Jeden Moment konnten sie die Fesseln abschießen, die dem Flüchtenden endgültig seine Fluchtgelüste austrieben. Trotz der Vibrationen aufgrund der hohen Maschinenanforderungen blieb die Hand des Feuermanns ruhig.
Kapitän des Raumes Oberst Bernd Junker starrte gebannt auf die Anzeigen der Entfernungsmessung. Seine Finger krallten sich in die Sessellehne, während er im Geiste die Sekunden herunter zählte.
Seit sie in Schlagdistanz zu dem Piratenschiff gelangt waren, lag der Erfolg der Aktion einzig beim Piloten und dem Feuermann. Junker hoffte das Beste und seine Hoffnung beruhte auf der Tatsache, dass ihnen noch kein Freibeuter entkommen war.
›... zwei ... eins. Und ab damit!‹, dachte er inbrünstig.
Im gleichen Moment leuchtete auf dem Frontschirm vor ihm das schwach violette Schimmern des Ankers auf, der sich blitzgleich von ihnen entfernte. Der Pilot hielt die ›Duisburg‹ weiterhin auf Kurs, die Maschinen bis an die Grenzen belastet.
Das Piratenschiff, ein Konglomerat aus notdürftig zusammengebauten Kabinen und Antriebselementen, wurde durch das Auftreffen des Fesselfeldes schwer durchgeschüttelt. An einigen Stellen lösten sich Elemente der Außenhaut, und eine der Wohneinheiten wackelte bedenklich.
Diese Pirateneinheiten wurden nur zu dem Zweck zusammengesetzt, Privatschiffe und Linienraumer hier im Gojano-Sektor zu attackieren und zu entern.
Oberst Junker fragte sich zum wiederholten Male, warum Menschen sich einem solchen Kahn anzuvertrauten, nur für die vage Hoffnung, mit einem einzigen gelungenen Überfall ausgesorgt zu haben.
»Haben wir ihn?« hallte seine Frage durch den engen Kommandoraum der Fregatte.
»Angedockt Kapitän.« Der Feuermann lehnte sich zurück.
»Bremse Gespann ab.«
Die sanfte Stimme des Schiffspiloten wirkte jedes Mal entspannend auf Junkers. Wie konnte jemand, der die Verantwortung über zwanzig Menschen hatte, dessen Befehl ein Metallungetüm von hundert Metern Länge auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte, so ruhig sein?
Die einsetzenden Vibrationen und das störende Geräusch des Andruckwarners beendeten seinen Gedankengang.
»Zielschiff wehrt sich, Klammern halten nur bedingt!«
»Korrigiere Flug, Manöver ›Gegenschub‹ eingeleitet.«
Der Pilot an Bord des Piratenschiffes erwies sich als begnadeter Raumfahrer. Er traktierte die ›Duisburg‹ mit Wechselschüben aus seinen Triebwerken, lies Teile der Außenhülle gezielt in den Wirkungsbereich des Haltestrahls trudeln, dass man glauben konnte, er wäre nicht das erste Mal verfolgt worden.
Doch der Widerstand hatte System. Junker kamen die Manöver darüber hinaus seltsam bekannt vor.
»Konzentrieren Sie die Fessel auf den Kernbereich, der hat Tarnaufbauten.«
Der Befehl des Kapitäns kam nur einen Sekundenbruchteil, bevor Feuermann Hans Heiser die Justierung des violetten Feldes entsprechend anpassen konnte.
»Erfolgt!«, brüllte er zurück.
Die Wirkung trat sofort ein. Das Schiff hörte schlagartig auf zu zittern. Als Heiser mit einer gezielten Salve die Hauptschubeinheit des Freibeuters in einen Schlackeklumpen verwandelte, hörte auch das Dröhnen auf, daß die Triebwerke ihres Schiffes machten, um dem Zug der Fluchtmanöver auszugleichen.
»Volle Kontrolle, steuere Gespann zum nächsten Basispunkt.«
Junker befreite sich aus seinem Sitz. Mit einer knappen Handbewegung aktivierte er den Rundsprech.
»Einsatzgruppe Eins fertigmachen zum Ausschleusen.« gab er Anweisung. Sein Blick wanderte zum Ortungsstand.
»Major Klein, die ›Duisburg‹ gehört Ihnen, ich möchte mir den Anführer der Piraten selber vornehmen.«
»Zu Befehl, Oberst.« Klein sprang auf, salutierte und nahm auf dem Zentralsitz Platz.
Als Junker in den hinteren Teil der Fregatte kam, in dem die Besatzung auf ihren Einsatz wartete, waren die acht Soldaten bereits fertig.
»Soldaten, wir haben einen Freibeuter aufgebracht, der sich vehement gewehrt hat. Wir müssen mit allem rechnen. Ich weiß, dass Sie alle gut vorbereitet und motiviert sind. Wir werden da drüben Ordnung schaffen, ohne zu vergessen, dass Piraten auch Menschen sind. Warum sie andere Schiffe überfallen und welche Strafe sie dafür bekommen, entscheiden die Gerichte auf den Kernwelten. Natürlich kennen Sie die Vorschriften, aber ich möchte sie daran erinnern, sich auch danach zu richten.«
Bestimmtes Nicken, die Leute wussten genau, das sie keinen Fehler machen durften.
»Also gut, in die Tunnel.«
Sie schwebten im luftlosen Raum auf das schwer angeschlagene Schiff der Freibeuter zu. Nur das Glitzern der beweglichen Hülle aus Keramenit um sie herum bewies, dass sie vor den tödlichen Strahlen des Zentralgestirns und herumfliegenden Kleinstmeteoriten geschützt waren.
Die zwei Dosenöffner, die als erste den Tunnel betreten hatten, brauchten nur wenige Sekunden, dann schob sich das Schott des Nebeneinstiegs zur Seite.
Junker nickte den beiden Kommandos in ihren schwer gepanzerten Raumanzügen aufmunternd zu. Sie hatten die undankbare Aufgabe, vor den anderen die Schleuse des Schiffes zu passieren und den Eingang zu sichern. Sie zwängten sich durch die für sie enge Öffnung und schlossen das Schott von innen. Von nun an waren sie auf sich alleine gestellt.
»Verdammter Mist. Nie weiß man, was drinnen passiert«, fluchte Unteroffizier Ludwig. Der Oberst sah zu ihm rüber und presste die Lippen zusammen. Der Mann hatte recht.
Das Entern eines erbeuteten Schiffes gehörte zu den Schwierigsten Übungen in der Raumfahrt. Und sie mussten ausgerechnet Piraten, die das ziemlich gut beherrschten, jagen und aufbringen.
»Nur ruhig bleiben, Hansen und Fischer machen das schon. Die gehören zu den besten Klarmachern der Flotte.«
Die Männer grinsten, denn jeder kannte die Geschichten, die man sich von den beiden Frauenhelden erzählte.
Ein kleines grünes Licht an der Außenwand des Piratenschiffes leuchtete auf und im gleichen Moment fuhr das Schott beiseite.
»Sehen Sie?«, rief Junker und winkte die ersten Nachsetzer in die Schleuse. Nach kurzer Zeit standen alle in einem überraschend geräumigen Gang, der anscheinend an der Hauptachse des Schiffes entlangführte.
Fischer wies in die eine Richtung.
»Da hinten ist der Triebwerkssektor, der nur noch Schrott ist. Ohne die verteilten Energieerzeugerräume wäre hier keiner mehr am Leben. Dort entlang finden wir den Kommandoraum.«
Er und Hansen übernahmen die Führung, gefolgt vom Oberst und den Soldaten. Den Abschluss bildete Ludwig.
Es gab keinen Widerstand, eine durchaus bemerkenswerte Tatsache. Kapitän Junker spürte, wie sich schleichend Nervosität breitmachte. Es wurde Zeit, dass sie die Freibeuter stellten, die vor Kurzem ein Diplomatenschiff der Erde aufgebracht hatten. Niemand wusste, was aus den zwei Frauen und vier Männern der Delegation geworden war, die über die zukünftigen Beziehungen der Kernwelten mit den Bezirken um den Gojano-Sektor verhandeln sollten.
Sie erreichten die Schleuse zum Kommandoraum des Piraten, sie war bezeichnenderweise geöffnet.
»Was soll das denn? Ist eine verdammte Falle, das rieche ich doch!«
Ludwig schob sich durch die Gruppe und blieb vor seinem Kapitän stehen.
»Erst leisten die keinen Widerstand, dann locken sie uns in diesen Raum da. Herr Oberst, sie können da nicht rein.«
Junkers betrachtete den Truppführer eingehend. Der Unteroffizier hatte unzählige Einsätze hinter sich, war schon in beinahe jede Falle getappt, die ihm Piraten und andere Feinde gestellt hatten. Und hatte überlebt. Er glaubte ihm.
Doch da war etwas Anderes.
Erst das Fluchtmanöver. Und dann war ihm nach dem Betreten des Wracks der Gang seltsam vertraut vorgekommen, die Farbe, die Zeichen an den Wänden.
Er kannte dieses Schiff. Und er wollte unbedingt herausfinden, wieso.
»Sie haben recht, Ludwig. Alles deutet auf eine Falle hin. Wir können jedoch nicht einfach abziehen. Deshalb werden Sie, Hansen, Fischer und meine Wenigkeit jetzt da rein stürmen und sehen, dass wir die Verbrecher stellen. Und ...«,
hielt Junker in seiner Ansprache inne und sah die Drei nacheinander an, »... ich möchte nicht, dass Sie drauflos ballern. Unsere Anzüge halten einige Salven aus, wir riskieren nicht das Leben der Geiseln. Verstanden?«
»Verstanden!«
»Klar, Kapitän!«
Jawohl!«
»Dann los!«
Wenige Augenblicke später stand Oberst Junker sich selbst gegenüber.
So fühlte es sich für ihn an, dennoch gab es erhebliche Unterschiede zwischen ihm und seinem Zwillingsbruder.
Sie waren wie abgesprochen einfach in die Zentrale gestürmt und hatten mit ihren Plasmagewehren in jede Ecke gezeigt. Doch es gab keine Ziele. Sein verloren geglaubter Bruder und ein schwer verletzter Pirat waren die letzten Gegner auf diesem Schiff.
»Es ist unglaublich, wie du dich gehalten hast. Durchs All fetzen hält jung, nicht wahr Bernd?«
Die dunklen Augen unter der hohen Stirn musterten ihn.
»Mensch Manni, ich kann es nicht glauben. Du spielst hier draußen Pirat? Ich dachte, du wärst tot.«
»Naja, liegt nahe, dass du das vermutest, immerhin bin ich über siebzig. Du übrigens auch.«
Natürlich war der Kapitän der »Duisburg« genauso alt wie sein Bruder. Doch im Gegensatz zu diesem hatte er mehrere Jahre im Dilatationsflug verbracht. Ohne diese Nahelichtgeschwindigkeit-Passagen wäre die Ordnung im kleinen Reich der Menschen nicht aufrecht zu erhalten.
Sie hatten zwar zusammen die Pilotenausbildung gemacht, doch sein Bruder hasste das Militär. Er flog lieber Rennen oder die Frachter der Firma.
»Klar Manfred, aber das hatten wir doch schon nach meiner ersten Reise bemerkt. Aber warum das hier?«
Junker machte eine allumfassende Geste.
»Seit wann musst Du Schiffe kapern, es ging unserer Familie nie schlecht.«
Der Oberst spürte, dass seine Männer unruhig wurden, ihnen war diese persönliche Auseinandersetzung offensichtlich peinlich. Er dachte einen Moment lang daran, alle wegzuschicken, doch dann sagte er:
»Hansen, Fischer. Sie bilden zwei Trupps und durchkämmen die Reste des Schiffes und bereiten seine Vernichtung vor. Alles, was nach Beute aussieht, ist sicherzustellen.«
»Klar, Kapitän.«
Und raus waren sie. In Ludwigs Gesicht regte sich kein Muskel, es war nicht auszumachen, ob er auch lieber bei den anderen wäre oder nicht. Doch ganz ohne Rückendeckung wollte Junker nicht sein. Selbst nicht, wenn er mit seinem Bruder sprach. Oder gerade deshalb?
»Nun?«
»Ganz der Befehlende. Das ist dir angeboren, wirklich. Nur hast du die Zeit vergessen, nein, falsch, sie ist einfach zu schnell an dir vorbeigezischt!«
Er bewegte seinen Arm schnell vor seinem Gesicht hin und her. Die Bewegung kam so plötzlich, dass der Oberst und sein Unteroffizier in der nächsten Sekunde auf Manfred Junker angelegt hatten.
Der hob erschreckt seine Arme.
»Ahh, nicht schießen, tut mir leid.«
Ludwig deutete auf den vierten Mann im Raum.
»Was ist mit ihm, sollten wir ihm nicht helfen?«
Der Kapitän des zerstörten Freibeuterschiffes schüttelte traurig den Kopf.
»Lassen Sie mal, der hat ein Stahlteil im Bauch.«
Er sah wieder seinen Bruder an.
»Vater wurde Opfer eines Überfalls, was du noch wissen solltest. Doch Mutter hat das nicht verkraftet, auch weil die Mörder nie gefunden wurden.«
Junker konnte die Wut in Manfreds Gesicht erkennen, als er von den beinahe vergessenen Ereignissen erzählte.
»Sie konnte die Geschäfte nicht so weiterführen, wie Vati es getan hatte. Und irgendwann hat sie ein Angebot zum Verkauf angenommen. Und damit war auch ich meine Arbeit los.«
Das hatte er natürlich nicht gewusst, sein letzter Besuch war kurz nach Vaters Tod gewesen. Junker ahnte nun, dass auch sein Bruder mit dem Verlust nicht fertig geworden war. Und er flog im All herum und jagte Piraten oder sorgte sonstwie für Ordnung. Nur in der Familie gab es die nicht.
»Es ... tut mir leid. Wie konnte ich das ahnen? Warum hast du keine Nachricht an die Flotte geschickt? Die hätten mich überall erreicht.«
»›Den feinen Soldaten mit kleinlichen Familienproblemen belasten? Was ich denn glaubte, wer sie wären?‹ Das musste ich mir anhören, als ich es versuchte. Ja, und auf dem Rückflug nach Gojano geriet ich an die Piraten ...«
Und da war er auch geblieben. Gegen seine Flugkünste waren sie machtlos, und er konnte ihnen nicht entkommen, weil sie ihn mit einem Anker festhielten. Aus dem Patt war eine Zusammenarbeit geworden.
Junker war ratlos. Sollte er seinen Bruder festnehmen? Er glaubte nicht, dass er das könnte. Was, wenn er ihn mitnahm und die anderen ... ?
Er wurde in seinen Grübeleien unterbrochen, als Hansen seine Kopf durch das Schott steckte.
»Oberst, wir haben das Schiff durchsucht. Diebesgut ist sichergestellt. Außer den Anwesenden«, er sah Manfred und den Schwerverletzten abschätzend an, »keine Personen an Bord. Auch keine Geiseln.«
Keine ...?
Kapitän Junker blickte seinen Bruder streng an.
»Die haben wir auf unserem Stützpunkt untergebracht. Waren nur dazu nötig, euch anzulocken. Die Daten sind im Rechner.«
»Wie groß war deine Mannschaft? Du kannst diesen Kahn unmöglich alleine fliegen«, hakte Junker nach.
»Doch, das kann ich, glaube mir. Die meisten brauche ich zum Entern. Leider ist bei der Explosion unseres Haupttriebwerks die Kapsel mit dem Kommando mit weggeflogen. Wir beiden«, Manfred blickte traurig seinen Kumpel an, »sind die Letzten.«
Der Oberst traf eine Entscheidung.
»Wir bringen euch rüber. Ihr seid offiziell verhaftet. Dein Schiff wird gesprengt. Hansen, Ludwig!«
Er würde seinen Bruder nicht bedingungslos der Justiz ausliefern, das war er ihm schuldig. Er wandte sich um und wollte zum Ausgang, als ihm ein eigenartiger Geruch in die Nase stieg. Er sah noch Hansen, der die Augen verdrehte und nach hinten kippte, dann verließen ihn selbst die Sinne.
»Ah, da bist du ja wieder. Tut mir leid, aber ich konnte meinen Plan nicht ändern, nur weil du der Kapitän dieses schönen Schiffes warst.«
Junker blinzelte in das helle Licht der Sanitätsabteilung seiner Fregatte.
»Was zum ... ich glaub es nicht, es war doch eine Falle!«
Manfred saß an seinem Bett und fuhr sich durch die wenigen verbliebenen grauen Haare.
»Sicher, dein Unteroffizier hatte dich gewarnt. Ein patenter Kerl, wirklich.«
»Und wofür?«
»Kannst du dir das nicht denken? Ich will die erwischen, die Vater auf dem Gewissen haben. Und seit kurzem weiß ich auch, wo sie sich aufhalten.«
Junker riss die Augen vor Staunen weit auf.
»Manni, das ist bestimmt vierzig Jahre her!«
»Ja und? Die leben. Vati nicht. Seit ich die Piraten getroffen habe, lässt mich der Gedanke nicht los, dass ich die Schweine doch noch erwischen kann. Und bald ist es so weit.«
›Und warum eine Fregatte?‹ wollte er fragen, doch die Antwort lag auf der Hand. Er benötigte ein Dilatationsschiff.
»Wohin?«, fragte er stattdessen.
»Zur Erde. Immerhin erfülle ich mir damit einen anderen langgehegten Wunsch.«
Das Lachen wirkte gequält. Die Rachsucht hatte seinen Bruder voll im Griff.
»Was ist aus meinen Männern geworden? Gab es Tote?«
Das Lächeln, das ihm jetzt entgegenstrahlte, war dagegen echt.
»Haben alle schön geschlafen, auch die hier Wache hatten. Eure Schleusen sind nicht sehr gut gesichert. Da sollte die Flotte wirklich nachrüsten.«
Durch die Schleusen. Also war die Geschichte mit der abgesprengten Kabine gelogen gewesen. Die Piraten hatten sich zur ›Duisburg‹ abgeseilt, waren einfach hinübergeschwebt.
Junker richtete sich auf und sah seinen so verschiedenen Zwillingsbruder an.
»Ok, das Spiel hast du wohl gewonnen. Und was wird, wenn du dein Ziel auf der Erde erreicht hast?«
Manfred blickte hinüber zum Panoramafenster der Kabine und starrte eine Zeit den Sternen hinterher, die draußen langsam nach Backbord zogen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht nimmst du mich fest. Immerhin hättest du dann wirklich Grund dazu.«
Kapitän des Raumes Oberst Bernd Junker starrte gebannt auf die Anzeigen der Entfernungsmessung. Seine Finger krallten sich in die Sessellehne, während er im Geiste die Sekunden herunter zählte.
Seit sie in Schlagdistanz zu dem Piratenschiff gelangt waren, lag der Erfolg der Aktion einzig beim Piloten und dem Feuermann. Junker hoffte das Beste und seine Hoffnung beruhte auf der Tatsache, dass ihnen noch kein Freibeuter entkommen war.
›... zwei ... eins. Und ab damit!‹, dachte er inbrünstig.
Im gleichen Moment leuchtete auf dem Frontschirm vor ihm das schwach violette Schimmern des Ankers auf, der sich blitzgleich von ihnen entfernte. Der Pilot hielt die ›Duisburg‹ weiterhin auf Kurs, die Maschinen bis an die Grenzen belastet.
Das Piratenschiff, ein Konglomerat aus notdürftig zusammengebauten Kabinen und Antriebselementen, wurde durch das Auftreffen des Fesselfeldes schwer durchgeschüttelt. An einigen Stellen lösten sich Elemente der Außenhaut, und eine der Wohneinheiten wackelte bedenklich.
Diese Pirateneinheiten wurden nur zu dem Zweck zusammengesetzt, Privatschiffe und Linienraumer hier im Gojano-Sektor zu attackieren und zu entern.
Oberst Junker fragte sich zum wiederholten Male, warum Menschen sich einem solchen Kahn anzuvertrauten, nur für die vage Hoffnung, mit einem einzigen gelungenen Überfall ausgesorgt zu haben.
»Haben wir ihn?« hallte seine Frage durch den engen Kommandoraum der Fregatte.
»Angedockt Kapitän.« Der Feuermann lehnte sich zurück.
»Bremse Gespann ab.«
Die sanfte Stimme des Schiffspiloten wirkte jedes Mal entspannend auf Junkers. Wie konnte jemand, der die Verantwortung über zwanzig Menschen hatte, dessen Befehl ein Metallungetüm von hundert Metern Länge auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte, so ruhig sein?
Die einsetzenden Vibrationen und das störende Geräusch des Andruckwarners beendeten seinen Gedankengang.
»Zielschiff wehrt sich, Klammern halten nur bedingt!«
»Korrigiere Flug, Manöver ›Gegenschub‹ eingeleitet.«
Der Pilot an Bord des Piratenschiffes erwies sich als begnadeter Raumfahrer. Er traktierte die ›Duisburg‹ mit Wechselschüben aus seinen Triebwerken, lies Teile der Außenhülle gezielt in den Wirkungsbereich des Haltestrahls trudeln, dass man glauben konnte, er wäre nicht das erste Mal verfolgt worden.
Doch der Widerstand hatte System. Junker kamen die Manöver darüber hinaus seltsam bekannt vor.
»Konzentrieren Sie die Fessel auf den Kernbereich, der hat Tarnaufbauten.«
Der Befehl des Kapitäns kam nur einen Sekundenbruchteil, bevor Feuermann Hans Heiser die Justierung des violetten Feldes entsprechend anpassen konnte.
»Erfolgt!«, brüllte er zurück.
Die Wirkung trat sofort ein. Das Schiff hörte schlagartig auf zu zittern. Als Heiser mit einer gezielten Salve die Hauptschubeinheit des Freibeuters in einen Schlackeklumpen verwandelte, hörte auch das Dröhnen auf, daß die Triebwerke ihres Schiffes machten, um dem Zug der Fluchtmanöver auszugleichen.
»Volle Kontrolle, steuere Gespann zum nächsten Basispunkt.«
Junker befreite sich aus seinem Sitz. Mit einer knappen Handbewegung aktivierte er den Rundsprech.
»Einsatzgruppe Eins fertigmachen zum Ausschleusen.« gab er Anweisung. Sein Blick wanderte zum Ortungsstand.
»Major Klein, die ›Duisburg‹ gehört Ihnen, ich möchte mir den Anführer der Piraten selber vornehmen.«
»Zu Befehl, Oberst.« Klein sprang auf, salutierte und nahm auf dem Zentralsitz Platz.
Als Junker in den hinteren Teil der Fregatte kam, in dem die Besatzung auf ihren Einsatz wartete, waren die acht Soldaten bereits fertig.
»Soldaten, wir haben einen Freibeuter aufgebracht, der sich vehement gewehrt hat. Wir müssen mit allem rechnen. Ich weiß, dass Sie alle gut vorbereitet und motiviert sind. Wir werden da drüben Ordnung schaffen, ohne zu vergessen, dass Piraten auch Menschen sind. Warum sie andere Schiffe überfallen und welche Strafe sie dafür bekommen, entscheiden die Gerichte auf den Kernwelten. Natürlich kennen Sie die Vorschriften, aber ich möchte sie daran erinnern, sich auch danach zu richten.«
Bestimmtes Nicken, die Leute wussten genau, das sie keinen Fehler machen durften.
»Also gut, in die Tunnel.«
Sie schwebten im luftlosen Raum auf das schwer angeschlagene Schiff der Freibeuter zu. Nur das Glitzern der beweglichen Hülle aus Keramenit um sie herum bewies, dass sie vor den tödlichen Strahlen des Zentralgestirns und herumfliegenden Kleinstmeteoriten geschützt waren.
Die zwei Dosenöffner, die als erste den Tunnel betreten hatten, brauchten nur wenige Sekunden, dann schob sich das Schott des Nebeneinstiegs zur Seite.
Junker nickte den beiden Kommandos in ihren schwer gepanzerten Raumanzügen aufmunternd zu. Sie hatten die undankbare Aufgabe, vor den anderen die Schleuse des Schiffes zu passieren und den Eingang zu sichern. Sie zwängten sich durch die für sie enge Öffnung und schlossen das Schott von innen. Von nun an waren sie auf sich alleine gestellt.
»Verdammter Mist. Nie weiß man, was drinnen passiert«, fluchte Unteroffizier Ludwig. Der Oberst sah zu ihm rüber und presste die Lippen zusammen. Der Mann hatte recht.
Das Entern eines erbeuteten Schiffes gehörte zu den Schwierigsten Übungen in der Raumfahrt. Und sie mussten ausgerechnet Piraten, die das ziemlich gut beherrschten, jagen und aufbringen.
»Nur ruhig bleiben, Hansen und Fischer machen das schon. Die gehören zu den besten Klarmachern der Flotte.«
Die Männer grinsten, denn jeder kannte die Geschichten, die man sich von den beiden Frauenhelden erzählte.
Ein kleines grünes Licht an der Außenwand des Piratenschiffes leuchtete auf und im gleichen Moment fuhr das Schott beiseite.
»Sehen Sie?«, rief Junker und winkte die ersten Nachsetzer in die Schleuse. Nach kurzer Zeit standen alle in einem überraschend geräumigen Gang, der anscheinend an der Hauptachse des Schiffes entlangführte.
Fischer wies in die eine Richtung.
»Da hinten ist der Triebwerkssektor, der nur noch Schrott ist. Ohne die verteilten Energieerzeugerräume wäre hier keiner mehr am Leben. Dort entlang finden wir den Kommandoraum.«
Er und Hansen übernahmen die Führung, gefolgt vom Oberst und den Soldaten. Den Abschluss bildete Ludwig.
Es gab keinen Widerstand, eine durchaus bemerkenswerte Tatsache. Kapitän Junker spürte, wie sich schleichend Nervosität breitmachte. Es wurde Zeit, dass sie die Freibeuter stellten, die vor Kurzem ein Diplomatenschiff der Erde aufgebracht hatten. Niemand wusste, was aus den zwei Frauen und vier Männern der Delegation geworden war, die über die zukünftigen Beziehungen der Kernwelten mit den Bezirken um den Gojano-Sektor verhandeln sollten.
Sie erreichten die Schleuse zum Kommandoraum des Piraten, sie war bezeichnenderweise geöffnet.
»Was soll das denn? Ist eine verdammte Falle, das rieche ich doch!«
Ludwig schob sich durch die Gruppe und blieb vor seinem Kapitän stehen.
»Erst leisten die keinen Widerstand, dann locken sie uns in diesen Raum da. Herr Oberst, sie können da nicht rein.«
Junkers betrachtete den Truppführer eingehend. Der Unteroffizier hatte unzählige Einsätze hinter sich, war schon in beinahe jede Falle getappt, die ihm Piraten und andere Feinde gestellt hatten. Und hatte überlebt. Er glaubte ihm.
Doch da war etwas Anderes.
Erst das Fluchtmanöver. Und dann war ihm nach dem Betreten des Wracks der Gang seltsam vertraut vorgekommen, die Farbe, die Zeichen an den Wänden.
Er kannte dieses Schiff. Und er wollte unbedingt herausfinden, wieso.
»Sie haben recht, Ludwig. Alles deutet auf eine Falle hin. Wir können jedoch nicht einfach abziehen. Deshalb werden Sie, Hansen, Fischer und meine Wenigkeit jetzt da rein stürmen und sehen, dass wir die Verbrecher stellen. Und ...«,
hielt Junker in seiner Ansprache inne und sah die Drei nacheinander an, »... ich möchte nicht, dass Sie drauflos ballern. Unsere Anzüge halten einige Salven aus, wir riskieren nicht das Leben der Geiseln. Verstanden?«
»Verstanden!«
»Klar, Kapitän!«
Jawohl!«
»Dann los!«
Wenige Augenblicke später stand Oberst Junker sich selbst gegenüber.
So fühlte es sich für ihn an, dennoch gab es erhebliche Unterschiede zwischen ihm und seinem Zwillingsbruder.
Sie waren wie abgesprochen einfach in die Zentrale gestürmt und hatten mit ihren Plasmagewehren in jede Ecke gezeigt. Doch es gab keine Ziele. Sein verloren geglaubter Bruder und ein schwer verletzter Pirat waren die letzten Gegner auf diesem Schiff.
»Es ist unglaublich, wie du dich gehalten hast. Durchs All fetzen hält jung, nicht wahr Bernd?«
Die dunklen Augen unter der hohen Stirn musterten ihn.
»Mensch Manni, ich kann es nicht glauben. Du spielst hier draußen Pirat? Ich dachte, du wärst tot.«
»Naja, liegt nahe, dass du das vermutest, immerhin bin ich über siebzig. Du übrigens auch.«
Natürlich war der Kapitän der »Duisburg« genauso alt wie sein Bruder. Doch im Gegensatz zu diesem hatte er mehrere Jahre im Dilatationsflug verbracht. Ohne diese Nahelichtgeschwindigkeit-Passagen wäre die Ordnung im kleinen Reich der Menschen nicht aufrecht zu erhalten.
Sie hatten zwar zusammen die Pilotenausbildung gemacht, doch sein Bruder hasste das Militär. Er flog lieber Rennen oder die Frachter der Firma.
»Klar Manfred, aber das hatten wir doch schon nach meiner ersten Reise bemerkt. Aber warum das hier?«
Junker machte eine allumfassende Geste.
»Seit wann musst Du Schiffe kapern, es ging unserer Familie nie schlecht.«
Der Oberst spürte, dass seine Männer unruhig wurden, ihnen war diese persönliche Auseinandersetzung offensichtlich peinlich. Er dachte einen Moment lang daran, alle wegzuschicken, doch dann sagte er:
»Hansen, Fischer. Sie bilden zwei Trupps und durchkämmen die Reste des Schiffes und bereiten seine Vernichtung vor. Alles, was nach Beute aussieht, ist sicherzustellen.«
»Klar, Kapitän.«
Und raus waren sie. In Ludwigs Gesicht regte sich kein Muskel, es war nicht auszumachen, ob er auch lieber bei den anderen wäre oder nicht. Doch ganz ohne Rückendeckung wollte Junker nicht sein. Selbst nicht, wenn er mit seinem Bruder sprach. Oder gerade deshalb?
»Nun?«
»Ganz der Befehlende. Das ist dir angeboren, wirklich. Nur hast du die Zeit vergessen, nein, falsch, sie ist einfach zu schnell an dir vorbeigezischt!«
Er bewegte seinen Arm schnell vor seinem Gesicht hin und her. Die Bewegung kam so plötzlich, dass der Oberst und sein Unteroffizier in der nächsten Sekunde auf Manfred Junker angelegt hatten.
Der hob erschreckt seine Arme.
»Ahh, nicht schießen, tut mir leid.«
Ludwig deutete auf den vierten Mann im Raum.
»Was ist mit ihm, sollten wir ihm nicht helfen?«
Der Kapitän des zerstörten Freibeuterschiffes schüttelte traurig den Kopf.
»Lassen Sie mal, der hat ein Stahlteil im Bauch.«
Er sah wieder seinen Bruder an.
»Vater wurde Opfer eines Überfalls, was du noch wissen solltest. Doch Mutter hat das nicht verkraftet, auch weil die Mörder nie gefunden wurden.«
Junker konnte die Wut in Manfreds Gesicht erkennen, als er von den beinahe vergessenen Ereignissen erzählte.
»Sie konnte die Geschäfte nicht so weiterführen, wie Vati es getan hatte. Und irgendwann hat sie ein Angebot zum Verkauf angenommen. Und damit war auch ich meine Arbeit los.«
Das hatte er natürlich nicht gewusst, sein letzter Besuch war kurz nach Vaters Tod gewesen. Junker ahnte nun, dass auch sein Bruder mit dem Verlust nicht fertig geworden war. Und er flog im All herum und jagte Piraten oder sorgte sonstwie für Ordnung. Nur in der Familie gab es die nicht.
»Es ... tut mir leid. Wie konnte ich das ahnen? Warum hast du keine Nachricht an die Flotte geschickt? Die hätten mich überall erreicht.«
»›Den feinen Soldaten mit kleinlichen Familienproblemen belasten? Was ich denn glaubte, wer sie wären?‹ Das musste ich mir anhören, als ich es versuchte. Ja, und auf dem Rückflug nach Gojano geriet ich an die Piraten ...«
Und da war er auch geblieben. Gegen seine Flugkünste waren sie machtlos, und er konnte ihnen nicht entkommen, weil sie ihn mit einem Anker festhielten. Aus dem Patt war eine Zusammenarbeit geworden.
Junker war ratlos. Sollte er seinen Bruder festnehmen? Er glaubte nicht, dass er das könnte. Was, wenn er ihn mitnahm und die anderen ... ?
Er wurde in seinen Grübeleien unterbrochen, als Hansen seine Kopf durch das Schott steckte.
»Oberst, wir haben das Schiff durchsucht. Diebesgut ist sichergestellt. Außer den Anwesenden«, er sah Manfred und den Schwerverletzten abschätzend an, »keine Personen an Bord. Auch keine Geiseln.«
Keine ...?
Kapitän Junker blickte seinen Bruder streng an.
»Die haben wir auf unserem Stützpunkt untergebracht. Waren nur dazu nötig, euch anzulocken. Die Daten sind im Rechner.«
»Wie groß war deine Mannschaft? Du kannst diesen Kahn unmöglich alleine fliegen«, hakte Junker nach.
»Doch, das kann ich, glaube mir. Die meisten brauche ich zum Entern. Leider ist bei der Explosion unseres Haupttriebwerks die Kapsel mit dem Kommando mit weggeflogen. Wir beiden«, Manfred blickte traurig seinen Kumpel an, »sind die Letzten.«
Der Oberst traf eine Entscheidung.
»Wir bringen euch rüber. Ihr seid offiziell verhaftet. Dein Schiff wird gesprengt. Hansen, Ludwig!«
Er würde seinen Bruder nicht bedingungslos der Justiz ausliefern, das war er ihm schuldig. Er wandte sich um und wollte zum Ausgang, als ihm ein eigenartiger Geruch in die Nase stieg. Er sah noch Hansen, der die Augen verdrehte und nach hinten kippte, dann verließen ihn selbst die Sinne.
»Ah, da bist du ja wieder. Tut mir leid, aber ich konnte meinen Plan nicht ändern, nur weil du der Kapitän dieses schönen Schiffes warst.«
Junker blinzelte in das helle Licht der Sanitätsabteilung seiner Fregatte.
»Was zum ... ich glaub es nicht, es war doch eine Falle!«
Manfred saß an seinem Bett und fuhr sich durch die wenigen verbliebenen grauen Haare.
»Sicher, dein Unteroffizier hatte dich gewarnt. Ein patenter Kerl, wirklich.«
»Und wofür?«
»Kannst du dir das nicht denken? Ich will die erwischen, die Vater auf dem Gewissen haben. Und seit kurzem weiß ich auch, wo sie sich aufhalten.«
Junker riss die Augen vor Staunen weit auf.
»Manni, das ist bestimmt vierzig Jahre her!«
»Ja und? Die leben. Vati nicht. Seit ich die Piraten getroffen habe, lässt mich der Gedanke nicht los, dass ich die Schweine doch noch erwischen kann. Und bald ist es so weit.«
›Und warum eine Fregatte?‹ wollte er fragen, doch die Antwort lag auf der Hand. Er benötigte ein Dilatationsschiff.
»Wohin?«, fragte er stattdessen.
»Zur Erde. Immerhin erfülle ich mir damit einen anderen langgehegten Wunsch.«
Das Lachen wirkte gequält. Die Rachsucht hatte seinen Bruder voll im Griff.
»Was ist aus meinen Männern geworden? Gab es Tote?«
Das Lächeln, das ihm jetzt entgegenstrahlte, war dagegen echt.
»Haben alle schön geschlafen, auch die hier Wache hatten. Eure Schleusen sind nicht sehr gut gesichert. Da sollte die Flotte wirklich nachrüsten.«
Durch die Schleusen. Also war die Geschichte mit der abgesprengten Kabine gelogen gewesen. Die Piraten hatten sich zur ›Duisburg‹ abgeseilt, waren einfach hinübergeschwebt.
Junker richtete sich auf und sah seinen so verschiedenen Zwillingsbruder an.
»Ok, das Spiel hast du wohl gewonnen. Und was wird, wenn du dein Ziel auf der Erde erreicht hast?«
Manfred blickte hinüber zum Panoramafenster der Kabine und starrte eine Zeit den Sternen hinterher, die draußen langsam nach Backbord zogen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht nimmst du mich fest. Immerhin hättest du dann wirklich Grund dazu.«