Peter hat eine Wohnung

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gertraud

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Peter hat eine Wohnung. Endlich!
Seit 3 Jahren läuft die Räumungsklage, seit dem Tag, da er die Mieterhöhung nicht akzeptiert hat. Räumungsklage, d. h. jedes Quartal das gleiche Spiel: "Am Montag muss ich die Wohnung räumen." - "Heute früh hab ich Aufschub bekommen." Dabei ist Peter ein Härtefall: Er sitzt im Rollstuhl. Er kann weder stehen noch gehen.
Jetzt hat er also eine Wohung, eine richtige Sozialwohnung, die sogar behindertengerecht angelegt ist: breite Türen, niedrige Türgriffe - aber eine Badewanne statt Dusche. In die Badewanne kann er nicht hinein. Aber immerhin eine Wohnung. Die Alternativen waren Männerwohnheim oder eine von diesen Pensionen, die ein horrendes Geld vom Sozialamt kassieren.
Die Wohnung ist wirklich schön, die Wohnanlage wirkt freundlich auf mich. Nachdem noch keine Lampen montiert sind, lassen wir die Wohnungstür offen, damit das Licht vom Gang hereinscheint. Andere Mieter gehen vorbei. Eine Frau mit Kopftuch und bodenlangem Mantel, unförmig wie ein Fass. Au weh! Ich habe Vorurteile, ich geb es zu, gegen Familien, in denen die Frauen Kopftuch und bodenlange Mäntel tragen. Da schwillt eine Zornesader in mir an. Aber ich bin froh, dass Peter endlich eine Wohnung hat.
Es ist schwer für ihn.
Sein Abstieg wird ihm deutlich vor Augen geführt. Aus dem erfolgreichen Kaufmann ist ein Sozialfall geworden.
Aus einem guten Stadtviertel geht es nun in ein Ghetto: Eingepfercht zwischen Autobahnen und Schnellstraßen am Stadtrand. War er früher in 10 Minuten mit der U-Bahn im Zentrum, braucht er nun eine Stunde mit dem Bus. Dazu muss er den Busfahrer bitten ihm die Rampe herunterzulassen. Wenn der Bus eine Rampe hat. Sonst muss er Leute bitten, ihn in den Bus zu hieven. Es ist leicht gesagt, um Hilfe bitten. Die Busfahrer stöhnen, weil sie aufstehen und ihren Platz verlassen müssen. Bestenfalls stöhnen sie leise, meist aber laut hörbar oder noch schlimmer. Der Rollstuhlfahrer würde ja auch lieber ohne Hilfe auskommen - so wie bei der U-Bahn, wo er einfach reinrollen kann.
Außer einer Bäckerei gibt es kein Geschäft in der Siedlung. Einkaufen ist also eine Angelegenheit, die zwei Stunden dauert. In der alten Wohnung waren es 10 Minuten.
Aber das schlimmste ist der Verlust der alten Freunde. Peter hat 25 Jahre in seiner alten Wohnung gelebt. Er kannte fast jeden im "Dorf". Und die Leute kannten ihn. Er brauchte nur hinauszufahren, schon hatte er jemanden zum Reden. Nachbarn brachten schnell mal ein Essen vorbei. Mittwochs traf man sich in einer Wohnung zum Fußballgucken. Er könnte natürlich auch diesen Mittwoch hinfahren, sie warten auf ihn. Aber wie kommt er wieder heim? Um 11 geht kein Bus mehr. Er wird so schnell auch keine Nachbarn finden zum Reden. Doch, alle sind freundlich, aber sie sind aus einer anderen Welt, aus einer Welt, in der Frauen Kopftücher und bodenlange Mäntel tragen, nicht mit Fremden reden dürfen. Eine Welt voll Missgunst und Misstrauen. Da hat ein einzelner Mann eine Zweizimmerwohnung und nebenan hausen sie zu acht in 3 Zimmern.
Noch hat Peter den Umzug noch nicht ganz hinter sich gebracht. Ach ja, seine Tischplatte aus Marmor - "Den Marmor hab ich selbst ausgesucht!" - ist beim Umzug zerbrochen. In der Küche hat er einen Herd, eine Spüle und ein Regal. Das Porzellan-Service mit Zwiebelmuster bleibt vorerst eingepackt. Überhaupt stehen da noch 15 Kisten, denn Peter kann nicht selber auspacken. Er hatte die Umzugsleute gebeten, auf die Kisten draufzuschreiben, was sie enthalten - sie haben es getan, aber in Kyrillischer Schrift. Noch steht nicht fest, was beim Umzug noch alles zerbrochen oder verschwunden ist. Seine Anzüge hat er bis auf zwei weggeben. Die Sachen seiner verstorbenen Frau auch. Seine Bücher sind im Altpapier.
Aber er hat wieder ein Telefon, sogar die alte Nummer. In seiner Situation freut man sich über alles.
 



 
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