Pino Spaghetti (Zweite Fassung)

Antaris

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Pino Spaghetti

Im Grunde genommen ist Pino Spaghetti ein richtig netter Kerl, ruhig, freundlich und hilfsbereit. Jeder im Haus mag ihn, nicht einmal die Hauswirtin findet etwas auszusetzen an ihm, nur ich mag ihn nicht.

Manchmal komme ich mir deswegen schäbig vor wenn er mir gut gelaunt im Hausflur begegnet. Natürlich heißt er nicht wirklich Pino Spaghetti, aber wenn ich den klanvollen Namen an seiner Türklingel nenne, wird bestimmt irgendein Idiot herunterrennen und ihm brühwarm erzählen was ich von ihm halte. Ihn einfach so zu nennen ist ebenso unfair wie ihn nicht zu mögen. In den beiden Jahren seit er hier wohnt habe ich nie mitbekommen, dass er Vorlieben für die mediterrane Küche hegt. „Mein Großvater ist hierher gekommen und wurde Bauhilfsarbeiter, mein Vater ist hier geboren und Facharbeiter bei Ford. Ich verstehe ungefähr so viel Italienisch wie mein Großvater Deutsch kann“, erzählte er in original kölschem Zungenschlag ein paar Wochen nach seinem Einzug. „Nun hoffe ich dass ich hier wohnen bleibe bis ich mein Studium durch gezogen habe. Nenn mich einfach Pino.“

Nett, nicht wahr? Einen so liebenswürdigen Kerl wie diesen angehenden Bauingenieur muss einfach jeder mögen. Auch Sabine mag ihn sehr gerne, und genau das ist mein Problem. Sabine zog im vergangenen Herbst in Pinos kleine Zweizimmerwohnung, und mir blieb fast das Herz stehen als ich ihr zum ersten Mal an der Haustüre begegnete. „Das ist Sabine“, sagte Pino, den ich bis dahin neben dieser Klassefrau gar nicht bemerkt hatte.

Dabei war es kein spektakulär aufgebretzeltes Erscheinungsbild welches mir bei Sabines Anblick die Sprache verschlagen hat. Nüchtern betrachtet mag sie vielleicht sogar unscheinbar wirken, aber mir gefielen ihre lebhaften Augen und ihre zierliche, tänzerinnenschlanke Figur auf Anhieb.

Sie sieht richtig klug aus, dachte ich als ich nachts nicht schlafen konnte, was findet sie ausgerechnet an einem Typen wie Pino, diesem typischen Hochparterremieter? Echte Kerle legen sich Dachgeschossgaleriewohnungen zu, mindestens im vierten Stock ohne Aufzug. Ich versuchte, eine Bilanz aufzustellen. Einen halben Kopf kleiner als ich, schmale Schreibtischtäterschultern, büroklammersilberne Pilotenbrille, braune Haare, die ein wenig stumpf ungefähr wie ein Kuhfell schimmerten, addierte ich auf Pino Spaghettis Habenseite. Gut, dachte ich, aber vielleicht fällt das Aussehen nicht so sehr ins Gewicht. Seit Computer mehr Alltagsprobleme verursachen als Säbelzahntiger stehen starke Männer nicht mehr ganz so hoch im Kurs, behaupten die modernen Frauen, denen ich normalerweise aus dem Weg gehe, weil sie gemeinhin Emanzen genannt werden.

Gar nicht gut, dachte ich dann, also weiter im Text. Fleißig ist der gute Pino, aber bestimmt kein intellektueller Überflieger. Geld hat er auf keinen Fall im Überfluss, er besitzt nicht einmal ein Auto. Nett ist er natürlich, aber bin ich etwa nicht nett? Was hat er überhaupt, was ich nicht habe? Ich drehte mich von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Das Kopfkissen rutschte auf den Teppichboden. Sabine hat er, sonst nichts.

Diese Erkenntnis machte mein Leben auch nicht einfacher. Anfangs hielt ich alles noch für eine Täuschung meiner Wahrnehmung. Wenn ich abends an Sabine dachte rechnete ich fest damit, am nächsten Morgen aufzuwachen, und nichts als irgendeine Frau zu sehen wenn ich ihr begegnete.

Mit schwungvollen Schritten kommt Sabine jeden Werktag mittags die Stufen herunter, stößt die Haustür auf, und wenn sie dann das Briefkastenfach öffnet, bin ich überzeugt, dass niemand sonst auf der Welt einen Schlüssel mit einer annähernd grazilen Bewegung umdrehen kann.

Leuten wie dem ewig nörgeligen Radke, dessen Beobachtungsgabe sich in der Kontrolle nachlässig geputzter Treppenstufen erschöpft, müssen solche Feinheiten zwischenmenschlicher Anziehungskraft verborgen bleiben. Vielleicht bin ich der einzige im Haus, der Sabine so sieht, ausgenommen Pino.

Möglicherweise gibt es irgend einen verborgenen Zauber an Pino Spaghetti, den niemand außer Sabine finden kann. Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los, und ich beschloss, ihm nach und nach die Dinge zurück zu geben, die ich mir im Laufe der Zeit geliehen hatte.

So sehr ich mich bemühte, ich konnte keine Veränderung an Pino Spaghetti entdecken. „Iss ein Stück Kasseler mit. Meine Schwester hat viel zu viel von dem Zeugs vorbei gebracht“, forderte er mich in seiner immer schwerer zu ertragenden Freundlichkeit auf als ich mit dem Schlüsselsatz in der Tür stand. „Und mache dir keine Sorgen wegen dem Akkuschrauber. Nichts hält ewig.“

Hunger hatte ich bestimmt nicht. Als ich gehen wollte legte Sabine wie selbstverständlich ihre Arme um Pino, den selben Pino wie immer, und streichelte den Nacken seines zu kurz geratenen Halses. „Für nächsten Monat haben wir eine kleine Verlobungsfeier angesetzt“, sagte sie. „Du bist auch eingeladen wenn du magst.“

Ich schüttelte nur meinen Kopf, und ich hätte schreiend aus dem Haus rennen können, um schnurstracks in die nächste Buchhandlung zu marschieren und den neuesten Ratgeber zum Thema ‚Frauen verstehen leicht gemacht’ zu erwerben. Genützt hätte es mir nichts, denn das Problem liegt wohl eher bei mir. Ich mag Pino Spaghetti nicht. Ich kann ihn nicht vor Augen sehen, aber ich verspreche, ihm die restlichen Kleinigkeiten wie die Kreissäge, den Bohrhammer und das Nivelliergerät gleich nach seiner Scheidung zurück zu geben.
 



 
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