Pisa-Salat

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Tapir

Mitglied
Sie glauben nicht, daß es einen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Pisa-Studie und dem Salatbüffet in unserer Firma gibt? Es gibt einen: Pisa ist nämlich überall, selbst in unserer Kantine. Eines der Hauptergebnisse der Studie war doch, daß die Kreativität in unserem Schulsystem zu wenig gefördert wird. Was das Schulsystem anbetrifft, kann ich das nicht beurteilen - dazu bin ich schon viel zu lange von der Schule weg. Aber daß auch in Unternehmen kreativen Entwicklungen ein Riegel vorgeschoben wird, davon konnte ich mich letzte Woche selbst überzeugen.
Vor einem Jahr wurde in unserer Kantine das Salatbüffet eingeführt. Die kleine Salatschüssel - als Beilage - kostete eine Mark, der große Salatteller drei Mark fünfzig. Diese Preise waren immer gleich, unabhängig davon, wieviel man sich auf den Teller häufte. Und genau da war der Startpunkt für eine kreative Leistung, die später eine ungeahnte Dynamik entwickeln sollte.
Der Grosse Salatteller ist nämlich an sich ein flacher Glasteller - keineswegs eine Schüssel mit hohen Rändern, wie man sie manchmal auf Büffets von Autobahnraststätten sieht. Auf so einem flachen Teller eine große Menge Salat unterzubringen, ist gar nicht so einfach. Zuerst machten viele Kollegen hier noch typische Anfängerfehler. Legten beispielsweise große Eisbergsalatblätter auf einen bereits gehäuften Salatteller mit dem Effekt, daß die Salatblätter entweder herunterzurutschen drohten, oder aber zumindest auf diese Salatblätter nichts mehr hinaufzulegen war, weil die in ihrer schräg angestellten Position für weitere Salate die Funktion einer Rutschbahn bekamen. Das gleiche gilt für Chicoree, den gibt es aber selten.
In den ersten Wochen war bereits eine gewisse Lernkurve erkennbar. Daß man - um möglichst viel auf den Teller zu bekommen - mit Salaten von geringem spezifischem Gewicht anfängt, um dann in einer zweiten Schicht spezifisch schwerere Salate wie Kartoffelsalat nimmt, um die erste Schicht zu verdichten und so eine stabilere Grundlage für eine dritte Schicht zu schaffen, gehörte bald zu den Grundlagenkenntnissen jedes Salatessers. Auch daß Oliven nicht erst zum Schluss, wie man aus dekorativen Erwägungen heraus vielleicht annehmen könnte, sondern ganz zu Beginn auf den Teller gehören - sie werden dann vom Nudelsalat auf dem Teller gehalten und können nicht herunterkullern - machte bald niemand mehr falsch.
Den wahren Salatkünstlern war auch bald die segensreiche Wirkung der verschiedenen Salatsoßen nicht mehr fremd, die je nach Aufbaustatus unterschiedlich gut geeignet sind, eine tragende, weil zusammenpappende Wirkung zu erzielen. So wie schließlich der moderne Hochhausbau auch nicht mehr ohne die Skelettbauweise auskommt, eignen sich zeltförmig angeordnete Pepperonischoten zur vertikalen Stabilisierung des Salatgebäudes. Die horizontale Stabilisierung läßt sich in kritischen Bereichen mit einer - allerdings aufpreispflichtigen - Bulette erreichen. Turmhohe, pyramidenförmige Bauwerke bildeten sich heraus, an den Seiten mit Krautsalat verputzt.
Nach einem dreiviertel Jahr war die empirische Phase vorbei. Die gewonnenen Erkenntnisse mußten in ein theoretisches Modell transformiert werden. Nach Feierabend entstanden auf den Hochleistungsrechnern des Entwicklungszentrums erste Simulationsmodelle nach der Finite Element-Methode. Schon bald war es möglich, das Verhalten von Gemüsemais unter Druckbelastung zu simulieren, ebenso die Fließeigenschaften und Viskositäten von Joghurtsoße gegenüber Essig-Öl und den Taumelfaktor von geviertelten Tomaten. Rechenmodelle wurden getauscht, optimiert und wieder verworfen.
Erkenntisse der Chaos-Forschung flossen ein, da sich das Salatangebot täglich änderte und so nie von standardisierten Bedingungen ausgegangen werden konnte. Mit besonders ausgeklügelten Systemen gelang es schließlich, bis zu 2 Kilo Salat auf einem Teller unterzubringen und diese auch ohne Beschädigung zum Kassenbereich zu transportieren.
Bis letzte Woche.
Denn Freitag letzter Woche gab es einen Aushang in der Kantine, auf dem zu lesen stand, daß der Salat in Zukunft nach Gewicht bezahlt werden soll. Dazu seien an den Kassen eigens Waagen angebracht worden. Das Entsetzen in der Kantine war physisch spürbar. Bezahlen nach Gewicht - wo ist da der Reiz? Wertlos auf einmal alle Programme, die auf CD-ROM gebrannt, hin- und hergetauscht wurden. Unbelohnt plötzlich das unermüdliche Tüfteln, eingeschränkt durch ein starres, bürokratisches Regelwerk, das jeglichen Freiraum für kreative Leistungen im Keim erstickt.
Ich befürchte ernsthaft, daß wir auch in dieser Disziplin international den Anschluß verlieren.

© by Stefan Schrahe, Juli 2002
 
E

Edgar Güttge

Gast
Hallo Tapir,

präzise beobachtet, konsequent durchdacht, nüchtern formuliert, eine amüsante Alltagssatire.
Eines ist mir allerdings - auch schon bei Aldi Süd - aufgefallen. Kurz vor Schluss verliert der Text ein wenig seine Dynamik. Hier an der Stelle mit dem Aushang. Es wäre vielleicht eine Überlegung wert, den letzten Absatz etwas umzustrukturieren. Ungefähr so: erst ein Hinweis, dass wir in dieser Disziplin international endlich mal absolute Spitze sind - dann vielleicht jemand, der problem- und risikolos einen Salat in der Form des Turms von Pisa jongliert - und im letzten Satz die Pointe: 12,50 €. Haben Sie denn den Aushang nicht gesehen? Ab heute wird nach Gewicht bezahlt. Ausformulieren kannst du das sicherlich viel besser als ich.
Insgesamt hat es mir sehr gut gefallen.

Gruß
Edgar
 

Tapir

Mitglied
Hallo Edgar,
vielen Dank erstmal für Deinen Kommentar. Es freut mich, daß Dir meine Texte gefallen.
Ich habe "Aldi-Süd" und "Pisa-Salat" schon sehr oft - unter anderem bei Poetry-Slams - vorgelesen und jedesmal festgestellt, daß der Aufbau so, wie er ist, ganz gut funktioniert. Du hast recht, daß die Dynamik am Schluß etwas draußen ist, aber in beiden Texten ist das eigentlich die Vorbereitung für die Schlußpointe. Ich hab´ mal in meinen anderen Texten nachgeschaut und festgestellt, daß die nach dem gleichen Muster gestrickt sind.
Gruß
Stefan
 



 
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