Paul's lSchrei

Raniero

Textablader
Paul’s Schrei

„Tonstudio Hastetöne“, Bruno Voßkamp am Telefon, „was kann ich für Sie tun?“
„Hallo“, meldete sich eine männliche Stimme undefinierbaren Alters, „bin ich dort richtig bei einem Tonstudio?“
„Jawohl, mein Herr, das sagte ich bereits, hier ist das Tonstudio Hastetöne, was haben Sie denn für einen Wunsch?“
„Ja, ähm, mein Name ist Schraubvogel, Heribert Schraubvogel. Tja, wie soll ich sagen, ich brauchte dringend einen speziellen Ton, haben Sie so einen vielleicht auf Lager?“
„Oh, nur einen Ton, Herr Schraubvogel“, lachte Bruno Voßkamp, „mehr nicht? Wir verfügen über eine ganze Palette von Tönen, wir sind nämlich ein Tonstudio, wir produzieren soviel Töne, dass wir gar nicht mehr wissen, wohin damit. Dürfen es nicht vielleicht zwei oder gar mehrere Töne sein, wir hätten da etwas im Angebot. Allerdings, auf Lager haben wir nun diese Töne nicht gerade, wir müssen sie schon produzieren. Was für eine Art Ton sollte es denn sein?“
„Na, ja, eigentlich soll es auch nicht nur ein einzelner Ton sein, sondern eher eine Tonfolge; kurz und gut, ich bin auf der Suche nach einem Schrei, einem richtigen lang gezogenen Schrei.“
„Oh, ein Schrei, Herr Schraubvogel, und dazu sogar ein lang gezogener. Das ist ja schon eine ganze Reihe von Tönen. Aber, kein Problem, das haben wir auch da bzw. können wir Ihnen auf Wunsch liefern. Soll es ein bestimmter Schrei sein? Ich meine, haben Sie schon eine Vorstellung?“
„Die habe ich, in der Tat. Mein Wunsch ist ein ganz bestimmter Schrei und er muss verschiedene Kriterien erfüllen.“
„Wie meinen Sie“ zeigte sich der Angestellte des Tonstudios irritiert, „welche Kriterien soll der Schrei denn erfüllen?“
„Nun, wie ich schon sagte, ich möchte keinen einen Allerweltsschrei oder irgend so ein Otto Normalverbraucher Gebrüll, nein, der Schrei, den ich wünsche, muss verschiedenste Gefühle ausdrücken, eine ganze Skala davon beinhalten, angefangen von namenloser Erleichterung nach einer Periode drangvoller Enge über das Nachlassen von angestauter Wut bis hin zu einer schier unglaublichen Verzückung über den endlich herbeigesehnten Zustand, verstehen Sie?“
Bruno Voßkamp bejahte, obwohl er absolut nichts verstanden hatte.
„Aus diesem Grund“, fuhr der Kunde fort, „kommt natürlich weder ein spitzer Schrei noch ein kurzer dumpfer Ton in Frage, denn damit kann man all diese Gefühle nicht einmal ansatzweise herüberbringen.“
„Natürlich“, erwiderte der Tonhändler. Langsam wurde ihm die ganze Sache ein wenig mulmig; obwohl er von Berufswegen mit zahlreichen Exzentrikern zu tun hatte, konnte er sich nicht an eine derartig aberwitzige Nachfrage erinnern.
„Doch wissen Sie was“, erklärte Heribert Schraubvogel, „ich habe bereits eine Vorstellung, von dem was brauche, mir schwebt da schon etwas vor, ein unverwechselbarer Schrei, ich habe ihn sozusagen vor Augen resp. Ohren.“
„Sie haben ihn bereits vor Augen, ich meine vor den Ohren?“
Der Mann aus dem Tonstudio wusste nicht mehr, was er davon halten sollte; was wollte der Kerl denn dann noch von ihm, der war ja verrückt.“
„Jawohl, Herr Voßkamp, der Schrei, den ich meine, kommt meinen Vorstellungen recht nah.“
„Wie meinen Sie das, Herr Schraubvogel? Wollen Sie damit sagen, dass es diesen Schrei schon gibt, dass er schon existiert? Ich dachte, wir sollen ihn für Sie eigens herstellen.“
„Natürlich existiert er schon, dieser Schrei, allerdings noch nicht ganz so, wie ich ihn mir als Endprodukt vorstelle. Kennen Sie die Beatles, ich meine die Musik dieser unsterblichen Band.“
Voßkamp hatte von der Musik gehört, obwohl er einige Generationen später geboren war, allerdings kannte er nicht viele der Songs.
„Ich meine da ein ganz bestimmtes Stück, das Lied: ‚I saw her standing there’ , das ist ein Song aus der frühen Ära der Gruppe.“
Dieses Lied kannte Bruno Voßkamp bedauerlicherweise nicht.
„Doch was hat dieses Lied mit Ihrem Wunsch zu tun, Herr Schraubvogel?“
„Das will ich Ihnen gern erklären. Haben Sie es zufällig da?“
„Da muss ich im Archiv nachsehen.“


Einige Minuten blieb es still, in der Leitung, dann aber ertönte Paul Mac Cartney’s ruppige Stimme: „Just seventin, you know, what I mean…“
„Das ist es, Herr Voßkamp“, schrie Heribert Schraubvogel beglückt in den Hörer, „achten Sie auf die Stelle nach dem zweiten Refrain, unmittelbar vor dem Gitarrensolo, hören Sie genau hin!“
Bruno Voßkamp konzentrierte sich voll auf den Song, den er bis dahin noch nie gehört hatte, und da brach er auch schon herein, mit Urgewalt, dieser Schrei, von dem selbst Tarzan hätte lernen können.
‚ Dieser Schrei enthält tatsächlich fast alle Merkmale, alle Gefühlsausbrüche, wie er ihn beschrieben hat’, dachte Bruno, ‚der Mann hat absolut Recht, wir sollten mit diesem Schrei Werbung betreiben, für unser Tonstudio.’
„Na, was halten Sie davon?“ fragte Heribert, als das Lied ausklang.
„Ich bin überwältigt, in der Tat, einen solchen Schrei habe selbst ich in meiner langjährigen Laufbahn als Toningenieur noch nicht zu Ohren bekommen. Aber eines möchte ich aber doch wissen, Herr Schraubvogel. Wenn es doch dieser Schrei ist, den Sie suchen, warum verwenden Sie ihn nicht einfach für Ihre Zwecke? Sie haben doch sicher selbst diesen Song zu hause, auf Tonträger, und können ihn Tag und Nacht abspielen, wozu brauchen Sie dann unsere Hilfe?“
„Ich möchte gern, dass Sie mir diesen Schrei bearbeiten, das heißt, bearbeiten ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, dass Sie ihn veredeln.“
„Veredeln?“
„Genau das, Herr Voßkamp. Zuerst einmal muss er komplett herausgelöst werden, der Schrei, aus der über vierzig Jahre alten Originalaufnahme, herausgemeißelt sozusagen, und von allen störenden Hintergrundgeräuschen befreit werden. Danach müssen Sie ihn mit Hilfe optimaler technischer Möglichkeiten dermaßen aufpolieren, dass einem beim Hören quasi die Sinne schwinden. Erst dann ist der Schrei für mich perfekt und spiegelt all das wieder, was ich von ihm erwarte. Können Sie das hinkriegen, in Ihrem Studio, Herr Voßkamp, ich bezahle auch gut?“
„Das müssten wir hinkriegen, da sehe ich keine Schwierigkeiten. Was halten Sie von einer Endlosschleife, als I-Tüpfelchen. Dann können Sie ihn Tag und Nacht durchlaufen lassen?“
„Sie machen mich glücklich, Herr Voßkamp.“
„Eine Frage hätte ich aber noch, wenn sie denn nicht zu indiskret ist.“
„Fragen Sie, fragen Sie!“
„Ist er für Sie persönlich, der veredelte Schrei, oder soll es ein Geschenk sein? Sollen wir ihn hübsch einpacken?“
„Nein, nein, der ist für mich, für mich ganz allein.“
„Dann hätte ich allerdings noch eine Frage. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber was veranlasst Sie zu einem solch außergewöhnlichen Wunsch? Haben Sie etwa im Lotto gewonnen?“
„Besseres, viel besseres, Herr Voßkamp, ist mir widerfahren. Meine Schwiegermutter, die seit meiner Eheschließung vor zwanzig Jahren gemeinsam mit mir, meiner Frau und unserer Tochter in unserem Haushalt wohnte, hat sich eine eigene Bleibe gesucht und ist vor einigen Tagen ausgezogen. Meinen Sie nicht auch dass so etwas ein Grund zur unsagbaren Freude ist?“
Dem konnte der Toningenieur nur zustimmen.
Da er jedoch nicht nur Fachmann für alle Tonlagen, sondern auch Geschäftsmann war, hatte er gleich noch einen Vorschlag parat.
„Sie sagten, Sie haben eine Tochter; gehe ich recht in der Annahme, dass Ihre Tochter schon einen Freund hat?“
„Den hat sie schon seit längerem, und im Frühjahr wollen die beiden heiraten.“
„Sollten wir daher nicht, nur als Option, Herr Schraubvogel, eine zweiten Endlosschrei konservieren, für Ihren Schwiegersohn in spe, für den Fall, dass sich die von Ihnen geschilderte Situation in ähnlicher Weise wiederholen könnte?“

Heribert Schraubvogel blieb die Antwort schuldig.
Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht, und seiner Frau konnte und wollte er bestimmt nicht mit diesem Ansinnen kommen.
Auch im Tonstudio blieb es zunächst sehr ruhig, nach dem Telefonat. Gern hätte Bruno Vosskamp, der junge Tonzauberer, noch einen dritten Schrei hergestellt, für sich selbst, doch seine Schwiegermutter wohnte noch immer bei ihm, leider.
 



 
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