selbst Lore ist lediglich eine von mehreren Hauptpersonen. Und eine Liebe zwischen ihr und Antek entsteht auch nicht. Sie lässt ihn nur aus Mitleid gewähren.
Wäre ich eine Frau, hätte dieses zu einer Erzählung vergewaltigte Romankapitel vielleicht ganz anders ausgesehen. Wie ich schon in meiner Antwort an CPman erwähnte, sollte man als Mann wohl lieber nicht die Perspektive einer Frau wählen. Das kommt noch hinzu.
Wie gesagt, eure Kritiken geben mir viel Anlass, den Text inhaltlich zu überdenken. Aber damit werde ich mir Zeit lassen. Im Moment sehe ich in ihm eher ein nur zum Teil geglücktes Experiment.
Nochmals vielen Dank für die recht intensive Beschäftigung mit dieser Erzählung und dem daraus resultierenden – alles andere als wirren – Kommentar.
Es grüßt
Ralph
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo PEEP,

auch dir herzlichen Dank für deinen Kommentar und die Bewertung. Drei Kommentare mit drei Sichtweisen. Das macht richtig Spaß, sie zu lesen und darüber nachzudenken.

Was mich an deinen (mit wahrscheinlich zu hochlobenden Worten) Ausführungen besonders gefreut hat, ist folgender Satz:

Anderen widersprechend, finde ich nicht, dass der Schwerpunkt auf die Liebesbeziehung zwischen Wopczek und einer gebeutelten Frau liegt, die lange missbraucht wurde. Der Tenor liegt für mich in der Gesamtheit und der Ableitung des primären Geschehens zwischen den Hauptprotas, nämlich dass es auch lebenswerte Momente in der Hölle des Kriegs geben kann. Aber der Text verteufelt den Krieg trotzdem als das, was er ist.
Ich muss ehrlich gestehen, dass dieser Aspekt beim Schreiben höchstens im Unterbewusstsein vorhanden war. Deine Worte haben diesen Gesichtspunkt nun ins Bewusstsein katapultiert. Danke.

Gruß Ralph

PS: Deine PN’s aus den letzten Tagen sind nicht in Vergessenheit geraten. Ich habe momentan nur ne Menge andere Dinge um die Ohren. Aber du hörst von mir.
 



 
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