Perlenlied

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Perlenlied
Die Flammen der Tischkerzen zuckten nervös und zwangen ihre Schatten zu einem atemlosen Tanz auf dem neogotischen Gewölbe. Sie erweckten in mir den Eindruck, in eine Höhle zu schauen. Durch den Regen auf der Fensterscheibe wirkten seine Konturen eigenartig eckig und verzerrt, wie mit einem schlechten Graphikprogramm gezeichnet. Aber als ich die Tür öffnete, zogen sie sich zu dem zurecht, den ich kannte: Latour, Mystiker und Psychotherapeut. Bei meinem Eintreten gerieten die Kerzenflammen in den Sog des Luftzuges und krümmten sich in meine Richtung. Fast schien es, als verbeugten sie sich vor mir. Aber verbeugt sich das Licht vor dem Schatten?
Nach wenigen Schritten war ich bei ihm. Aus der Nähe sah er sogar noch besser aus als bei seiner Lesung.
„Entschuldigen Sie ... aber, ... Sie haben ja selber gesagt, wie schwierig es ist, ehrlich über seine Leidenschaften zu sprechen ....“
Die arrogante Handbewegung, mit der mich der Kellner, ein Tablett auf der rechten Handfläche balancierend, aus dem Weg schob, ärgerte mich, aber ich wagte nicht, etwas zu sagen.
Ich spürte Latours Augen wie den Strahl eines Leuchtfeuers über mich hinweglaufen. Nach ein, zwei Sekunden sank sein Blick zurück auf den Teller, auf dem eine Folienkartoffel lag. Die Art, wie sie geteilt war, erinnerte mich an die klaffende Wunde im Bauch eines kleinen Tieres, aus der Soure Crème blutete. Mit chirurgischer Präzision ließ er seine wohlgeformte rechte Hand die Gabel durch den Salat fahren, während er mit der anderen wortlos auf den freien Stuhl wies.
"Vielen Dank, dass Sie die Zeit opfern möchten! Sie haben vorhin so beeindruckende Dinge gesagt ..."
"Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit etwas geben!"
"Nun, sicher!" Um meine Überraschung auszudrücken, wandte ich den Kopf nach links und rechts. „Es wundert mich, dass Sie so allein ....“
„Wenn ich gesagt habe, was ich zu sagen habe, ist es am besten, die Menschen sich ungestört ihren Gedanken zu überlassen!“
„Ah ja. Das verstehe ich! Diesmal werden sie so einiges zum Überdenken haben. Wie Sie vorhin die alten Gnostiker, das Perlenlied, zitiert haben! Dass wir uns von den schweren betäubenden Speisen trennen sollen, vom Konsum, vom oberflächlichen Schein der Dinge, und dafür eine leichtere, eine geistigere Kost zu uns nehmen sollen!“
Er tupfte sich die Lippen mit der Papierserviette ab.
„Sollen! Was heißt schon sollen? Alles liegt in Ihrer eigenen Entscheidung. Ich habe nur gesagt – und das aus meiner eigenen Erfahrung heraus – wer es tut, wird voraussichtlich überraschende Dinge an sich erleben!“
„Die Perle?“
„Wenn Sie so wollen. Ja, die Perle! Ein wundervoll schlichtes Symbol der Seele. Ich verstehe zutiefst, warum es von so vielen Kulturen und spirituellen Schulen verwendet wurde!“
„Unsere Süchte, unsere Gier. Das meinten Sie mit den schweren Speisen?“
„Unter anderem. Die Illusion, und nichts anderes ist es, die Illusion, dass wir diese Dinge brauchen!“
„Illusion! Wenn Sie das sagen, klingt es so einfach, so ... leichthändig!“
„Haben Sie Probleme mit den Leidenschaften, mit den Illusionen?“
„Machen Sie sich lustig über mich? Schauen Sie mich doch an! An mir ist alles ein Problem! Das meiste ererbt! Ich ziehe es durch mein Leben wie eine Eisenkugel am Fußgelenk. Diese stolzen Einmeterfünfundsechzig Körperhöhe, die X-Beine, die krummen Schultern!“
„Fühlen Sie sich unattraktiv?“
„Ich bin es doch einfach, oder? Leider sieht es in meinem Inneren auch nicht besser aus. Das Herz, die Bauchspeicheldrüse, ein paar andere Defekte. Ein Andenken meiner Mutter!“
Die Selbstverständlichkeit, oder sagen wir, die befehlsgewohnte Art, in der er mich mit einem schlichten Heben der Augenbrauen zum Weiterreden aufforderten, verblüffte mich.
„Alkohol-Embryopathie. Meine Mutter konnte einfach nicht damit aufhören. Noch nicht einmal während der Schwangerschaft. Nun ja! Bei dem einen sind es die Speisen, bei ihr war es der schwere, betäubende Trank ....“
„Ich sehe einen wachen, intelligenten, vermutlich suchenden Menschen vor mir! Warum beschäftigen Sie sich nicht einfach lieber mit Ihrem Potenzial als mit Ihren Schwächen?“
„Jesus! Ihre Worte stechen in mein kaputtes Herz! Wie vorhin, als Sie das mit den Ufos sagten: dass wir Millionen und Milliarden ausgeben, um den Himmel nach den Radiowellen von Außerirdischen abzusuchen - und was es für einen unglaublichen Wirbel in den Medien gäbe, wenn wir wirklich Kontakt hätten. Aber dass das doch gar nichts wäre gegen die Nachricht, dass zwei Menschen endlich echten, ehrlichen Kontakt zu einander gefunden hätten! Und wie Sie dann dieses Bild hochgehalten haben!“
„Das Mädchen mit der Perle von Jan Vermeer. In der Tat mein Lieblingsgemälde!“
Ich beobachtete, wie geschickt er mit Messer und Gabel ein Salatblatt faltete, bevor er es zum Mund führte - als wäre es eine alttestamentarische Schriftrolle. Mit dem Kauen nahm er sich viel Zeit.
„Die Perle! Die Perle ist die Hauptsache! Sie befindet sich ziemlich nah im Bildmittelpunkt. Das kann kein Zufall sein. Es ist nicht nur dieses hübsche, junge Mädchen, das den Betrachter anblickt. Es ist ihre Seele. Das Bild gibt den Augenblick wieder, in dem sich zwei reine, offene Seelen begegnen. Offen wie der rezeptive Mund dieser Frau!“
„Der Moment, in dem sie Kontakt haben!“
„Wenn sie bereit werden, sich und andere zu erkennen. Der Moment der Erleuchtung und der Vereinigung! So lautet jedenfalls meine Interpretation.“
„Wie unglaublich schön!“
„Sie sprachen aber von mehreren Leidenschaften!“
„Oh ja! Ich .... nun, es sind Filme!“ Mein Räuspern klang mit Sicherheit äußerst nervös. „Ich bin ein wenig süchtig nach Filmen. Filmen einer besonderen Art!“
„Erotischen Inhalts?“
„Ich ... nein, bitte, Sie gehen in die falsche Richtung!“
„Sondern?“
„Ja ... ich weiß noch nicht einmal, ob jemand wie Sie überhaupt davon gehört hat. Sagt Ihnen der Ausdruck Splatter-Film etwas?“
Er sagte ihm nichts. Aber er hatte es noch nicht einmal nötig, den Kopf zu schütteln.
„Es sind Filme, in denen es eigentlich nur um eines geht: Um das Zerlegen und Verstümmeln von menschlichen Körpern!“
Schon wieder die Augenbraue.
„Erzählen Sie!“
„Da gibt es zum Beispiel Klassiker wie Zombie. Eines schönen Tages steigen die Toten aus ihren Gräbern, und die nächsten eineinhalb Stunden handeln dann davon, wie die Überlebenden bei ihrer Flucht diesen Zombies die Köpfe abschießen. Oder der Streifen, mit dem mehr oder minder alles anfing - zu Beginn der Sechziger. Blood Feast von Herschell Gordon Lewis! Die Inkarnation eines ägyptischen Priesters, der seiner Göttin Menschenopfer darbringt. Fein portioniert, versteht sich. Oder die etwas humoristische Variante: Bad Taste. Da landen Alien von einer interstellaren Fast-Food-Kette auf der Erde und stellen fest, dass Menschen auch ganz lecker schmecken. Wegen einer akuten Absatzflaute suchen sie nämlich dringend nach Produktinnovationen ...“
„Ein eigenartiges Hobby!“
„Wenn Sie so wollen! Ich habe eine spezielle Theorie dazu! Interessiert es Sie?“
„Nur zu!“
„Im Grunde geht es um Essgewohnheiten! Nein! Wie fange ich besser an? Vielleicht mit den Pflanzen. Pflanzen sind natürlich Heilige: Was brauchen sie schon? Ein bisschen Wasser und Mineralien aus dem Erdboden, ein wenig Kohlendioxid und natürlich Sonnenlicht – oh ja, Pflanzen lieben das Licht: Das war’s! Mehr verlangen sie nicht. Aber daraus erschaffen sie ihre gesamte Pracht – ob den Stamm einer Eiche oder die Blüte einer Falterorchidee.
Sind die fleischfressenden Tiere im Vergleich dazu nicht geradezu dämonisch? Alles, was wir an ihnen bewundern, ihre Kraft, ihre Schnelligkeit, ihre Eleganz, ihre scharfen Sinne – all das dient nur einem Ziel: möglichst effektiv Beute zu stellen und zu erlegen. Die dann bei lebendigem Leib zerrissen wird: ein Brei aus Fetzen von Muskeln, Lunge, Darm und Blut, der durch den hungrigen Schlund gewürgt wird. Denken Sie an all diese Säfte und Enzyme, die darauf warten, ein Stück Leben in seine molekularen Einzelteile zu zerlegen.
Wasser, Licht, Mineralien – das genügt dem wilden Tier nicht, es muss töten. Und weil es töten muss, muss es ihm Spaß bringen. Sie leben von rohem Fleisch. Roh! Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man sein Leben lang von rohem Fleisch abhängig ist? Wenn das bittere Blut auf den Lippen noch warm ist, wenn einem das Splittern der fetten, markigen Knochen von innen ans Ohr dringt? Im ersten Moment eine widerliche Vorstellung. Aber entschuldigen Sie bitte, Sie essen!“
„Glauben Sie etwa, ich vertrage nichts?“ Sein Grinsen war überraschend breit. „Ich höre wirklich gern zu!“
„Dafür bin ich Ihnen sehr ... oh, verdammt!“
Ich fuhr mit der Rechten an mein Gesicht, rieb mir mit Daumen und Zeigefinger die Augen und schob zwei Tränen gegen den Nasenrücken, die ich unter den Fingerspitzen zerdrückte.
Als ich seine Hand meinen Unterarm tätscheln spürte, hatte ich die Empfindung, als glitten die Schuppen einer trockenen Schlangenhaut darüber hinweg.
„Geht es?“
Ich hob die Hände.
„Es ist gut, es ist gut!“
„Wirklich?“
„Wirklich! Ich möchte jetzt weiterreden!“
„Wenn Sie meinen ....“
Ich atmete zweimal tief durch, während ich beobachtete, wie er sich wieder der Kartoffel widmete.
„Das Raubtier…“, erleichtert stellte ich fest, dass mich meine Stimme nicht im Stich lassen würde, „das Raubtier lebt in einer Welt des Todes. Diese Kreaturen haben teilweise ein geradezu intimes Verhältnis dazu. Wilde Braunbären wälzen sich voller Hingabe im Aas. Niemand weiß, warum sie es tun, aber es scheint ihnen Spaß zu bringen. Aber ich sollte jetzt wirklich ....“
Nein, nein! Ich sagte doch ....“
„Gut! Sehr gut! Was ich sagen wollte ... Ja, genau! Der Mensch ist ja selber ein Fleischfresser. Die Anthropologen glauben, dass er damit als Aasverwerter angefangen hat. Verstehen Sie? Vor Millionen Jahren in der afrikanischen Steppe. An den Wasserstellen, wo immer viel verendetes Vieh zu finden ist. Die Löwen waren immer die ersten bei der Leiche, dann Hyänen und Geier und dann eben unsere affenartigen Vorfahren. Mit den ersten Steinwerkzeugen, die es überhaupt gab, sollen sie die Knochen der toten Tiere zertrümmert haben, um ans Mark zu kommen. Das! Das ist unsere Herkunft! Das bedrückende Erbe unserer Natur!“
„Unsinn! Ich habe mein Leben dafür gewidmet, diesen fatalistischen Unsinn zu bekämpfen! Was Sie da schildern, ist nur die körperliche Seite! Es gibt auch geistige Entwicklung! Es gibt ...“
„Wenn ich darf, möchte ich jetzt meinen Gedanken weiterentwickeln!“
„Bitte!“
„Man redet ja nicht gern drüber: Aber für einen Fleischfresser, für jemanden, dessen Körper auf diese Kost angewiesen ist, sollte es doch nur konsequent sein, wenn er sich auch an seinen Artgenossen ... vergreift, oder? Viele Tierarten tun es, sogar die Schimpansen, unsere nächsten Verwandten. Nicht oft, aber sie tun es!“
„Und Sie glauben, auch wir tun es immer noch?“
„Ich glaube, wir haben nichts verlernt! Warum sollten wir ausgerechnet in diesem Punkt unsere Erblast abgeschüttelt haben? Es gibt eine ganze Reihe von Knochenfunden aus prähistorischen Epochen. Ich glaube, Sie ahnen, was unsere frühmenschlichen Ahnen so alles zu sich genommen haben! Warum dann nicht auch in neuerer Zeit?“
Ich legte eine kurze Sprechpause ein, die vom Kratzen der Messer und dem Geklapper des Geschirrs an den Nachbartischen angefüllt wurde.
„Sogar Marvin Harris, der Kulturanthropologe, glaubt, dass die Azteken ihre Menschenopfer nicht einfach weggeworfen haben. Oh, nein! Nicht einfach weggeworfen! Und dann die vielen Berichte der frühen Afrikaforscher, von äußerst glaubwürdigen Zeugen ... mein Gott, was für Bilder müssen sie gesehen haben!“
„Wie ich hörte, erheben die Ethnologen dagegen aber doch erhebliche Einwände...“
„Mag sein. Aber was gibt es für Einwände gegen menschliches Muskeleiweiß in den Überbleibseln von tönernem Kochgeschirr? Wie bei den Anasazi-Indianern? Und was gibt es für Einwände gegen dieselbe Eiweißart in mineralisierten Kotspuren an diesen Fundstellen?“
„Lassen wir die akademischen Details. Worauf wollen Sie hinaus?“
„Auf meine Theorie! Sie klingt zwar nicht sehr gebildet, dafür ist sie aber ganz einfach: Ich will sagen, dass der Mensch schlicht und einfach deshalb Interesse an kannibalistischen Filmen hat, weil er selber ein Kannibale ist!“
„Du meine Güte! Da haben Sie sich aber ein gehörig pessimistisches Weltbild zurechtgelegt!“
„Ja. Vielleicht! Aber ... aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Man kann es nämlich auch von einer anderen Warte aus betrachten. Eigentlich ist es ziemlich aufregend, in einer so unheimlichen Welt zu leben. Und am Ende fällt einem dann das Sterben möglicherweise sogar leichter!“
„Voilà! Streifen Sie bisweilen den Tiefsinn, junger Mann?“
„Vielen Dank!“
„Aber trotzdem simplifizieren Sie! Denken Sie nicht? Diese Filme sind das Hobby einer kleinen – sagen wir, ein wenig angespannten – Minderheit. Etwas Schock, etwas Adrenalin in einem unausgefüllten, langweiligen Leben.“
„Jetzt – jetzt sind wir eine Minderheit!“
„Soll heißen?“
„Im alten Rom hat die ganze Stadtbevölkerung zugesehen. Gegen Eintrittsgeld. Das war live! Das war echt! Das war der absolute Straßenfeger!“
Mit Daumen und Zeigefinger beider Hände bildete ich einen imaginären, viereckigen Monitor.
„Ich sehe es geradezu vor mir – erst das weiße Rauschen, dann die Streifen, aber langsam stabilisiert sich das Bild. Circus Maximus in Schwarzweiß! Die kleinen grauen Häuflein, das sind die Leichenteile. Christen, vermute ich. Die schwarzen kontrastreichen Flecken drum herum müssten das Blut sein. Aber was haben die hektisch hin und her springenden Schemen zu bedeuten – sind das die Raubtiere? Wenn man ganz nah rangeht, kann man raten, ob Tiger oder Löwe. Wie schwarz ihre Mäuler sind! Über Schilder, Speere und Schwerter der Wachen gleißt das Licht der Sonne – oder das der Scheinwerfer. Sie verstehen, diese verrückten psychedelischen Effekte bei TV-Reportagen aus den Sechzigern! Und im Hintergrund braust, durch Rückkopplungen verzerrt, der Applaus der Massen. Tiere haben doch ein Gespür für so etwas! Ob sie das anspornt?“
Ich löste den imaginären Bildschirm auf, legte die Handflächen auf die Tischplatte und beugte mich vor.
„Oh, wir sind ja jetzt so geläutert! Haben wir nicht etwa die UN-Menschenrechtscharta? Glauben Sie mir! Wir sind Römer! Nach wie vor! Das Interesse – oder soll ich sagen, der Markt – wäre da! Es hat sich nichts geändert. Fragen Sie sich nicht manchmal, was für eine trübe Sippschaft Sie da eigentlich zur Erleuchtung führen wollen? Verstehen Sie mich richtig! Ich halte den Menschen eigentlich nicht für böse. Vielleicht muss er es ja nicht machen. Vielleicht reicht es ja, wenn er es auf Video sieht. Jedenfalls meistens!“
Ich hatte ihn für einen Augenblick sprachlos gemacht. Diese Gelegenheit musste ich nutzen.
„Lesen Sie keine Zeitungen? Sehen Sie nicht, wie oft der kultivierte, gekämmte, frisch abgeschrubbte Mensch sein wahres Ich verrät? Diese Berichte von Flugzeugabstürzen in den Bergen, von Hungerkatastrophen in der Ukraine? Diese eigenartigen Obsessionen von Serienkillern? In den USA ist fast jeder vierte Mord das Werk eines Serienmörders. Haben Sie nie davon gehört, wie sie die Leichen manipulieren? Teile der Genitalien, ein Finger hier, ein Zeh dort? Und was sie damit machen? Sie erlauben?“
Ich griff nach einer Olive in seinem Salat. Während er mir beim Kauen zuschaute, konnte ich beobachten, wie sich in seinen Gesichtszügen die gewohnte Souveränität zugunsten einer gewissen Entgeisterung zurückzog.
„Es wäre schrecklich, wenn Sie Recht behielten!“
„Leider neige ich dazu, Recht zu haben. Jemand wie ich hat viel Zeit zum Nachdenken!“
Der Geräuschpegel wurde höher, zum Klappern des Geschirrs gesellte sich das TV-Gerät über dem Tresen der Cocktailbar. Irgendein Tennisstar wurde beim Matchball vom Publikum angefeuert.
Latour stützte das Kinn auf die Knöchel seiner rechten Hand.
„Aber ich weiß immer noch nicht, was Sie mir mit all dem sagen wollen!“
„Vielleicht will ich gar nichts sagen? Vielleicht will ich Sie ja bloß warnen?“
„Warnen? Wovor?“
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Lassen wir das! Die Leute vorhin – sie waren fasziniert! Auch die jungen Damen. Es waren ja überhaupt ganz überwiegend Frauen anwesend. Wie ihre hübschen Augen geglänzt haben, als Sie das mit dem Großen Kontakt vortrugen! Ich muss sagen: Das hat mir einen kleinen Stich versetzt. Ich beneide Sie!“
„Nun, bitte! Das bedeutet mir nicht allzu viel ...“
„Schade. Dann werden Sie sich vielleicht gar nicht mehr erinnern können! Vor etwas mehr als zwanzig Jahren, es muss einer Ihrer ersten Auftritte gewesen sein, saß einmal eine ganz spezielle Verehrerin unter Ihren Zuhörern. Sie war genauso hübsch und rezeptiv wie die anderen. Nur vielleicht etwas blasser, etwas trauriger. Vielleicht hatte sie dunklere Ringe unter den Augen. Wie gesagt: Es war vor etwas über zwanzig Jahren – diese eigenartige Zeit, als die Hoffnung auf die große Umwälzung wieder gegangen war, die Drogen aber zurückgelassen hatte. Mein Vater hat mir von alldem erzählt!“
„Ich beginne zu verstehen ...“
„Gerade als sie damit beschäftigt war, ihre Heroinsucht mit Valium und einer Flut von Landwein zu bekämpfen, erreichte sie die Nachricht ihrer Schwangerschaft. Der Arzt hatte sie gewarnt, wollte sie in eine psychiatrische Station einweisen. Vielleicht hatte sie ja Angst vor dem kalten Licht der Flure, vor den Schreien, der Einsamkeit. Jedenfalls wandte sich das Mädchen lieber an einen Therapeuten. Der ihr riet, sich nicht in die Hände kalter, nüchterner Technokraten zu begeben, sondern nach den Kräften in ihrem eigenen Inneren zu suchen. Nach Kräften, die anscheinend wohl doch nicht vorhanden waren!“
Ich beobachtete, wie er für den Bruchteil einer Sekunde ein überraschend linkisches Hohlkreuz bildete, als er versuchte, seine Körperhaltung zu straffen.
„Waren Sie sich Ihrer Sache wirklich so sicher? Oder hatten Sie wenigstens etwas Angst um Sie? Sie haben ihr geraten, nicht ins Krankenhaus zu gehen. Weil Sie etwas viel Besseres wussten! Sie sollte sich in ihrem Zimmer hinsetzen und meditieren. Und dabei ein Bild von Ihnen betrachten. Oh, nein! - haben Sie ihr versichert – das hatte natürlich nicht das Geringste mit irgendeiner Eitelkeit zu tun. Es sollte ihr nur helfen, sollte eine greifbare Darstellung liefern, eine Art Archetypus des liebevollen Meisters!“
Ich sah, wie mühsam er schlucken musste.
„Das Mädchen hat es mit Ach und Krach geschafft. Ein paar Jahre blieben ihr danach noch. Auch das Neugeborene überlebte, aber es trug Schäden davon ....“
„Es tut mir leid! Was soll ich sagen? Fehler geschehen, es kann ...“
„Nein! Bitte! Sie brauchen mir nichts zu erklären! Wirklich nicht! Ich kann mich mittlerweile mit vollem Recht als Kenner Ihrer Lehren bezeichnen! Ich verstehe Sie! Sehen Sie!“
Mit diesen Worten griff ich in die Innentasche meiner Nylonjacke und warf einen Stapel bedruckter Kärtchen vor ihm auf den Tisch.
„Das sind Eintrittskarten. Ich habe keine Ihrer Veranstaltungen ausgelassen. Seit eineinhalb Jahren nicht! Hochachtung! Ihnen scheint tatsächlich kein Anfahrtsweg zu weit zu sein. Eigentlich bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. Durch Sie lerne ich mein eigenes Land erst so richtig kennen!“
Er schob den Stapel mit dem rechten Zeigefinger auseinander. Irgendwie schien er froh zu sein, dass er dadurch seinen Blick von mir abwenden durfte.
„Und immer ist es dasselbe! Diese Begeisterung in den Augen Ihrer Zuhörer! Viele sehen wirklich leidend aus. Es muss ein großartiges Gefühl sein, so viel Hoffnung zu belohnen! Ich sitze immer ganz hinten, damit ich wirklich alle beobachten kann. Darum haben Sie mich wohl auch nicht erkannt.“
Schwer atmend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er war blasser geworden.
„Warum?“
„Bitte?“
„Warum haben Sie mir das erzählt? Das mit dem Kannibalismus, meine ich!“
„Ich wollte mich austauschen, deshalb!“
„Austauschen? Ha!“
Latour betupfte einen Speicheltropfen, der sich an seinem Mundrand gebildet hatte.
„Gut! Wie Sie wollen! Aber mit Ihrer Erlaubnis komme ich zu ganz anderen Schlüssen. Da verfolgt mich jemand jahrelang.“
Mit einem kalten, spöttischen Lächeln beugte er sich über den Tisch.
„Jemand mit angeborenen Defekten wohlgemerkt, die wahrscheinlich auch das Hirn in Mitleidenschaft gezogen haben. Ein fremder Jemand, der davon faselt, wie man Menschenkörper zerlegt! Und dann will er sich nur mit mir austauschen!“
„Mit wem denn sonst?“
„Hören Sie zu, Freundchen! Sie sagten, Sie hatten viel Zeit zum Nachdenken. Dann verraten Sie mir doch einmal, was das für Einrichtungen waren, in denen es so unerhört viel Zeit gab! Haben die Schreie sehr gestört?“
Er griff nach dem Messer und deutete damit auf mich.
„Ich kenne euch! Jemand wie ich, jemand, der in der Öffentlichkeit wirkt, der kennt euch leider nur zu gut! Für mich seid ihr nichts anderes als jämmerliche Würmer! Kleine, psychopathische Würmchen! Eure Krankheit hat sich durch alle Winkel eurer Hirne gefressen, aber ihr denkt, es sei eine Botschaft!“
In Zickzackbewegungen ließ er das Messer in meine Richtung vorschnellen.
„Neid! Das ist es! Ihr beneidet die, die im Licht stehen – weil die öffentlich sagen dürfen, was sie denken. Aber ihr Durchgedrehten, ihr Zerfressenen, ihr dürft das nicht. Das findet ihr ja so unglaublich gemein! Dabei habt ihr überhaupt nichts zu sagen! Nichts als euer debiles, abgehacktes `Aga-aga-aga-aga!´ Überall müsst ihr euch in den Vordergrund spielen. Ihr kaspert rum, ihr ruft dazwischen, ihr stoßt Drohungen aus! Und ein paar von euch sind mit Sicherheit krank genug, die Drohungen wahr zu machen!“
„Aber wann habe ich Sie jemals bedroht?“
„Wann? Wann Sie mich bedroht haben? Verwechseln Sie meine Gutmütigkeit nicht mit Dummheit! Was haben Sie die ganze Zeit überhaupt anderes getan? Ich weiß, was Sie vorhaben! Und es macht Ihnen Spaß, es mir vorher zu sagen! Um meine Qualen zu vergrößern! Sie gottverdammter Sadist! Aber das verbiete ich Ihnen. Ich habe hier noch viel zu erledigen!“
„Was um Himmels Willen soll ich mit Ihnen vorhaben?“
„Ich soll Ihnen sagen, was Sie ....? Na gut! Sie wollen es aus meinem Munde hören? Bitte! Sie wollen mich foltern! Ja, das haben Sie vor! Genau das! Dann werden Sie mich töten! Und dann – dann werden Sie mich .... auffressen! Jawohl!“
„Jetzt übertreiben Sie! Ich bin doch so etwas wie Ihr Sohn! Oder besser gesagt: Ihr Wechselbalg! Bin ich Ihnen jetzt etwa zu hässlich?“
Sein Aufschrei klang irgendwie wütend, vor allem aber ziemlich infantil. Er sprang auf und stach über den Tisch hinweg zu. Als die Messerspitze meinen Oberarmknochen touchierte, hatte ich das Gefühl, dass mein Innerstes berührt worden sei.
Latour ließ sich auf den Sitz zurückfallen. Von einem der Nachbartische hörte ich eine hohe Frauenstimme schreien. Als ich meinen Arm in Augenschein nahm, erkannte ich, dass das Messer noch immer drin steckte. Aber es war eine eher dunkle, tröpfelnde Blutung. Nichts Wichtiges schien verletzt. Ich schloss die Augen, kämpfte gegen den Drang zu lächeln an und sank ein wenig im Stuhl zusammen.
Auch an den entfernteren Tischen schien das Klappern des Geschirrs zu verstummen. Zunächst war die Stille zäh und erstickend, aber dann hörte ich hastige Rufe, Schritte, die sich näherten, Gemurmel. Ich fühlte Hände auf meiner Schulter und unterhalb der Wunde. Dazwischen Latours Gebrabbel.
„Er wollte mich umbringen. Ja! Der Schurke wollte mich ...Lassen Sie mich doch los! Wissen Sie, was er ist? Er ist ... Ich musste es tun! Warum verstehen Sie das nicht?“
Vorsichtig öffnete ich die Augen und erkannte, wie er von einem Kellner und zwei Gästen auf seinem Sitzplatz zurückgehalten wurde. Eine junge Frau, der ihr glattes blondes Haar in die Stirn fiel, hatte sich neben mich gekniet und betrachtete meine Wunde. Ich hatte die Kontrolle über das Lächeln verloren.
„Wir sind uns begegnet, Latour! Ich habe Sie erkannt. Wir hatten Kontakt!“
Er starrte mich mit seinem offenen Mund an, einer klaffenden gähnenden Öffnung, die geradewegs in ein unterirdisches Labyrinth zu führen schien.
„Ich habe Sie die ganze Zeit betrachtet, Latour. Aber ich habe sie nicht gesehen – Ihre Perle!“
Ich musste lachen.
„Sie haben da übrigens so eine kleine, unattraktive Warze am Ohr!“
 

Matsu

Mitglied
Perlienlied

Hochinteressant!
Allerdings kommt das Spannendste am Text recht spät und geht dann fast unter - der "Kontakt", der Moment, in dem die Protagonisten sich unverstellt gegenüberstehen, ihre Masken fallen lassen. Dann wird auch klar, warum der Dialog vorher so drastisch war: Die Figuren mussten aus der Reserve gelockt werden. Ich sehe die Gefahr, dass der Leser nicht bis zum Schluss dranbleibt.
 

Rainer

Mitglied
...unkonstruktiver glückwunsch...

hallo volker hagelstein,

obwohl es auf grund ihrer länge vielleicht nicht die klassische kurzgeschichte an sich ist, möchte ich kein wort missen. wunderbare dialoge, in denen latour langsam abbröckelt, fast durchsichtig wird - handwerklich sehr geschickt gemacht.
obwohl ein vorkommentator die länge der "einführung" bemängelte, und auch ich befürchte, daß manche zwischendrin entnervt aufgeben werden, die art der "beweisführung" verlangt in meinen augen die von dir gewählte form. einzig einige adjektive finde ich überdenkenswert (z.b. die wohlgeformte rechte hand u.ä.), ihre bedeutung ist mir momentan nicht ersichtlich. wenn sie optisch-beschreibenden charakter haben würde ich sie herausnehmen, weil der gedankenfluß dann nicht mehr durch nebensächlihkeiten (entschuldigung) behindert wird.

grüße

rainer
 
Ich gebe zu: Der Beschleunigungswert meiner Story ist nicht gerade beeindruckend. Auch ist mir durchaus der Rat bekannt, mit einem Erdbeben zu beginnen, um die Spannung dann langsam zu steigern. Nun ist es aber so, dass ich auch als Rezipient (von Texten genauso wie von Filmen) vor allem die langsamen, atmosphärischen und rätselhaften Einstiege mag. Ich sehe die Risiken – trotzdem möchte ich lieber auf diesem Gebiet meine Erfahrungen und ggf. meine blauen Augen sammeln, als auf „todsichere“, dafür aber etwas ausgelatschte, Strategien umzusteigen.
Die wohlgeformte Hand ist sicher ziemlich klischeehaft. Damit wollte ich vor allem unterstreichen, dass sich die Leute besonders gern von äußerlich beeindruckenden Propheten einwickeln lassen. Überhaupt tragen die Verführten bei solchen Sachen ja auch immer eine erhebliche Mitschuld. Das Ganze ist natürlich auch ein Spiel mit dem Gegensatz „schöner Schein“ vs. „hässliche Wahrheit“.
Gruß Volker
 



 
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