Patchwork

Raniero

Textablader
Patchwork

Seit gut zwei Wochen nun waren sie schon unterwegs, kreuz und quer durchs Land, das Moderatorenpaar eines öffentlich rechtlichen Fernsehsenders mitsamt der ganzen Crew vom Regisseur bis zum Kabelwart, um eine Reportage über sogenannte Patchworkfamilien durchzuführen, die jeweils life im gesamten Bundesgebiet ausgestrahlt wurde. Patchwork, das war die neue aus dem Englischen entlehnte Bezeichnung für eine Familienkonstellation besonderer Art, die allerdings nicht den neuesten Schrei, darstellte, sondern schon im Altertum bekannt war, nur dass man dem Kind einen neuen Namen gegeben hatte. Mit diesem Ausdruck bezeichnete man den Zusammenschluss zweier vorher eigenständiger Familien, der infolge des Verlustes zweier verschiedener Elternteile durch Trennung entstanden war und somit die neue Gemeinschaft bildete.
In der Praxis sah dieses beispielsweise so aus: ein verwitweter Mann heiratete eine geschiedene Frau, und beide Partner brachten ein oder mehrere Kinder aus der vorherigen Verbindung in die neue Lebensgemeinschaft ein, die dann im Laufe der Zeit zu einer Art Großfamilie zusammenwuchsen.
In diesen neuen Familien konnte eine solche Konstellation gar schon so manch ungewöhnliche und interessante Blüten treiben. So geschah es zuweilen, dass aus einer derartigen Großfamilie neue Familien entstanden, ohne fremde Beteiligung, indem die neuen Stiefgeschwister, die ja nicht miteinander blutsverwandt waren, aneinander Gefallen fanden, untereinander heirateten und auf diese Weise für eine lineare Fortsetzung ihrer Patchworkfamilie sorgten; einen speziellen Ausdruck für eine derartige Fortsetzung hatten aber selbst die sprachgewaltigsten Geister noch nicht ge- oder erfunden.
Im Rahmen ihrer Einzelreportagen vor Ort, bei der nacheinander zwanzig dieser Familien aufgesucht werden sollten, die im Vorfeld aus einer Bewerberzahl von zweihundert solcher Vereinigungen herausgefiltert worden waren, hatte sich das Fernsehteam das Ziel gesetzt, die ideale Familie zu ermitteln resp. auszuwählen, sozusagen die deutsche Patchworkfamilie. Diese Auswahl erfolgte nach einem Verfahren, wie es in den letzen Jahren vor allem bei kommerziellen Sendern gang und gäbe war, und dessen allgemeinem Trend sich nun auch die Öffentlich Rechtlichen nicht mehr entziehen konnten; man ließ die Zuschauer draußen an den Bildschirmen entscheiden, per Telefon. Hierbei war der Gesamteindruck zu bewerten, den die einzelne Familie bei ihrer Vorstellung hinterließ. Das taten die Fernsehzuschauer denn auch, und nachdem das Team nun die Hälfte der Großfamilien aufgesucht hatte, lagen noch alle Kandidatenfamilien nah bei einander, nach Punkten, und die zweite Halbzeit versprach eine Fortsetzung an Spannung zu bringen. Für den nächsten Tag galt der Besuch einer Familie an der norddeutschen Küste, und die gesamte Crew feierte am Abend ein sogenanntes Bergfest, um damit zu unterstreichen, dass die Hälfte der Strecke zurückgelegt sei.

Am folgenden Morgen machte sich das Team trotz der vorangegangenen Feier zeitig auf den Weg, um bei der nächsten Großfamilie, der elften, in einem schönen Einfamilienhaus in schicker Wohngegend unweit des offenen Meeres, dessen Rauschen man bis dorthin hören konnte, vorstellig zu werden. Selbstverständlich war der Besuch der Fernsehmannschaft von Mitarbeitern der Zentrale des Sender, wie alle anderen zuvor auch, rechtzeitig avisiert worden, und das Team, an der Spitze das Moderatorenpaar, zeigte sich verwundert, dass sich niemand, nicht einmal die Kinder der Familie, zur Begrüßung eingefunden hatte.
Energisch und ein wenig verärgert drückte die junge Moderatorin, an ihrer rechten Seite ihren Kollegen und zu ihrer Linken den Regisseur mit den zahlreichen Gastgeschenken für Eltern und Kinder, hinter ihr die Kameraleute mit gezückten Objektiven, die Klingel des Hauses. Eine Zeitlang rührte sich nichts im Hause, was darauf hinwies, dass man das akustische Signal dort gehört hätte. Die Mitglieder des Fernsehteams schauten sich ungläubig an. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.
Da war man nun angerückt, mit Mann und Maus, um Dreharbeiten für eine der populärsten Sendungen im ganzen Land zu machen, und dann ein solcher Empfang resp. gar kein Empfang. Die junge Dame drückte erneut auf den Klingelknopf, eine Spur energischer. Es rührte sich noch immer nichts. Schon machte die gesamte Mannschaft enttäuscht und verärgert Anstalten zum Aufbruch, um mit Sack und Pack, den Spielzeugen und Süßigkeiten für die lieben Kleinen, den Blumen für die Patchworkmutter und dem Schnaps nebst Zigarren für den Patchworkvater, wieder abzurücken, als man aus dem Innern des Hauses ein schlurfendes Geräusch vernahm. Schließlich wurde die Haustür geöffnet und ein älterer kleinwüchsiger Mann so um die Siebzig erschien auf der Schwelle.
Als er die vielen fremden Personen sah, reagierte er ein wenig verschreckt.
„Was wollen Sie? Ist das ein Überfall? Unsere Eltern sind nicht zu Hause!“
Die Moderatorin blickte zuerst ungläubig den Alten an, sodann ihre Kollegen, die ebenso verblüfft dreinschauten. Waren sie versehentlich in der falschen Sendung gelandet, oder spielte ihnen jemand einen üblen Streich nach dem Motto ‚Versteckte Kamera‘?
Vorsichtig wandte sie sich an den alten Herrn auf der Türschwelle, wobei sie auf einen kleinen Zettel in ihrer Hand blickte.
„Wir wollten eigentlich zur Familie N., aber ich glaube, wir haben uns in der Tür geirrt. Wir sind vom Fernsehen und suchen diese Familie. Wissen Sie, das ist so eine Großfamilie, man nennt sie auch Patchworkfamile“.
Trocken antwortete der Alte:
„Ich weiß, was eine Patchworkfamilie ist. Sie sind schon richtig hier, wir sind diese Familie, und ich bin der Sohn. Aber wie gesagt, unsere Eltern sind nicht zu Hause“.
Die Moderatorin musste sich beherrschen, dass ihr das Mikrofon nicht aus der Hand glitt, und den anderen Mitgliedern des Teams erging es ebenso, mit den Utensilien und Geschenken, die sie in den Händen hielten.
Währendessen fuhr der Alte ungerührt fort:
„Das heißt, ich bin nicht der einzige Sohn dieser Familie, es gibt noch mehr davon, und da sind auch noch ein paar Töchter. Ja, wir sind schon eine recht große Familie geworden, und wer hätte das gedacht, dass ich einmal in meinem Alter noch so viele Geschwister bekäme“.
„Sie wollen damit sagen“, stammelte die ansonsten sehr eloquente Moderatorin, „dass Sie zu dieser Familie gehören. Dass Sie ein Kind einer solchen Familie sind, in Ihrem Alter? Das gibt’s doch nicht!“
„Aber meine Dame“, entgegnete der alte Patchworksohn, warum soll ich denn kein Kind sein? Kind ist man von Geburt an, ein jeder von uns, und das bleibt man ein Leben lang, auch wenn die Eltern längst verstorben sind. Sie sind doch auch ein Kind, gute Frau, ein Kind von irgendwem; kommen Sie mir nicht damit, dass Sie keine Eltern haben oder zumindest einmal hatten oder dass Sie nicht einmal geboren sind!“
Der Regisseur neben der Moderatorin versuchte krampfhaft, ein Lachen zu unterdrücken, während der Kollege zu ihrer Rechten hilflos zur Seite blickte.
Die junge Dame wurde knallrot im Gesicht, ob vor Verlegenheit oder vor Wut darüber, dass man ihre Geburt in Frage stellen könnte, war nicht zu erkennen.
„Natürlich sind wir alle Kinder, irgendwie“, schrie sie mit lauter Stimme und hielt vor lauter Aufregung das Mikrofon vor den eigenen Mund, statt es dem Alten entgegen zu strecken, sodass man sie überdeutlich im Übertragungswagen auf der anderen Straßenseite hören konnte, „aber Sie sind doch kein Kind aus einer solchen Familie?“
„Als ein solches wurde ich natürlich nicht geboren, da muss ich Ihnen Recht geben“, entgegnete der Alte mit ruhiger Stimme, „aber seit einiger Zeit bin ich aber wirklich ein Kind so einer Familie. Aber ich bitte Sie, gnädige Frau“, fasste er die Moderatorin behutsam an den Arm, nachdem er bemerkt hatte, dass diese kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, „kommen Sie doch bitte herein, Sie alle miteinander“, wandte er sich an die übrigen Mitglieder des Teams, „ich schau mal, ob wir noch einen Kaffee haben“.
Die junge Dame ließ sich von dem älteren Herrn wie ein Kind ins Haus führen, wie ein Kind am Arm ihres Vaters.
Die anderen folgten mit einem Gefühl aus Neugier und Mitgefühl für ihre Kollegin den beiden bis in die Wohnstube, wo der Alte die gesamte Crew, soweit das möglich war, Platz nehmen ließ; sodann rief er mit lauter stimme in Richtung obere Etage:
„Helmut, Barbara, Ingeborg, Johann, Rudolf, Annegret! Kinder, könnt ihr mal runterkommen? Überraschung!“
Nach wenigen Minuten trafen sie alle ein, nacheinander, die Kinder der Patchworkfamilie, wie die Zwerge resp. Zwerginnen aus der Schneewittchenstory.
In der Tat waren sie zusammen sieben ‚Kinder‘, alle im fortgeschrittenen bis höheren Alter, drei Maderl und vier Buben, der Älteste, Ottokar, der ihnen die Tür geöffnet hatte, mit einundsiebzig, bis hin zur Jüngsten, Annegret, die immerhin auch schon stolze neunundfünfzig Lenze aufwies; sie alle bildeten, wie sie fröhlich verlauten ließen, die Kinder dieser ungewöhnlichen Familie.
„Unsere Eltern sind aber nicht zuhause“, erklärten sie dem Fernsehteam.
Während man zwischenzeitlich der jungen Moderatorin ein Glas Wasser und eine Beruhigungstablette gereicht hatte, war es der Regisseur, der sich als erster wieder gefangen hatte.
„Wenn ich Recht verstanden habe, und ich spreche hier im Namen des gesamten Teams“, setzte er vorsichtig zu einer Frage an, „wollen Sie uns glauben machen, dass Sie alle sieben verschwistert sind, untereinander, aber nicht von den gleichen Eltern abstammen, sondern von verschiedenen Elternteilen?“
„So ist es, tatsächlich“, antwortete Ottokar, der Patchworkälteste „und wir wollen Ihnen dieses nicht wahr machen, es ist wahr, mein Herr, und wenn ich mich nicht irre, haben es die Leute von Ihrem Sender ja nachgeprüft, sonst wären sie ja jetzt nicht hier“.
Nun war es an dem Regisseur, die Gesichtsfarbe zu wechseln, vom Frischgebräunlten ins Tiefrote,, wobei die Scham den Zorn überwog; die Scham darüber, nicht auf dem laufenden zu sein, über die einzelnen Verhältnisse der zu besuchenden Familien und der Zorn über die Kollegen beim Sender, die ihm diese Blamage offensichtlich eingebrockt hatten, durch schlampige Recherchen. Die würde er sich noch vorknöpfen, diese Kollegen, zumindest diejenigen, die in der Hierarchie unter ihm standen.
„Lieber Freund“, wandte er sich flehentlich an Ottokar, den Senioren der unterschiedlichen Geschwister, „nichtsdestoweniger ist meines Erachtens aber eine Patchworkfamilie eine Familiengemeinschaft, bei der zwei verschiedene Elternteile mit jeweils unmündigen Kindern eine Verbindung eingehen, mit kleinen bis höchstenfalls pubertierenden Kindern, aber doch nicht...“
„Wo steht denn geschrieben, guter Mann“, schnitt ihm der Alte im scharfen Tonfall das Wort ab, „dass der Nachwuchs einer solchen Gemeinschaft unmündig sein muss? Wo ist etwas über das Alter dieser Kinder festgeschrieben? Nein, sehen Sie“, fuhr er etwas versöhnlicher fort, „wir sind zwar alle nicht mehr unmündig, über dieses Alter sind wir bereits hinaus. Aber wir alle sieben sind, und darauf legen wir großen Wert, noch unverheiratet, bis zum heutigen Tage, und wir lebten zuvor als Geschwister in unseren damaligen Familien und leben nun, nachdem unsere beiden Elternpaare sich getrennt haben, gemeinsam mit einem Teil unserer ehemaligen Eltern, die vor zwei Jahren den Bund der Ehe geschlossen haben, Mutter mit neunzig und Vater mit zweiundneunzig, als Großfamilie zusammen. Sagen Sie doch mal ehrlich, bilden wir nicht einen schönen Verein, wir sieben, mit unseren Eltern? Natürlich, ein Wermutstropfen ist dabei; wir alle sind Scheidungskinder, aus getrennten Ehen, aber zusammen werden wir es schon meistern“.
Bei diesen Worten blickten die anderen sechs Geschwister ihren großen Bruder mit glänzenden Augen der Zustimmung an.
Der Regisseur und die Mitarbeiter der Mannschaft gerieten ins Grübeln. Von dieser Warte aus hatten sie den Fall noch nicht betrachtet. Da die meisten von ihnen
ebenfalls aus geschiedenen Ehen stammten, mussten sie zu ihrer Verblüffung erkennen, dass sie alle, wenn sie auch nicht mehr daheim bei den Eltern lebten, die Voraussetzungen für den Status von Patchworkkindern hatten, und in ihnen keimte das Gefühl auf, fast selbst in einer derartigen Familie zu leben, in einer Öffentlich Rechtlichen sozusagen.
Eine Frage aber lag dem Regisseur, bevor sich die ganze Crew auf die Dreharbeiten stürzte, am Herzen:
„Sie sagten zu Beginn, ihre Eltern seien nicht daheim. Wo, bitte, sind sie denn im Moment?“
„Na, zum Jogging natürlich, das lassen sie nie ausfallen“, ertönte die Antwort aus sieben Patchworkkehlen.

Es erübrigt sich, zu erwähnen, wer bei der Publikumsabstimmung über die ideale Großfamilie den Sieg davongetragen hat.
 
Lieber Raniero,

Nur ein paar Korekturen:
Anstelle von "life" schreibt man "live" für "Direktübertragung".

Eine Zeitlang rührte sich nichts im Hause, was darauf hinwies, dass man das akustische Signal dort gehört hätte.
So wie das da steht, ist das verwirrend. Da ist ein Komma an der falschen Stelle. "Es rührt sich nichts im Haus, deshalb hat man das Signal gehört?" Flüchteten die alle?

Du liebst diese geriatrischen Themen wohl? ;-)

Marius
 

Raniero

Textablader
Hallo Marius,

in Anbetracht meines fast schon biblisch zu nennenden Alters wird es für mich nun höchste Zeit, mich vermehrt mit geriatrischen Themen zu befassen.:)

Gruß Raniero
 



 
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