Pars pro toto

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Owly

Mitglied
Ein andächtiger Grauschleier wog den jungen Morgen schwer. Nebelschwaden zogen vorbei, während wir eine Landstraße entlangfuhren. Sie waren langsam, wie man es von Nebelschwaden erwartet, doch wir schienen noch langsamer zu sein. Überhaupt schien alles andere einer beunruhigenden Langsamkeit unterworfen und totenstill war es, gleich einer Beerdigung.

Es lag kein Salz auf der Straße. Warum lag kein Salz auf der Straße? Richtig, es war Herbst.

Drei unbekannte Männer, Jelena und ich, wir schwiegen während der Fahrt, allerdings unterschied sich unser Schweigen stark voneinander. Die Unbekannten schwiegen, weil sie keine Rolle spielten, meine ehemalige Freundin schwieg, um ihr kommendes Tun zu artikulieren und ich tat es, weil ich es nicht besser wusste, weil alles um mich herum wider besseren Wissens existierte.

Alte Brunnen kann man nicht mehr trocken legen.

Ich besah die Umgebung. Von Frost bedeckte Wiesen, die sich wie kleine Schutzwälle neben uns auftürmten, wurden gelegentlich von den knorrigen Überresten eines Laubwaldes unterbrochen. Kein Ast, kein Grashalm bewegte sich unter der Schwere der augenblicklichen Atmosphäre. Ich konzentrierte mich auf die Geräusche des Autos, um festzustellen, ob wir tatsächlich fuhren. Der Motor war genausowenig zu hören, wie die Reifen auf der Straße. Wenn, dann glitten wir dahin.

Von Leitplanken geschützte Abgründe sind ein Symbol für Superheldentum. So die verformte(?) Erinnerung.

Eine riesige Weidefläche, über und über bedeckt mit verdorrten Trauerkränzen, starrte wie ein geisterhaftes Regiment ausgehöhlt in die sinnverwandte Leere des Horizonts.
\"Was sollen die Kränze da?\" Meine Frage konnte das Schweigen der anderen nicht brechen.

Der Schnitt ist tiefer als die vorigen. Er tut nicht weh. Noch nicht.

Wir waren ausgestiegen, die zwei unbekannten Männer, Jelena und ich, und standen auf einer der Wiesen, die ich eben noch fern, wie aus einer anderen Welt, glaubte. Jelena trug ein langes, weißes Seidenkleid und war dazu barfuß. In ihren Armen hielt sie, eingewickelt in weißem Stoff, der dem ihres Kleids glich, ein Neugeborenes, dessen Geschlecht ich nicht ausmachen konnte. Wir gingen ein paar Schritte, bis Jelena mit einer Frage an mich die Gesetze der allumfassenden Stille umschrieb:
\"Weißt du, was ein Baby in Gefahr tut?\"
\"Es schreit.\" Entgegnete ich ihr ohne zu zögern.
\"Falsch!\" Schrie sie mich an, zeigte sich aber umgehend wieder beruhigt.
Wir kletterten, Jelena voraus, den zarten Anstieg der Wiese hoch und machten in einer Ecke Halt, die von verwitterten Büschen gesäumt war. Vor uns lag ein kleiner Tümpel mit dreckig grünem Wasser und tief wie die Erde selbst. Jelena kniete vor ihm nieder, packte das kleine Bündel Mensch aus und legte es auf den kalten Boden, so dass sein Kopf über die Kante des Wasserlochs ragte und bereits bis zum vorderen Haaransatz eintauchte, als wollte man es taufen. Mit ihrer linken Hand fixierte sie den Bauch des Säuglings, damit er sich nicht rauswinden konnte, und mit der rechten überstreckte sie seinen Nacken, bis ein dumpfes Knacken zu hören war, wie wenn man mit geschlossenem Mund eine Erdnuss zerkaut. Sein Gesicht war jetzt nur noch als schemenhafte Fratze durch das faulige Wasser zu erkennen und weckte Erinnerungen an Inklusen urtümlicher Insekten. Unter kränklichem Gurgeln füllten sich Lunge und Magen des Kindes mit der Brühe, der es selbst Nahrung sein würde. Es dauerte nicht lange, da zeigte sich die Oberfläche des nassen Grabs wieder beruhigt.
Das Baby schrie nicht.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Owly,

herzlich willkommen im "grünen" Forum!

Dein Text ist mir sehr "an die Nieren" gegangen. Brutal und intensiv - viel gibt es da wohl nicht hinein zu interpretieren.
Oder?

Gruß, kageb
 

Owly

Mitglied
Hallo und vielen Dank für den Empfang!

Der Text ist mehr Traumdichtung, denn bewusste Erarbeitung und legt wenige (wenn überhaupt) Fährten für Interpretationsansätze.

Der Inhalt spiegelt meine zwiespältigen Gefühle gegenüber Elternschaft wider. Ich bin ein eher untypisches Exemplar der Generation junger Leute, die "auf gar keinen Fall" Kinder haben wollen. Nicht der Karriere wegen, sondern, ganz Schopenhauerianer, um einsam strebsam zu sein. Ich kann mir gut vorstellen später einmal als netter Almöhi auf einer Biofarm zu leben.
Nichtsdestotrotz, seit vor vier Jahren meine Nichte zur Welt gekommen ist, finde ich es ungemein befriedigend mit ihr rumzublödeln und aufwühlend, an die schlimmen Dinge zu denken, die ihr zustoßen können. Kurz: Ich fühle mich ihr gegenüber so verpflichtet, wie ich mich wohl auch als Vater verpflichtet fühlen würde. Das irritiert mich zuweilen.

Gruß,
die Eule
 

Owly

Mitglied
Ein andächtiger Grauschleier wog den jungen Morgen schwer. Nebelschwaden zogen vorbei, während wir eine Landstraße entlangfuhren. Sie waren langsam, wie man es von Nebelschwaden erwartet, doch wir schienen noch langsamer zu sein. Überhaupt schien alles andere einer unnatürlichen Langsamkeit unterworfen und noch dazu war es totenstill. Ich fühlte mich wie auf dem Weg zu einer Beerdigung.

Es lag kein Salz auf der Straße.
Warum lag kein Salz auf der Straße? Richtig, es war Herbst...


Drei unbekannte Männer, Jelena und ich, wir schwiegen während der Fahrt, allerdings unterschied sich unser Schweigen stark voneinander. Die Unbekannten schwiegen, weil sie keine Rolle spielten, meine ehemalige Freundin schwieg, um die Zukunft vorherzusagen und ich tat es, weil ich es nicht besser wusste, weil alles um mich herum wider besseren Wissens existierte.

Alte Brunnen kann man nicht mehr trocken legen.

Ich besah die Umgebung. Frostbedeckte Wiesen, die sich wie römische Schutzwälle neben uns auftürmten, wurden gelegentlich von den knorrigen Überresten eines Laubwaldes durchbrochen. Kein Ast, kein Grashalm bewegte sich unter der Schwere dieser geisterhaften Atmosphäre. Ich konzentrierte mich auf die Geräusche des Autos, um festzustellen, ob wir tatsächlich fuhren, doch da war nichts. Der Motor war ebenso wenig zu hören, wie die Reifen auf dem rissigen Asphalt. Wenn, dann glitten wir buchstäblich dahin.

Von Leitplanken geschützte Abgründe sind ein Symbol für Superheldentum. So die verformte(?) Erinnerung.

Eine riesige Weidefläche, über und über bedeckt mit verdorrten Trauerkränzen, starrte wie ein untotes Regiment ausgehöhlt in die sinnverwandte Leere des Horizonts, den ich zu meiner Linken vermutete, ohne ihn jedoch dort zu wissen.
"Was sollen die Kränze da?" Meine Frage konnte den Bann des allgemeinen Schweigens nicht lösen.

Der Schnitt ist tiefer als die vorigen. Er tut nicht weh. Noch nicht.

Wir waren ausgestiegen, die zwei unbekannten Männer, Jelena und ich, und standen auf einer der Wiesen, die ich eben noch fern, wie aus einer anderen Welt, glaubte. Jelena trug ein langes, weißes Seidenkleid und war dazu barfuß. In ihren Armen hielt sie, eingewickelt in weißem Stoff, der dem ihres Kleids ähnelte, jedoch ungleich plumper wirkte, ein Neugeborenes, dessen Geschlecht ich nicht ausmachen konnte. Wir gingen ein paar Schritte, bis Jelena mit einer Frage an mich die Gesetze der allumfassenden Stille umschrieb:
"Weißt du, was ein Baby in Gefahr tut?"
"Es schreit." Entgegnete ich wie selbstverständlich.
"Falsch!" Schrie sie mich an, zeigte sich aber umgehend wieder beruhigt.
Wir kletterten, Jelena voraus, den zarten Anstieg der Wiese hoch und machten in einer Ecke Halt, die von verwitterten Büschen gesäumt war. Vor uns lag ein kleiner Tümpel mit dreckig grünem Wasser und tief wie die Erde selbst. Jelena kniete vor ihm nieder, packte das erbarmungswürdige Bündel Mensch aus und legte es auf den kalten Boden, so dass sein Kopf über die Kante des Wasserlochs ragte und bereits bis zum vorderen Haaransatz eintauchte, als wollte man es taufen. Mit ihrer linken Hand fixierte sie den Bauch des Säuglings, damit er sich nicht rauswinden konnte, und mit der rechten überstreckte sie seinen Nacken, bis ein dumpfes Knacken zu hören war, wie wenn man mit geschlossenem Mund eine Erdnuss zerkaut. Sein Gesicht war jetzt nur noch als schemenhafte Fratze durch das faulige Wasser zu erkennen und weckte Erinnerungen an Inklusen urtümlicher Insekten. Unter kränklichem Gurgeln füllten sich Lunge und Magen des Kindes mit der Brühe, der es selbst Nahrung sein würde. Es dauerte nicht lange, da zeigte sich die Oberfläche des nassen Grabs wieder beruhigt.
Das Baby schrie nicht.
 

Owly

Mitglied
Ein andächtiger Grauschleier wog den jungen Morgen schwer. Nebelschwaden zogen vorbei, während wir eine Landstraße entlangfuhren. Sie waren langsam, wie man es von Nebelschwaden erwartet, doch wir schienen noch langsamer zu sein. Überhaupt schien alles andere einer unnatürlichen Langsamkeit unterworfen und totenstill war es, wie auf dem Weg zu einer Beerdigung.

Es lag kein Salz auf der Straße.
Warum lag kein Salz auf der Straße? Richtig, es war Herbst...


Drei unbekannte Männer, Jelena und ich, wir schwiegen während der Fahrt, allerdings unterschied sich unser Schweigen stark voneinander. Die Unbekannten schwiegen, weil sie keine Rolle spielten, meine ehemalige Freundin schwieg, um die Zukunft vorherzusagen und ich tat es, weil ich es nicht besser wusste, weil alles um mich herum wider besseren Wissens existierte.

Alte Brunnen kann man nicht mehr trocken legen.

Ich besah die Umgebung. Frostbedeckte Wiesen, die sich wie römische Schutzwälle neben uns auftürmten, wurden gelegentlich von den knorrigen Überresten eines Laubwaldes durchbrochen. Kein Ast, kein Grashalm bewegte sich unter der Schwere dieser geisterhaften Atmosphäre. Ich konzentrierte mich auf die Geräusche des Autos, um festzustellen, ob wir tatsächlich fuhren, doch da war nichts. Der Motor war ebenso wenig zu hören, wie die Reifen auf dem rissigen Asphalt. Wenn, dann glitten wir dahin.

Von Leitplanken geschützte Abgründe sind ein Symbol für Superheldentum. So die verformte(?) Erinnerung.

Eine riesige Weidefläche, über und über bedeckt mit verdorrten Trauerkränzen, starrte wie ein untotes Regiment ausgehöhlt in die sinnverwandte Leere des Horizonts, den ich zu meiner Linken vermutete, ohne ihn indes wirklich dort zu wissen.
"Was sollen die Kränze da?" Meine Frage konnte den Bann des allgemeinen Schweigens nicht lösen.

Der Schnitt ist tiefer als die vorigen. Er tut nicht weh. Noch nicht.

Wir waren ausgestiegen, die zwei unbekannten Männer, Jelena und ich, und standen auf einer der Wiesen, die ich eben noch fern, wie aus einer anderen Welt, glaubte. Jelena trug ein langes, weißes Seidenkleid und war dazu barfuß. In ihren Armen hielt sie, eingewickelt in weißem Stoff, der dem ihres Kleids ähnelte, jedoch ungleich plumper wirkte, ein Neugeborenes, dessen Geschlecht ich nicht ausmachen konnte. Wir gingen ein paar Schritte, bis Jelena mit einer Frage an mich die Gesetze der allumfassenden Stille umschrieb:
"Weißt du, was ein Baby in Gefahr tut?"
"Es schreit." Entgegnete ich wie selbstverständlich.
"Falsch!" Schrie sie mich an, zeigte sich aber umgehend wieder beruhigt.
Wir kletterten, Jelena voraus, den zarten Anstieg der Wiese hoch und machten in einer Ecke Halt, die von verwitterten Büschen gesäumt war. Vor uns lag ein kleiner Tümpel mit dreckig grünem Wasser und tief wie die Erde selbst. Jelena kniete vor ihm nieder, packte das erbarmungswürdige Bündel Mensch aus und legte es auf den kalten Boden, so dass sein Kopf über die Kante des Wasserlochs ragte und bereits bis zum vorderen Haaransatz eintauchte, als wollte man es taufen. Mit ihrer linken Hand fixierte sie den Bauch des Säuglings, damit er sich nicht rauswinden konnte, und mit der rechten überstreckte sie seinen Nacken, bis ein dumpfes Knacken zu hören war, wie wenn man mit geschlossenem Mund eine Erdnuss zerkaut. Sein Gesicht war jetzt nur noch als schemenhafte Fratze durch das faulige Wasser zu erkennen und weckte Erinnerungen an Inklusen urtümlicher Insekten. Unter kränklichem Gurgeln füllten sich Lunge und Magen des Kindes mit der Brühe, der es selbst Nahrung sein würde. Es dauerte nicht lange, da zeigte sich die Oberfläche des nassen Grabs wieder beruhigt.
Das Baby schrie nicht.
 



 
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