Peinlichkeit

Nordstrahl

Mitglied
Peinlichkeit

Wie so viele andere, musste Frau Heller gleich nach der Wende auch die Schulbank drücken, eine vom Arbeitsamt angeordnete Umschulung machen. Für sie war es aber ein willkommener Neubeginn und eine Abwechslung im Arbeitsleben. Endlich sich mal wieder wie ein Kind sich berieseln lassen. Von ihren Sternbild her war sie eine Zwillingsnatur. Der zeichnet sich durch seine Neu- und Wissbegier aus. Dazu gehörte das erlernen eines neune Berufes dazu. Die zurückliegenden Jahre vor der Wende hatten ja bewiesen, dass es da noch große Wissenslücken gab, was die Wirtschaft betraf. Der Unterricht sollte ihr jetzt einen Einblick in die neue Wirtschaft geben.

Mit großen Schulkinderaugen saß sie voller Erwartung und großem Wissensdurst auf der Schulbank. Die Lehrer waren alle nett, gaben sich große Mühe. Einige , so schien ihr, waren den Umschülern mal grade eine Unterrichtsstunde im Wissen voraus . So etwas gab es schon mal in der deutschen Geschichte, man nannte sie damals Neulehrer. Sie kamen aus anderen Wirtschaftsbereichen. Ähnlich ging es jetzt den Lehrern des Ostens. Alle musste umlernen, umschulen. Andere Lehrer standen besser im Stoff, sie waren „importiert“. Sie kamen aus dem Westen Deutschlands und hatten Erfahrungen auf dem Gebiet der Wirtschaft.

Für das Fach BWL stellte sich ein „importierter“ Lehrer vor. Als Mann war er eine kräftige und stattliche Erscheinung und was seinen körperlichen Umfang betraf., konnte man sagen, er war dick, oder besser noch, er war sehr dick. Das Outfit war von der mütterlichen Hand und die Mode der fünfziger Jahre geprägt. Er trug immer gestrickte Pullover, bunt meliert und mit Zöpfen als Muster. Diese Pullover war auch sehr praktisch, denn sie passten sich immer seiner Körperfülle an. Die längstgezogene Zopfmuster hatten eine streckende Wirkung auf seine Körperfülle.

Als Lehrer brillierte er, sein Unterricht war von sehr guter Qualität. Mit viel Einfühlungsvermögen und praktischen Übungen verstand er es, Frau Heller die Angst vor der neuen Wirtschaft zu nehmen, die sie ja nur aus der Polemik der vergangenen Jahre kannte. Damit wurde er so nach und nach zu ihrem Lieblingslehrer und sie himmelte ihn heimlich an. Ihre Leistungen, was die Klausuren betraf, waren solala, aber das machte ja nichts, keiner ist vollkommen. Ihre Begeisterung für den Lehrer blieb ungebrochen.

Dann aber kam doch ein trauriger Moment für Frau Heller und ihren Lieblingslehrer. Noch während der Umschulzeit verabschiedet er sich. Er musste wieder zurück in seine Heimatstadt. Für den Fall, dass jemand das Bedürfnis hätte, mit ihm zu telefonieren, schrieb er noch seine Telefonnummer an die Tafel und gleich danach stand sie im Hefter von Frau Heller. Mit der festen Absicht, ihn irgendwann mal anzurufen, ging sie dann nach Hause. So ganz reichte ihr Mut für ein Telefonat dann doch nicht aus, noch nicht. So versickerte diese Absicht so nach und nach ins Unterbewusstsein.

Die restlichen Schultage plätscherten sich mehr recht als schlecht so dahin. Während des Tages der Unterricht ohne Lieblingslehrer. Abends in der Freizeit gab es auch wenig Abwechslung. Um ein bisschen Zerstreuung zu haben, lud sie sich ab und zu Gäste ein. Dann wurde viel diskutiert und manchmal auch ein Schluck getrunken, oder auch mehrere.

Nach so einem schluckreichen Abend, die Gäste waren grade fort, arbeitet es noch eine Weile in ihrem Kopf und dabei kam sie auch in den Bereich ihres Unterbewusstseins.

Und da fand sie auch was, eine unerledigte Absicht, sie wollte doch schon lange mal ihren Lieblingslehrer anrufen. Und nun war es soweit. Jetzt oder nie, sagte sie sich. Suchte sofort nach dem Hefter und der Notiz mit der Telefonnummer. Zu Ihrem Unglück, fand sie diesen auch gleich und die Zahlen der Telefonnummer konnte sie auch noch lesen. Mutig, wie sie jetzt war, wählte sie auch gleich die Nummer und es dauerte lange, bis jemand abnahm. Eine Frauenstimme war dran. Sie sagte, das der Herr „sowieso“ ihr Untermieter sei, sie ihn aber nicht wecken könne, weil es schon 3 Uhr war. Oh, so spät schon? Frau Heller war ja nicht aufdringlich und verabschiedet sich . Nun war sie auch müde geworden und legte sich ins Bett.

Als sie am Morgen aufwachte, schien der Kopf etwas schwerer zu sein als sonst, ein starkes Brummen war auch nicht zu überhören. Aber da war noch etwas anderes, ein Klingeln. Das kam aber nicht aus ihren Kopf, sondern vom Telefon. An anderen Ende meldete sich das Sekretariat ihrer Schule, die wissen wollte, wie es Frau Heller geht. Die Vermieterin des Herrn Sowieso hätte sich gemeldet, sie machte sich Sorgen. Sie hatte die Nacht von einer Frau einen Anruf bekommen und dabei das Gefühl gehabt, diese Frau sei suizidgefährdet.

Nun war Frau Heller mit einen Schlag wach, denn „diese Frau“ konnte nur sie gewesen sein, da war sie sich sicher. Gefasst beruhigte sie die Damen im Sekretariat und gestand ihnen, das sie die Nacht nur einen über den Durst getrunken hätte und dann noch vor dem Schlafengehen das Telefonat erledigen wollte.

Oh, war das peinlich und wenn jetzt ein Loch in der Erde gewesen wäre...... Aber es gab keins.

Der nächste Schultag war ein schwerer Gang. Unter dem Motto „Augen zu und durch“ betrat sie das Schulgebäude. Am liebsten hätte sich Frau Heller eine Einkaufstüte über den Kopf gestülpt am Sekretariat vorbei gekrochen, um nicht erkannt zu werden. Aber damit wäre sie bestimmt noch mehr aufgefallen.

Ihren damaligen Mitschüler hat von diesem nächtlichen Telefonat erst 10 Jahre später erzählt............
 



 
Oben Unten