Plötzliches Verständnis der Lebenszusammenhänge

fmnarnia

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DIE ANTWORT AUF ALLE FRAGEN

Erzählung von Frank Müller
Gewidmet denen, die meine Uneigentlichkeit verwirrte






DIE ANTWORT AUF ALLE FRAGEN
von Frank Müller

Eines Abends, nach einem einsam ausgefüllten Tag, ergab es sich von allein, dass die Antwort auf alle Fragen vom Himmel fiel. Nicht einmal allzu langsam segelte sie am Fallschirm eines Wordsworth-Zitats heran:
Our birth is but a sleep and a forgetting:
The Soul that rises with us, our life's Star,
Hath had elsewhere its setting,
And cometh from afar:
Zurecht deutete das „elsewhere“ auf die unausweichliche Begegnung mit dem Fremden, die mit unserer Ankunft auf dieser Welt verbunden war.
Die Mauern stehn
(schreibt Hölderlin)
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen. -
Meine erste bewusste Begegnung mit der fremden Welt, in welche zu gelangen ich nicht erbeten hatte, ereignete sich in einem kalten Mauerneck. In dieses Eck, das sich am Rand unserer Haustür bildete, presste ich mich fest hinein – die letzte Bastion jenes anderen Reichs, bereits verschlossen und vergessen. (Wir sind verurteilt zum Vergessen.) Die Welt da draußen (auf dem Gehsteig, auf der Straße) drang auf mich ein. Direkt vor mir zwei Menschen, die ihre Münder bewegten, um zu mir zu gelangen. (Press dich fester in das Eck!) Sie: alles Andere – ich: grundlos, ziellos ausgesetzt (allein) in das Geschrei des viel zu hellen Tages. So, Mr. Wordsworth, so, verschmähter und missachteter Herr Hölderlin, trat ich die lange Reise an durch eine klirrend kalte, bis heute immer fremde Welt. -
Heute, etwa sechzig Jahre später, sitze ich in meiner Wohnung in Berlin-Reinickendorf vor den geschlossenen Balkontüren, die den Blick auf einen Sternenhimmel freigeben, und halte die Antwort auf viele Fragen in Händen, vielleicht auf alle. -
Es ist still im Haus, nahezu vollkommen still. Wenn jetzt ein Klopfgeräusch in meinen Schutzraum dringt... Am späteren Abend werden in diesem Haus die Fenster oft mit unnötiger Gewalt geschlossen. Holz schlägt auf Holz, als habe jemand völlig die Kontrolle über seine Bewegungskoordination verloren oder als sei es ihm egal, wie geräuschvoll das Fenster geschlossen wird, oder aber als müsse er sich durch das Geräusch seines Lebendigseins versichern. Dieses Fensterschmettern ist wie ein Echo auf die Lärmexplosionen des Tages. Da wird an allen sieben Wochentagen geschurrt, gebohrt, geschraubt, gesägt und gehämmert, als gelte es, sich dadurch am Weltgeschehen zu beteiligen. Man misshandelt geräuschintensiv Mobiliar, um zu sein (ich hämmere – also bin ich). Ich leide darunter, ich leide unter der lauten hämmernden Welt, ich hasse sie (auch wenn sie schweigt). Mir bricht der Schweiß aus (auch jetzt vor sternenklarer Nacht), wenn ich daran denke, wann das nächste Daseinsgeräusch von außen auf mich eindringen wird, auf meinen kleinen Schutzraum, der gar keinen Schutz bietet vor dem fremden Höllenlärm da draußen, dem höllischen Fremden, das ich hasse, wie man nur hassen kann. Da sitze ich mit meiner Antwort auf alle Fragen. -
Ich muss oft an meine Mutter denken, an diese wundervolle Familienfrau, die fast 96 Jahre alt wurde, von denen sie uns, ihren Kindern, Enkeln und Urenkelinnen, einen großen Teil widmete. Ich frage mich manchmal, was sie mir an seelischer Disposition vererbt hat. War sie nicht auf ihre ganz eigene Art auch „weltfremd“, höchst skeptisch gegenüber allem, was nicht im Einklang mit ihren ureignen Gewohnheiten, ihrer Familientradition und ihrer Vorstellung von Familie geschah? Das Leben der „Anderen“ beschrieb sie stets nur in Sprachformen der Distanzierung: Was denn „da geboten“ werde, fragte sie (passivisch) denjenigen, der das heimatliche Nest verließ, um ein paar Tage draußen in der fremden Welt zu verbringen (den Wunsch, eine andere Stadt in einem Kurzurlaub kennen zu lernen, verspürte sie nie). „Da“ war alles Andere, war das ihr Gleichgültige, war das, wovor sie sich im Grunde fürchtete, weil es die Gleichförmigkeit ihrer Existenz bedrohte. Sie hatte kein Verständnis für die Menschen (in Gruppen, in Horden), die enthusiastisch irgendwo „hinrannten“ (nicht gingen oder liefen), um irgendeiner Attraktion (die da „geboten“ wurde) beizuwohnen. Kamen ihr solche Enthusiasten unter, so erschien es ihr, als ob sie „rennen, dass sie die Absätze verlieren“. Die Welt außerhalb der eigenen Fensterscheiben war ihr suspekt, man konnte den Eindruck gewinnen, sie habe mit ihr im Widerstreit gelegen. Einmal, sie wartete im (falsch) geparkten Wagen auf meine Rückkehr von einer Besorgung, kam ich dazu, wie sie einen Passanten, der sie auf unseren Parkfehler aufmerksam machen wollte, mit wilden Grimassen aus dem Schutzraum des Autos heraus ununterbrochen attackierte. -
Man sagt mir nach, ich hätte als Kind besonders stark „gefremdelt“. Damit ist ja nichts anderes gemeint, als dass das Kind vor der Begegnung mit dem Unvertrauten, dem Anderen, zurückschreckt. Dass es sich gleichsam in sich selbst zurückzieht, weil es die Welt, von der es gerufen wird, nicht gerufen hat. Durch meine Mutter ist überliefert, ich wäre ihr „nicht von der Pelle gewichen“. Allenfalls meine ältere Schwester hätte mein Vertrauen gewonnen, aber auch nur dann, wenn sie mit mir in großer Geduld „Friseur spielte“. Zum engeren, vertrauteren Familienkreis zählte auch meine Patentante „Tati“, die Schwester meines Vaters. Sie war ein gutherziges Berliner Original mit einer gewissen Tendenz zum Ordinären, sehr vollbusig, oft in Lila gekleidet. Sie trug das Herz auf der Zunge und mochte mich („Duppsel“) sehr. Sie besuchte meine Mutter nicht selten und wurde meist von uns zur Bushaltestelle begleitet, wenn sie den Heimweg nach Tegel antrat. Eines Tages fiel ihr hier plötzlich ein, ich könne doch dorthin mitkommen und mein Vater mich später mit dem Auto wieder abholen. Meine Sympathie ihr gegenüber hinderte mich daran, meine teuflische Angst vor dieser Unternehmung klar auszudrücken. Ich stimmte kleinlaut zu. Die Busfahrt hinter beschlagenen Fensterscheiben stand ich mit schweißnassen Händen wortkarg durch, einen Zeigefinger hatte ich in der Nähe des riesigen Busens geparkt. Im Tegeler Haus, in dem ich mit allergrößter Gastfreundschaft aufgenommen wurde (werden sollte), bewegte ich mich wie in einer Traumlandschaft. Eine uralte Treppe führte hinab in einen Keller, Kellergeruch, er zog mich an, meine Blicke verloren sich, irgendwann kam mein Vater. Rückkehr. -
Viel, viel später saß ich, auch wie im Traum, unter den Kolleginnen und Kollegen des Gymnasiums, an dem ich meine erste Anstellung bekam, meinen ersten Dienst zu absolvieren hatte. Sie hielten ihre Lehrerkonferenz ab, trugen ihre persönlichen beruflichen Anliegen in die kleine Öffentlichkeit des Lehrerkollegiums, diskutierten, berieten, entschieden. Ich saß bei ihnen unter der schirmenden Glocke der Unwirklichkeit. Ich hörte, hörte sehr genau, aber ergriff nicht das Wort. Ich hatte keine Stimme in jener Welt. Es wäre die Stimme von der anderen Seite gewesen, ein Ruf aus einer sonderbaren Ferne, der gegebenen Situation kaum gemäß, ein Kinderruf im Rat der Ältesten. - Ich blieb mir unveränderlich treu, wachträumend, wie Melisande sich an Arkels Hof. Die Wachträumenden nehmen nicht wirklich teil am raschen Gang der weltlichen Dinge. - Ich war ein guter Zuhörer und Beobachter: Das Erlebte sammelte sich in mir, gewann in meiner geistigen Bearbeitung noch an Deutlichkeit. Und wenn ich dann wieder allein war, endlich, vielleicht auf der Rückfahrt im Auto, dann brach es aus mir heraus: Ich begab mich selbstgewiss aufs Podium der Goldenen Zunge, fing alles Gehörte ein, stellte auf, ordnete, wertete auf und ab, gestand zu, gab zu bedenken und lieferte im Nachgang der längst vergangenen Konferenz die Lösung aller Probleme, gleichsam die Antwort auf alle Fragen. -
Wenn ich zu Hause ankam, war ich irgendwie zufrieden, aber auch erschöpft. Ich hatte mich in Absentia verausgabt, ins Leere gesprochen, mit Scharfsinn, den niemand bemerkte oder jemals bemerken würde. Ich hatte keine Stimme in der Welt.

Es erforderte große Selbstüberwindung, den Schutzraum der Unwirklichkeit zu verlassen und tatsächlich in das Geschehen da draußen in der Welt einzugreifen. Ich erinnere mich an eine besondere Situation, in der ich dies gegen alle Beharrungskräfte von mir verlangte: Mein verehrter Theaterlehrer Rudi Müller hatte auf der Vollversammlung des Berliner Arbeitskreises Darstellendes Spiel eine meiner Produktionen (MARAT/ SADE nach Peter Weiss), die beim Publikum sehr gut angekommen war, in seiner selbstgewissen Art gerügt: Das Spiel meiner Schüler/innen sei spontaner Spieleuphorie zuzuschreiben, es sei in künstlerischem Sinne nicht gestaltet, mithin nicht wiederholbar! „Kunst muss wiederholbar sein!“, tönte Rudi in den Saal hinein. Meine Hände waren schweißnass, mein Herz schlug mir bis zum Halse, weil ich wusste, hier würde ich antworten müssen. Das Spiel sei durchaus gestaltet, wenn auch mit Entscheidungsfreiräumen für die Darsteller, so die Antwort, und dafür, dass meine beiden männlichen Hauptakteure sich in jugendlichem Elan mit ihren Spielaufgaben (der sich kratzende Marat, der sich peitschende Sade – beide sehe ich noch heute vor mir) stark identifizierten, müsse ich mich wohl nicht entschuldigen. Jede Aktivität im Raum erfror. Da hatte jemand doch tatsächlich Rudi Müller widersprochen! Ich bebte innerlich, spürte aber unausgesprochene Zustimmung. Rudi schwieg. Er ließ sogar zu, dass man meine Produktion mitnahm ins Berliner Schiller-Theater, wo die interessierte Öffentlichkeit Gelegenheit bekam, sich Theaterarbeiten von Schülerinnen und Schülern anzuschauen. Von Seiten meiner Kolleginnen und Kollegen des Unterrichtsfaches Darstellendes Spiel bekam ich (einmal abgesehen von den üblichen Neidern, die es auf dieser Welt gibt und stets geben wird), viel Zuspruch für meinen mutig-hilflosen Vorstoß gegen den unumstrittenen Guru des Berliner Schultheaters (dem ich viel verdanke und der mir langfristig mein Engagement für meine Schüler auch nicht verübelte, eher im Gegenteil). Der Zuspruch war dort besonders ausgeprägt, wo man wohl spürte, welches weltferne Seelchen hier sprach und wie groß die Überwindung gewesen sein mochte, um eben dies zu tun. Die seelisch ähnlich Disponierten haben ja gewöhnlich nicht allzu oft Gelegenheit, ihre Übereinstimmung zu konstatieren, geschweige denn zu bekunden. Mein Roman LIEBESDIENSTE endet mit der klischeenahen (aber wahrhaftigen) Feststellung: Die BROKEN-HEARTED PEOPLE erkannten einander an einem geheimen Zeichen auf der Stirn. Und ein mittelalterliches Gegensatzpaar unterscheidet gern „die Fremden und die Kunden“, und in diesem althergebrachten Sinne war es mir stets recht, war es mir ein Bedürfnis, nicht als „kundig“ (nicht als MISTER WORLDLY-WISEMAN), sondern als Fremder angesehen zu werden. Denn, Mr. Wordsworth, „trailing clouds of glory do we come/ From God, who is our home“.-
Wir suchen uns unsere seelische Beschaffenheit nicht aus, oder genauer gesagt: die Art, wie unsere Seele (die „von weither“ kommt) nach ihrer Transplantation in einen zerbrechlichen menschlichen Körper auf die Begegnung mit dessen Lebenswelt reagiert. Ich habe Menschen kennen gelernt, die ihre jenseitige Herkunft komplett auszublenden schienen, die sich ins Weltgetümmel stürzten, um unmittelbar dort Bestätigung, Erfüllung im Durchsetzungswettbewerb mit anderen zu finden. Sie sind, wie die Redensart sagt, sehr von dieser Welt, sind Welt-weise in einem durchaus positiven Sinn. Philosophischer Rückzug oder gar Weltschmerz sind ihre Sache nicht; von ihnen lernen wir Kleinmütigen, wie man zurechtkommt mit der Welt, wie man sich holen kann, was einem nach eigener Einschätzung zusteht. Sie kennen die Winkel ihrer Wirklichkeit, die Winkelzüge, die Erfolg verheißen im Wettstreit um Ruhm und Rang. Ihr Lohn ist Sich-in-der-Welt-zu-Hause-Fühlen (beschienen von der Sonne des Triumphs), ihre Bestrafung Neid und Rachsucht. -
Manchmal beneide ich diesen Menschenschlag um seine Eigentlichkeit, um seine unverbogene Fähigkeit, die Welt sich anzueignen, zu nehmen, wie sie ist, und sich in diesem Labyrinth der Begehrlichkeiten selbstgewiss zu bewegen. Wie halten wir es heute mit den drei mittelalterlichen Werten: Gottes Huld? Ehre? Materieller Besitz? -
Ein alter Freund präsentierte bei unserem Wiedersehen nach langer Zeit als Erstes ausgiebig sein neuerworbenes Auto: das Armaturenbrett, die Beweglichkeit der Sitze, das Geräusch vom Motor („Ich finde, er klingt richtig klasse!“), den Kofferraum – eine Welt in der Welt. - Ein paar Tage später mussten wir uns in einer sehr wichtigen privaten Angelegenheit telefonisch verständigen. Die Verständigung misslang: Der Freund führte das Gespräch aus einer Autowaschanlage. -
Was kostet den Menschen die erfolgreiche Verwurzelung in der (weithin entwurzelten) Welt? Werden Wurzeln gebildet oder durch sozialen Klebstoff ersetzt? Und was kostet uns Kleinmütige der Rückzug, das Schweigen? -

Ich sitze vor den nachtschwarzen Glastüren zum Balkon und denke über diese Dinge nach. Es gibt einen Berliner Allerweltswortwechsel:
„Wie jeht's?“
„Muss ja. - Und selbst?“
Im Zentrum das Muss-Ja. Muss ja. Wir müssen ja hinaus. Morgen früh im Hellen müssen wir hinaus.
Wollen nicht, müssen.
Wollen nicht müssen. -
Es ist ja nicht so, dass wir Kleinmütigen ein ganzes Leben in der Lauerstellung verbringen. Zwar ruft unsere Veranlagung sehr oft das Bedürfnis nach Rückzug, nach Beobachtung hervor, aber letztlich (und das versteht sich von selbst) haben wir uns am allgemeinen Leben zu beteiligen. Wir müssen die Türen nach draußen öffnen (noch ist es Nacht) und dann … Ja, was dann? -
Dann raffen wir unsere kümmerliche Entschlusskraft zusammen, fassen uns ein Herz und begeben uns ins Leben. Eine besondere Form von Tapferkeit: der Fallschirmsprung ins Leben im Geist des Dennoch. Uneigentliches Ringen um Eigentlichkeit. Muss ja. Vielleicht: Fake-Eigentlichkeit.
Was nun beginnt: ein Schattenspiel, das langsam Farbe gewinnt, getreu dem schönen Motto von C.S. Lewis: „Man tends to become what he pretends to be.“ Wir Kleinmütigen sind zunächst die großen Heuchler, wir tun nur so, als ob, aber wir leben. Oder: Wir tun so, als ob wir leben. Wie nehmen uns die anderen (die „von der Welt“ sind) wahr? Als echte Konkurrenz? Oder wittern sie mit ihrem welterprobten Sinn den Angstgeruch der Fallschirmspringer und ignorieren uns in unserem Bemühen? -
Beim flüchtigen Blick auf das Menschengetümmel scheint es keine Veranlassung zu einer Unterscheidung nach dem hier dargestellten Muster zu geben. Die Handlungen im Modus der Fake-Eigentlichkeit ähneln allzu sehr denen ihrer eigentlichen Geschwister. Das Auto des Fahrers, der gezwungenermaßen („muss ja“) in die Waschanlage fährt (ohne dabei zu telefonieren), wird ebenso sauber wie das des überzeugten Car washers. Die Handlung, die aus einer gefaketen Motivationslage heraus vollzogen wird, zeitigt in der Wirklichkeit konkrete Wirkungen. So wird das Kind in seiner Bedrängnis (direkt vor mir zwei Menschen, die ihre Münder bewegten) schließlich auf die unwillkommene Frage antworten und damit eine ganz bestimmte Reaktion des Gegenüber auslösen. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob es sich bei dem Gegenüber um authentische Handlungsträger oder ebenfalls nur um Selbstüberwinder handelt. Handlungen im Modus der Eigentlichkeit sowie jene im uneigentlichen Modus erzeugen über kurz oder lang im Menschengetümmel eine unentwirrbare Gemengelage. Nichts könnte trügerischer sein als die Annahme, wir hätten es mit einer durchgängig authentisch motivierten Handlungswirklichkeit zu tun. Wir haben gesehen, dass das nicht der Fall ist. Aber wir müssen auch sehen, dass die Wirklichkeit, in der wir leben, durch alle konkret vollzogenen Handlungen (wie auch immer motiviert) geprägt wird: durch Zufälle, Irrtümer, Verlegenheitslösungen, Gewohnheitsverrichtungen, Notlügen, fantastische Lebenserzählungen, Trotzhandlungen, euphorische Anwandlungen, Übersteigerungen wie durch die eisern umgesetzte Gewissensentscheidung – und all dies mit mehr oder weniger authentischer Welthaftigkeit. -
Ergeben sich daraus Folgerungen für die Beurteilung individuellen Verhaltens? Sofern wir den bereits zitierten Satz von C.S. Lewis („Man tends to become what he pretends to be.“) als beruhigende Gewissheit heranziehen, müssten wir uns keinerlei Sorgen machen. Die Fake-Akteure probten für eine Weile an ihrem Leben, bevor sie, nach und nach an Eigentlichkeit gewinnend, zum Ziel gelangten. Was aber, wenn es dieses Ziel nicht gibt? Wenn unser Leben nichts weiter wäre als Spiel auf Spiel, das wir beliebig ändern könnten, wechseln könnten nach Lust und Laune des Moments?Dann müssten wir eingestehen: Wir sind eigentlich nicht das, was wir vorspielen, unsere Rolle ist nur Rolle, wir könnten sie jederzeit wechseln. Man hat uns in die Welt gestoßen, wir wollten dort nicht hin, wir gleiten hinab an unserem Schirm, wir müssen eingreifen ins Weltgeschehen, irgendwie, ja also handeln wir eben irgendwie, egal wie – als ewige Betrüger an der Welt. -
Ich sitze am dunklen Fenster, denke nach über all dies, muss meinen Gedankenflug bremsen. Bin ich dabei, Erkenntnis zu gewinnen, oder bin ich nur dabei, Rechtfertigungen für Versäumtes zu suchen? Wäre es zu einfach? Meine uneigentlichen Handlungen (nicht von dieser Welt)? Fehlen der eigentlichen Verwurzelung im Weltgeschehen (in dem man freilich auch verwurzelt trefflich täuschen kann)? Habe ich Betrug an der Welt verübt, ohne in der Welt zu betrügen? Oder führt jeder im Fake gelebte Betrug an der Welt unweigerlich zu mannigfachem Betrug in der Welt (Betrug an allen, mit denen ich lebte, die auf mich setzten unter falscher Voraussetzung)? Und waren Letztere selbst eigentlich oder auch nur Spieler? -
Derselbe Platz. Eine andere Welt. Der weiße Beistelltisch vor meiner Nase ist überfüllt mit Papier: Nachrichten aus einer anderen Zeit. Ich greife ins Leere. Ich bekomme die einzelnen Blätter nicht zu fassen. Wenn sich Daumen und Zeigefinger ihnen nähern, weichen sie zurück wie von einer unsichtbaren Flamme verzehrt. Die ehemals klar definierten Ränder haben ihre Logik verloren. Materie flieht vor meinem Körper. Zerfällt. - Der Boden zu meinen Füßen ist übersät mit unzähligen zarten Plastiktüten. Zarten hellroten Plastiktüten. Ich versuche sie irgendwie zu bewegen. Sie rühren sich ein wenig, nur um sich sogleich wieder in die alte Gestalt zurückzubegeben. Sie beherrschen den Raum. Wenn ich mich zur Erde neige, um sie zu ergreifen, wachsen sie dort, wo ich sie entfernte, in raschem Tempo nach wie geile Urwaldranken. Sie werden immer mehr, aber sind nicht zu packen. Sie sind zarte hellrote Plastiktüten, die einem irdischen Zweck dienten (in dieser Zahl?), sind gleichzeitig aber Wesen aus der Geisterwelt. - Ich begebe mich in Richtung des Badezimmers, meine Füße im hellroten Plastikmeer. Ich sehe, dass die Klinken und Griffe aller Türen in der Wohnung dick mit weißer Plastikfolie umwickelt sind. Dennoch gelingt es mir, die Tür zum Hausflur kurz zu öffnen: Er ist komplett ausgekleidet mit weißer Plastikfolie, alle Wände, Decken, Böden. Ich schließe die Tür. Im Bad sind Toilettendeckel und -sitz zum Fürchten verwandelt: das weiße Plastikmaterial erscheint gewellt und fein geädert, ein wenig, als blicke man in die molekulare Struktur. Die Toilettenschüssel überfüllt mit zartem Papier. Ich gerate in eine Art Reinigungswahn. Benutze die Toilettenbürste dafür. Ich habe einen Eimer (weiß nicht woher), in den ich das mit der Toilettenbürste geangelte zarte Papier hineinwerfe. In der Toilettenschüssel wird das Papier immer mehr, quillt auf: Je mehr davon ich mit der Bürste abnehme, desto mehr wächst nach. Es ist das Kindermärchen vom Brei, der aus dem Kochtopf quillt, es ist ein stundenlanger, hoffnungsloser Kampf. Irgendwann verlässt mich die Kraft (ich kann meinen Arm nicht mehr bewegen) und ich sinke neben der Toilettenschüssel mit dem aufquellenden zarten Papier zu Boden.-
Ich befinde mich jetzt offenbar im Flur. Die Klinken aller
Türen, die von hier aus in die anderen Räume führen, sind immer noch mit dicker, weißer Plastikfolie umwickelt. Der Flur ist vollgestellt mit aufgeklappten Umzugskartons, die zunächst noch nicht dort waren. Es sind die Kartons, die ich benutzte, als ich in diese Wohnung einzog, aber schon längst zurückgegeben habe. Ich kann nicht genau feststellen, ob die Kartons leer oder gefüllt sind. Ich muss ihnen nicht ausweichen. Ich kann durch all diese Kartons einfach hindurchgehen. Durch den gesamten Flur, durch alle Kartons bis in mein Zimmer, an dessen fernem Ende noch mein Bett steht. Es steht, ein weiches Refugium, das auffängt und trägt, in einem See von zartem roten Papier. Ich sinke ins Bett, weiß noch, dass neben mir die Seitenwand des Schreibtischs sein müsste, die ich vergeblich zu ertasten versuche. Ich taste höher, kann den Übergang über die Schreibtischkante zur Schreibtischplatte nicht finden. Die dritte Dimension ist zur zweiten geworden und die zweite hat ihre Festigkeit eingebüßt, ist durchlässig. Alles, was einmal feste Materie war, ist durchlässig geworden – eine Geisterwelt. -
Ein kleines Stück hinter der Lampe auf dem Schreibtisch müsste sich eine Tablettenfolie befinden. Ich winde mich aus dem Bett und beuge mich über den Schreibtisch. Ich fahre vorsichtig mit der rechten Hand über die Platte, um nicht allzu viel auf den Erdboden zu befördern. An der Stelle, wo ich die Folie vermutete, nichtssagende, ungreifbare Papierreste. Auch als ich es wiederholt versuche. Ich möchte gerne eine Tablette finden, die mich von meinem Wahn befreit. Im Regal auf der anderen Seite des Zimmers bewahre ich meine Tablettenschachteln auf. Sie sind dort auf einem umgedrehten Kistchendeckel geordnet. Ich weiß genau, an welcher Stelle der kleinen Sammlung sich welche Schachtel befindet. Ich ergreife den ganzen Kistchendeckel samt Inhalt (nichts fällt zu Boden) und platziere ihn vorsichtig auf den Schreibtisch. Ich schaue auf die vertraute Anordnung der Tablettenschachteln vor mir, muss aber feststellen, dass alle Packungen die Embleme, Namen und Anwendungszwecke mir fremder Präparate tragen. Ich kenne keine der Tablettensorten, leide an keiner der genannten Krankheiten, ich habe keine der von mir angeordneten Tablettenschachteln jemals gesehen. Jemand, der meine Ordnung genau kannte, muss sie minutiös ausgetauscht haben. Oder sie mit künstlerischer Hand neu gestaltet haben. Oder verzaubert. Vorsichtig (wohl in ängstlicher Ahnung, dass hier ein Zauber waltet) hebe ich den Kistchendeckel wieder an und stelle ihn an seinen alten Platz im Regal zurück. Vor dem Schreibtisch wiederhole ich die Suche nach der einen Tablettenfolie, von der ich ganz genau weiß, dass sie sich dort befand. Sieben Tabletten müssten drin gewesen sein. Ich wische. Staub. Nichts. -
Die ganze Wohnung wird mir zum Rätsel. Sie ist überschwemmt mit zartroten Plastiktüten, alle Türklinken umwickelt mit dicker weißer Folie. Oder ist die Folie durchsichtig und nur in der Fülle der Umwicklung weiß? Ich befinde mich in einer Welt, vertraut und fremd zugleich. Vertraut allerdings wie aus einem fernen Traum (einst träumte ich diese Möbel) und fremd in fürchterlicher Aktualität (Plastik, Papier und Pappe in eigensinnigem Aufbegehren). Ich setze mich provisorisch vor den (geträumten?) Fernseher und hantiere an der Fernbedienung herum. Ich kann ihre einstige Logik nicht rekonstruieren. Auf dem Bildschirm des Fernsehers (ein wenig gedimmt) schon den ganzen Tag ein Standbild: Eine Gruppe schauderhafter Horrorwesen in eindringlicher Choreografie aufgestellt. Der Farbschimmer ihrer altertümlichen Rüstungen, geschuppten Panzer, Waffen in mattem schwärzlichen Oliv. Ich werde das Standbild nicht los. Die Fernbedienung vermag das nicht. Mitunter erscheinen polnische Schriftzüge. Wenn diese untergehen, steigt das Standbild wieder auf. Es ist nicht zu besiegen. Die schauderhaften olivfarbenen Krieger sind allgegenwärtig. Ich liege auf meinem Bettrefugium und wenn ich die Augen öffne, hat sich das Standbild vervielfältigt. Überall im Zimmer haben sich kleine, mittelgroße und auch riesige Bildschirme gebildet (Horrorversion einer Videoperformance), von denen sie mich anstarren: schauderhaft, gleichmütig, ewig. Sie sind nicht zu besiegen. Sie kommen auch, wenn ich die Augen schließe. Die Horrorbildschirme mit den olivfarbenen Kriegern durchdringen jede Materie. Mühelos durchdringen sie die Augenlider. -
Nur wenn ich die Augen aufreiße, mich aus dem Bett neige und auf den Boden des Zimmers blicke, verschwindet das schaurige Bild für eine Weile. Aber hier, auf dem Boden, hat nun das Ungeziefer die Herrschaft übernommen. Meine Einschätzung der Invasion schwankt sehr stark. Wenn ich mich auf die unmittelbare Umgebung konzentriere (die Bettkante und ein Bein vom Schreibtisch), sehe ich recht geordnete Züge von Ameisenarmeen (sind es eigentlich Ameisen oder sind es nicht doch Obstfliegen?) aufmarschieren. Ein Hauptstrang führt zum Tischbein und dort hinauf in Richtung oberer Schreibtisch, ein anderer entlang der Bettkante (Ursprung und Ziel unbekannt). Ich bemühe mich mithilfe abgelegter Kleidungsstücke die Angriffe abzuwehren. Aussichtsloses Unterfangen. Zumal: Wenn ich den Blick hebe, sehe ich die Nachschubheere anrücken. Der Boden des gesamten Zimmers scheint geschwärzt von den krabbelnden Tierchen. Das wird die letzte Schlacht!
Ich stakse angeekelt über das Schlachtfeld in die Küche, suche hektisch nach einer Abwehrwaffe. Ich finde unter den Putzmitteln eine Art Universalspray gegen alles (Genaueres kann ich nicht mehr feststellen), das sich auch mit Geisterhänden gut sprühen lässt. Kehre zurück an den Ort des Schreckens und schieße aus der Spraydose auf die feindlichen Armeen. Ich sprühe und sprühe in der dem Krieg eigenen fanatischen Übertreibung. Ich schieße und schieße, sprühe und sprühe, bis mir der Geruch des Sprühmittels selbst den Atem nimmt. Ich sinke zurück aufs Bett, ziehe mich bald wieder hoch, um nachzusehen, ob es Überlebende gab. Es gab sie. Ich greife zur Sprühdose und schieße gezielt auf Versprengte, auf dem Rückzug in Ecken, Nischen.
Ich halte es in meinem Zimmer nach der Schlacht nicht mehr aus, überquere das Schlachtfeld mit scheuem Blick, schlage mit einem im Zimmer abgelegten Pullover sicherheitshalber noch ein paarmal auf schwarze (vielleicht lebendige, vielleicht tote) Würmchen ein und erreiche schließlich einen Sitzplatz im Wohnzimmer. Mit Entsetzen stelle ich fest (vor den starren Blicken der Horrorkrieger auf dem erloschenen Bildschirm des Fernsehers), dass mein Zimmer nicht das einzige Ziel des Ungezieferangriffs gewesen ist: Sie sind überall, auch hier auf ihren wirren Wegen durch das große Zimmer. Es muss eine andere Lösung gefunden werden. Ich kann nicht die ganze Wohnung mit dem Kampfspray vernebeln. Mir fällt der Staubsauger ein. Ein Gottesgeschenk! Einmal mit dem Staubsauger durch das verseuchte Leben – und alles wäre wieder gut! Nur stellt sich das schwieriger dar als angenommen. Ich bekomme das Gerät nur mit großer Mühe aus der Putzecke heraus, und als ich mich schließlich darüberbeuge, scheint der Sauger sein Gesicht verloren zu haben. Die sonst so sprechende Bedienungsfront ist stumm geworden. Ein Gesicht ohne Eigenschaften. Ich erinnere mich an das lange Staubsaugerkabel, aber nicht mehr daran, wie es aus seiner Tiefe zu ziehen ist. Ich schleppe den Staubsauger vor eine Steckdose und versuche ein winziges Stück Kabel mit dem Stecker dort zu verankern. Es gelingt mir nicht, den Stecker an die richtige Stelle der Steckdose zu führen, sie scheint verschlossen. Der Stecker fällt zu Boden. Nichts hat einen Sinn. Ich liege bäuchlings im Flur vor einer verschlossenen Steckdose neben einem stummen Staubsauger, die Zimmer überflutet von schwarzem Kleingetier.-
Wie spät ist es? Es ist hier im Flur zu dunkel, um die Armbanduhr zu erkennen. Die Lichtschalter sind nicht leicht zu erreichen. Sie sind kompliziert. Sie kippen in entgegengesetzte Richtungen. Licht für das Bad? Licht für den Flur? Ich probiere viele, viele Male. Die Wiederholungen geben keine Erkenntnis. Schließlich brennt Licht. Ich trage keine Armbanduhr. Mir fällt ein, dass ich sie ablegte nach dem gescheiterten Versuch, (ohne Anlass) Datum und Wochentag einzustellen. Winzige Zahlen und Buchstaben, ein Zahnrad. Sie wird irgendwo funktionslos liegen, irgendwo auf einem Tisch, wo ich sie nicht mehr erreiche. Funktionslos wie der Funkwecker auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer. Die Zeitanzeige ist blind geworden. Ich öffne die Batteriekammer mit Gewalt. Schlage die alte Batterie aus dem Gehäuse. Eine neue rollt mir (von Zauberhand in Bewegung gesetzt) entgegen von der Stelle, wo eigentlich die Tablettenfolie mit den sieben Tabletten sein müsste (ich taste erneut). Presse die Batterie blindlings in die Kammer. Sie sitzt fest. Auch ohne den Verschlussmechanismus. Auf der Zeitanzeige tut sich etwas: Zahlen laufen über das Display, schnell, als würden hier alle Uhrzeiten der Welt durchgegeben. Ich taumle schweißgebadet ins Wohnzimmer. Dort weiß ich eine rote Digitaluhr auf dem zusätzlichen Empfangsgerät meines Fernsehers. Ich gehe auf die Knie. Ich stütze mich auf die Ellenbogen. Ich halte mein Gesicht unmittelbar vor die vermeintliche Digitalanzeige. Nichts. Unspezifisches schwarzes Plastikmaterial, schwer zu ertasten. Keine Uhrzeit. Alle Uhren stehen still. Vom Bildschirm des Fernsehers her starren mich die Horrorgestalten an.-
Nichts ist, wie es war. Verwandelte Welt. Die Dinge, die ich wieder erkennen möchte, zeigen ihr blindes Antlitz. Ich kann sie nicht dazu bewegen, mich freundlich mit dem vertrauten Gesicht anzuschauen. Selbst mein Radiorekorder hier neben mir im Wohnzimmer versagt mir den Dienst. Die äußere Hülle ist noch anwesend, aber sämtliche Funktionstasten haben sich verändert, sind ausgetauscht wie die Tablettenschachteln auf meinem Tablettendeckel. Sie taugen nicht mehr zur Orientierung, geben keine Gewissheiten mehr. Mein Leben verliert sich im Nichtgesehenen, hilflos ausgeliefert dem Unvorhergesehenen. Aber meine Augen sehen, sehen, was ich nicht zu sehen suche, in Hülle und Fülle: Vom Balkon draußen (die Glastüren zum Wohnzimmer sind geschlossen) salutiert eine schräge Parade. Sie sind nicht schrecklich wie die Horrorkrieger, aber ich erschrak: Woher kommt ihr? Was wollt ihr? Lasst mich doch in Ruhe! Das Herz schlägt heftig. Sie schauen unbeeindruckt, unheimlich, fast freundlich, irgendwie vertraut – paradieren vorbei, aus dem Nichts gekommen, verschwindend im Nichts. Das Herz schlägt heftig. Wann kommen sie wieder? Ich flüchte hinüber in mein Zimmer, durch die Plastikflut, setz mich aufs Bett, hebe den Blick. Vor meinem Fenster, hoch über der Erde, ungestützt, paradieren sie vorbei. Langsam, ganz langsam, Stillstand nahezu. Einer von ihnen lächelt mir fast zu. Ein jenseitiges Lächeln: Ich könnte dein Freund sein. Es überläuft mich eiskalt. Ich schließe kurz die Augen, reibe sie, öffne sie wieder. Ich könnte dein Freund sein. Ich wende den Blick ab vom Fenster. Der Drehstuhl im Zimmer schwingt herum. Fremde Gestalt – die Summe eines Lebens.-
Ich muss diese Wohnung verlassen. Muss irgendwo um Hilfe bitten. Springe auf. Versuche die gerade gesehenen Gestalten zu ignorieren. Ich laufe mitten durch alle Pappkartons hindurch, öffne die Tür zum Hausflur (ich will sie geöffnet lassen für die Rückkehr). Ein Schritt aus der Tür und ich sehe auf dem Treppenabsatz zwischen erstem und zweitem Stockwerk eine hingekauerte Frau, weiter Mantel, Kapuze, Bettlerin vielleicht, sie blickt zu mir hinauf, wortlos, durchdringend. Es durchfährt mich grauenhafte Ungewissheit. Verschwinden Sie hier! Ich drehe ab, klingele an den beiden Türen der Nachbarn. Hilfe! Die hintere Tür öffnet sich, heraus tritt eine mir völlig unbekannte dunkelhäutige Frau, sie bleibt in einem dichten tiefgrünen Laubwerk stehen, schaut zu mir in völligem Unverständnis. Ich hangele mich entlang des Treppengeländers nach unten. Die Bettlerin scheint fort zu sein. Im ersten Stock wieder vor Türen. Auf den Türschildern stehen fremde Namen. Ich klingele dennoch. Wieder eine dunkelhäutige Frau im Laubwerk, nun in Begleitung eines dunkelhäutigen Mannes. Sie verstehen meine Hilferufe nicht. Ich gelange ganz nach unten, sehe, dass auf dem Klingelschild der Haustür nur fremde Namen stehen. Auch meiner fehlt. Ich rufe nun auf Bürgersteig und Straße hinaus um Hilfe. Mir scheinen Passanten unterwegs zu sein, da müsste mir doch jemand helfen können. Niemand kommt mir bekannt vor und ich scheine ihnen fremd zu sein. Sehen sie mich überhaupt? Ich schreie. Jemand tippt sich abweisend an die Stirn. Eiskalter Schauder. Die Treppe wieder hoch. Mühsam. Die Wohnungstür noch offen. In meinem Flur kauert die Bettlerin. Als ich zuschlagen will, entschwindet sie. -
Ich bin wieder in der Wohnung, habe die Tür zugemacht, die Bettlerin im weiten Mantel hat sich im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst. So also ist das. Es klingelt. Ich strebe Sachlichkeit an, schüttle mich kurz, öffne bereitwillig die Tür. Halblinks vor mir ein Bote, eine Art Bote. Er ist dünn und sehr groß, gut über zwei Meter, trägt den Hut, mit dem man Goethe auf dem berühmten Gemälde in der Campagna sieht. Er hält in der Hand einen Stapel mit Zeitschriften oder Broschüren, von denen er mir eine reicht. Bei näherem Hinsehen wirkt er furchterregend, wenn auch keine Einzelheit an ihm furchterregend ist. Er ist ganz einfach nicht von dieser Welt. Die einzelne Broschüre zerfällt in meinen Händen zu Staub. Er deutet auf den gesamten Stapel, ich könne mich bedienen. Als ich dies tue, nach dem Stapel greife, löst er sich, von oben nach unten, Broschüre für Broschüre, in Luft auf – und mit ihm die Erscheinung des Giganten mit dem Tischbein-Hut. Ich werde fast wahnsinnig, muss durch die Wohnung fliehen, durch Flur und Wohnzimmer bis zur Balkontür, die ich aufreiße, um echte frische Luft zu atmen. Würde ich jetzt springen (die Luft ist rein und klar), wäre es vielleicht nur ein Satz in das Fangnetz der Ewigkeit, ohne Aufprall, ohne Wunden. Aber ich springe nicht. Der uralte Sicherheitsriegel hält. -
Vorsichtig taste ich mich an den Balkonkästen entlang, um einen Blick hinter den Mauervorsprung auf die andere Balkonseite zu werfen. Ich sehe die Frauen dort, bevor sie mich sehen. Es ist eine gemischte Gruppe. Sie sind mir weitgehend unbekannt, nur die eine bekannte Frau spreche ich an. Eine Sirene in der Ferne. Ich muss um Hilfe gebeten haben. -
Wilde Autofahrt durch die Reinickendorfer Vorstadt. Ich bin im Inneren eines kargen Transportfahrzeugs, allein, gesichert mit einem Gurt, Blickrichtung zum rückwärtigen Minifenster. Fahrer und Beifahrer sind zu ahnen, nicht zu sehen. Sie wenden. Eine Kehre und ich weiß nicht mehr genau, wo wir sind oder wohin die Fahrt geht. Vor den Türen der Häuser, die mir bekannt vorkommen, als hätte ich sie einst in einem Film gesehen, haben sich Menschengruppen versammelt. Sie wirken orientalisch, schauen unserem Gefährt nach. Der Fahrer nimmt alle Kurven sportlich. Er macht Strecke. Ich habe die Orientierung völlig verloren, obgleich ich in meinem Bezirk jede Ecke kennen müsste. Aber dieser Weg ist mir unbekannt. Die Fahrt zieht sich. Durchs kleine Fenster sind manchmal Reklametafeln zu sehen, die ich keinem mir bekannten Ort zuordnen kann. Die Straßen werden enger. Baustellen scheinen die Streckenführung kompliziert zu machen. Plötzlich kommt unser Transporter ruckartig zum Stehen. Ich kann hören, wie Fahrer und Beifahrer mit Dritten sprechen, offenbar wickeln sie irgendein privates Geschäft ab. Der Wagen zuckelt weiter, eine scharfe Biegung, dann geht es bergauf. Heftige Bremsung. Alle Türen fliegen auf. Von irgendwoher höre ich: DA SIND WIR. Bin jetzt allein im Wagen. Da springt durch die offene hintere Tür eine schwarz gekleidete, maskierte Gestalt ins Wageninnere, eine Maschinenpistole im Anschlag. Der schwarze Mann richtet die Waffe auf mich und gibt klar hörbare Befehle. Als Fahrer und Beifahrer zurückkommen, ist er nicht mehr da. Man stützt mich. Ich verlasse den Wagen durch die hintere Tür und verschwinde hinter der automatischen Eingangsschleuse im Irgendwo. -
„Wir haben hier Lambarene live“, höre ich eine Stimme hinter mir sagen. Eine Schwester wird sich vielleicht am Telefon für mangelnde Freizeit rechtfertigt haben. Ich befinde mich auf einer metallisch klappernden, zu kurzen Liege, die man in einem engen Gang mit der Längsseite an die Wand gerückt hat. Im Raum ein verhalltes Gewirr von Stimmen, die ich nicht auf mich beziehen kann. Sie treffen in letzter Instanz auf einen Wahrnehmungsfilter, der, imaginär, um mich herum installiert ist. Ab und an schwebt eine Schwester vor meinen Füßen nach rechts durch eine Türöffnung. Wenn sie zurückkehrt, versuche ich sie anzusprechen, bin mir aber nicht sicher, ob mein Mund wirklich eine Frage in Worten formt. Die Schwester schwebt schweigend vorbei, schaut mich dabei merkwürdig an mit einem Gesicht, als wäre es übermalt. Einzelne Partien zeigen leicht unnatürliche Farbgebung und scheinen ein wenig angeschwollen zu sein. - Ich werde mit meiner Metallliege bewegt und in eine Art Mitteltrakt desselben Raumes gerollt. Von meiner neuen Position aus blicke ich in Richtung der Wand, die derjenigen gegenüberliegt, an der ich zuvor stand. Entlang der Wand sitzen auf ihren Liegen ausschließlich alte Männer von abstoßender Hässlichkeit, die alle komplett nackt sind. Sie schauen in meine Richtung mit wissendem Gesichtsausdruck. Es gibt keine Blickrichtung, in der nicht verwelkte männliche Nacktheit zu sehen ist. Ein Mensch im weißen Kittel kommt von der Eingangsschleuse her an meiner Liege vorbei. Er scheint etwas zu äußern, äußert es wohl auch zu mir, aber es bleibt stummes Marionettentheater. Ein stummes Hospital. Die SOUNDS OF SILENCE. -
Auf der Kopfseite des Raumes, der Eingangsschleuse weit gegenüber, öffnet sich irgendwann in der Nacht eine Schwingtür, durch welche, scheppernd, meine Metallliege hinausgeschoben wird. Ich war wohl etwas eingeschlafen und erlebe die eilige Passage durch das nächtliche Hospital, das Rasseln der Liege in den stillen, neonbeleuchteten Gängen, den rumpelnden Abstieg im Fahrstuhl ausgeliefert in halbwachem Zustand. Ankunft in einem heutigen Hades, Einlasskontrolle durch die sachliche Türhüterin. Erschöpfung. Vielleicht ein wenig Schlaf.-
Als ich die Augen öffne, orientiere ich mich nur langsam. Das Zimmer ist von einem marmorierten, seltsam geäderten Weiß. Von der Decke sinken vereinzelte Fäden herab. Sie scheinen von schnakenähnlichen Flügeltierchen herabgezogen zu werden, die ich mit der Hand wegzuschlagen versuche. Es werden immer mehr. Ich habe das Gefühl, dass sie Nester in meinem Bett bauten. An der Zimmerdecke nehme ich nach und nach Strukturen wahr. Ich möchte sie gern als gewollte Muster im Putz definieren, aber sie erweisen sich (ich verlasse das Bett, um von Nahem zu schauen) als elastische Gebilde. Sie hängen wie Staubansammlungen, wie Spinnenfäden in leichter Wölbung an der Decke; ab und an befördert eines der Flügeltierchen einige Fäden in meine Richtung, manchmal nur an einer Stelle des Raumes, manchmal an mehreren gleichzeitig, sodass ein Spinnenfädenregen entsteht. An der Zimmerdecke haben sich nun überall flächendeckende Gespinste herauskristallisiert, aus denen die unerbetenen Fallschirme auf mich herabsegeln. Ich kann mich der Ungezieferinvasion nicht erwehren, stürze angeekelt aus dem Zimmer und melde den Umstand bei der Türhüterin. -
Ich liege besänftigt in meinem Bett, der Angriff der Spinnen und Schnaken ist fürs Erste zurückgeschlagen. Ich bemühe mich das zuvor Gesehene in die Optik des Alltags zurückzuübersetzen. Da, wo die schönen, federleichten Gespinste waren, sind nur noch leichte Verfärbungen im Deckenputz. „Und Spinnen“, hatte die sachliche Türhüterin gesagt, „gibt es nicht in Ihrem Zimmer.“ Aber die ganze Zeit über, nach meiner Rückkehr, sind mir die weißen Wände des Raumes seltsam vorgekommen. Sie sind nicht wirklich weiß. Sie tragen Schriftzeichen. Ich muss immer wieder hinsehen. Vielleicht täusche ich mich. Aber ich täusche mich nicht. Sie tragen violette Schriftzeichen. Eine blasse violette Schrift. Blass, aber deutlich zu lesen. Es sind kurze, einfache Mitteilungen. Namen, aus dem eigenen Leben vertraut. Einfache Wahrheiten in knapper Form, in völlig klarem Ausdruck. Man liest sie wie gesammelte Selbstverständlichkeiten. All das hat sich zugetragen. All das wird noch sein. Eine Art unprätentiöse Weltchronik. Man wundert sich, wie so viel Wahrheit in so einfacher, klarer Sprache enthalten sein kann. Man wundert sich, wie unparteiisch und freundlich die Wahrheit ausgedrückt werden kann. In unkomplizierter Sachlichkeit. Fast heiterer Gelassenheit. In blassen violetten Lettern an einer weißen Krankenhauswand. Die sachliche Türhüterin erkennt die Schrift nicht, als ich sie danach frage. Macht nichts, ich habe sie gesehen, gelesen und begriffen. Und eines Tages werde ich sie ihr erklären. -



Derselbe Platz, vertraute Welt. Die Nacht der Zitate, die an kleinen Fallschirmen herabgesegelt kommen.
THE WORDS OF THE PROPHETS
ARE WRITTEN ON THE SUBWAY WALLS,
TENEMENT HALLS... (Paul Simon)
Was geschieht mit uns Fake-Akteuren? Sind wir das, was wir sind, weil wir die Schrift an der Wand gelesen haben – oder können wir die Schrift an der Wand lesen, weil wir Fake-Akteure sind? Wie auch immer – wir haben die Nachrichten gelesen, die in keinem Nachrichtensender verbreitet werden. Wir wurden von ihrem zarten, wahren Ton berührt, sodass uns die verbreiteten Nachrichten in ihrer kaum verhohlenen Streitsüchtigkeit widerlich vorkommen. Widerlich wie Gezänk an einer Straßenecke kurz vor dem Umschlagen in Brutalität.
Was ist los mit uns Fake-Akteuren? Wir haben die Brüchigkeit der Weltoberflächen wahrgenommen und haben durch einen Spalt im falschen Putz den Weltinnenraum sehen dürfen. Der Spalt hat sich wieder geschlossen, der Eindruck ist geblieben. Wir spielen wieder mit auf dieser Welt, aber wir sind Schattenspieler. Wir spielen eingedenk der Brüche in den Dingen, die die vermeintlich Eigentlichen für unverbrüchliche Wahrheiten halten. Einmal eingetaucht ins Schattenreich und wir wissen: Jede aufdringliche Wahrheit steht auf einer zart violett beschrifteten Wand. Und jene zarten Texte tauchen uns die Wahrheiten in anderes Licht. Wir sind Schattenspieler, Fake-Akteure, und (wie ich sagte) nicht eigentlich von dieser Welt. Wir lassen uns nicht wirklich ein auf diese Welt, wir wissen, sie ist von trügerischer Gestalt. Vielleicht wären wir am Ende in unserer Zurückhaltung eigentlicher als die Eigentlichen. -
The Child is father of the Man;
And I could wish my days to be
Bound each to each by natural piety.
(Wordsworth, INTIMATIONS OF IMMORTALITY, Motto)
Eine besondere Gruppe von nicht-eigentlichen Teilnehmern am Geschehen des Lebens (die ähnlich uns Fake-Akteuren vielleicht eigentlicher als die eigentlichen sind), wären die Kinder. Für sie ist es selbstverständlich, dass die Welt voller Geheimnisse ist. Sie leben nicht in der „erwachsenen“ Illusion, die Welt in ihrer Gesamtheit verstehen und beeinflussen zu können. Sie leben in einer wie selbstverständlich akzeptierten Welt-Fremdheit. Wie auch wir Fake-Akteure. Wir staunen mit ihnen, sie staunen wie wir über die rätselhafte Welt. Immer wird sie voller Geheimnisse bleiben, wird nicht entzaubert werden von eifriger, innerweltlicher Anmaßung. Die Geheimnisse, die wir aufdecken, möchten wir uns zurufen, künden von Anmaßungen, von weltlichen Schurkereien. Das Geheimnisvolle selbst, das an jeder Straßenecke zu uns spricht, bleibt uns erhalten. Und manchmal dürfen wir durch einen Spalt an einer Wand, die andere nicht beachten, ein kleines Stück von der Wahrheit sehen. -
Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Wordsworth, ich möchte Ihren großen Gedanken vom „Elsewhere“ (wir sprachen eingangs darüber) nicht gleichsetzen mit dem Geheimnis der gestohlenen Möbel im Haus am Holunderweg, das Enid Blytons Spürnasen aufdecken. Aber ich möchte zu bedenken geben: Die fünf Kinder (to say nothing of the dog) nehmen an der Gedankenwelt ihrer Eltern nicht teil. Sie sind nicht Teil jener Welt, die Anmaßungen und Schurkereien aller Art ermöglicht. Mit ihrem Gespür für das Geheimnisvolle finden sie keine philosophischen Erkenntnisse, aber sie erspüren die Risse in der nur scheinbar intakten bürgerlichen Welt von GOOD OLD ENGLAND. Und sie merken sehr genau, dass ihnen immer wieder neue Geheimnisse begegnen werden, solange sie sich ihre jugendliche Unvoreingenommenheit und Unbekümmertheit erhalten und nicht im „light of common day“ verschwinden, nicht wahr, Mister Wordsworth:
GEHEIMNIS UM EINEN NÄCHTLICHEN BRAND
GEHEIMNIS UM EINE SIAMESISCHE KATZE
GEHEIMNIS UM EIN VERBORGENES ZIMMER
GEHEIMNIS UM EINE GIFTIGE FEDER
GEHEIMNIS UM EINE VERSCHWUNDENE HALSKETTE
GEHEIMNIS UM EIN HAUS IM WALDE
GEHEIMNIS UM EINE TASSE TEE
GEHEIMNIS UM EINEN UNSICHBAREN DIEB
GEHEIMNIS UM EINEN ENTFÜHRTEN PRINZEN
GEHEIMNIS UM EINEN ROTEN SCHUH
GEHEIMNIS AM HOLUNDERWEG
GEHEIMNIS UM EIN GESTOHLENES BILD
GEHEIMNIS UM EINEN WOHNWAGEN
GEHEIMNIS UM EINE EFEUVILLA
GEHEIMNIS UM EIN BLAUES BOOT
(GEHEIMNIS-SERIE von Enid Blyton; hier mit deutscher Betitelung)
Allein schon diese wunderbaren deutschen Titel reißen die Tapeten von den Wänden erwachsener Gewohnheiten. Ich hatte als Kind alle diese Bücher. Sie kamen mir abhanden. Eines kaufte ich nach, um neu zu verstehen. In der Tiefe geht es nicht um Verbrecherjagd. Es geht darum zu sehen, was die vielen anderen nicht sehen. -
Kindliches Verhalten zeichnet sich durch entwaffnende Unmittelbarkeit aus. Die „Normalität“ erwachsener Rituale ist Kindern zunächst fremd. Nur langsam (und langsamer als bei den meisten anderen Lebewesen) kommt es im Heranwachsen zur Assimilation der Denk- und Verhaltensweisen an die Gepflogenheiten der Lebenswelt. Für gewöhnlich hält dieser Assimilationsvorgang Schritt mit der körperlichen und seelisch-mentalen Entwicklung, sodass der Herangewachsene in seiner Denkweise und seinen Handlungen weitgehend im Einklang mit der Umwelt steht (wir sehen hier einmal von verbreiteten „Ausnahmen“ wie Pubertät und Eltern-Kind-Konflikten ab). Dieser gewöhnliche Reifungsprozess mit Kongruenz von Entwicklungsstand und Wertebewusstheit bringt den „eigentlichen“ Menschen hervor, der sich in voller Überzeugtheit in die Belange der Welt einmischt und sie besser (oder anders) einzurichten versucht. Ich habe ihn im Verlauf meiner Betrachtung als „von dieser Welt“ beschrieben.- Vom Himmel gefallen aber ist in dieser Nacht der andere Menschentyp, der dem „Elsewhere“ verhaftet bleibt. Bei ihm ist die Bereitschaft zur Anpassung an die Welt (wenngleich er altert und reift wie die „Eigentlichen“) verzögert, vielleicht sogar blockiert. Er altert und reift, ohne sich gänzlich anzugleichen. Er hat seinen innersten Kern (Herz? Seele?) gegen Überformung immunisiert. Er wird, wie wir in dieser Nacht erfahren haben, zum Fake-Akteur. Denn er spielt mit im großen Spiel, bleibt nicht zurück, bleibt gleichwohl auf Distanz, während er spielt (so wie ein Darsteller in Brechts Theater). So habe ich wohl in meinem Leben viel episches Theater gespielt und bin von denen, die sich heftiger identifizieren mit ihrem Tun, womöglich missverstanden worden. Mit einem Fuß immer im Leben, mit dem anderen im unbekannten Niemandsland der fremden Herkunft. -
Aber wir haben mitgespielt, wir Fake-Akteure, wir Meister der Verfremdung! Wir Schattenspieler! Wir waren immer neben dir, der du in wildem Eifer um Durchsetzungserfolg gerungen hast! Der du Totschlagthesen in die Welt setzt! Der du mit Trillerpfeife die Ungerechtigkeit der Welt bekämpfst! Wir waren in der Nähe und konnten fast mit dir verwechselt werden. Wir haben mitgespielt, wir haben Anstöße im Handeln und im Denken gegeben. Haben den Gang der Welt beeinflusst (aber die gekreuzten Finger im Rücken gut verborgen). Wir sind keine Kinder geblieben, haben im Alter nicht mit Puppen gespielt. Doch manche Menschen sind uns wie Puppen erschienen. (Kamen sie nicht auch von weither?)
Ein Leben also im Konjunktiv? Es gibt von Ernst Jandl eine geistreiche „Sprechoper“ (AUS DER FREMDE), in der er die Figuren indirekt-konjunktivisch kommunizieren lässt.
sie: ob er
noch was
essen wolle

er: ob sie
auch tatsächlich
satt sei (…)
Die Handlung des Stückes wird vollkommen klar, nur es liegt ein konjunktivisch-unwirklicher Schimmer über dem Ganzen, der Figuren und Handlung poetisch-uneigentlich werden lässt. Und dieses Uneigentliche veranlasst uns, die Dinge mit wacherem Blick zu sehen als dem der Indikativmenschen.-
Mein Platz ist an den großen Fenstern, durch welche die Nacht zu mir spricht. Eine ganz gewöhnliche Nacht über einem ganz gewöhnlichen Genossenschaftsgarten. Und auch eine konjunktivische Nacht.
Am Himmel sei ein Feuerwerk zu sehen.
Daraus lösten sich, vielfarbig, die schönsten Perlen.
Sie schwebten an kleinen Schirmen herab.
Sie richteten ihre Botschaften an mich.
Ich nähme sie beim Wort.

La voce che aveva sentito e che ora non sentiva piu non si era spenta, la sentiva ancora dentro di se´, come se essa avesse lasciato un' eco che continuava, e allo stesso tempo provava una sorta di strano struggimento, una sensazione davvero curiosa, come se il suo corpo avesse perduto peso e stesse fuggendo verso una lontananza che non sapeva dove. (Da: Antonio Tabucchi, IL TEMPO INVECCHIA IN FRETTA)

Übersetzung vom Verfasser:
Die Stimme, die er gehört hatte und die er nun nicht mehr hörte, war nicht verstummt. Er hörte sie in seinem Inneren, als hätte sie ein Echo hinterlassen, das dort fortbestand, und gleichzeitig empfand er eine seltsame Sehnsucht, ein merkwürdiges Gefühl, als hätte sein Körper alle Schwere verloren und flöge einer unbekannten Ferne entgegen.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo fmnarnia, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

Redakteur in diesem Forum
 

Wipfel

Mitglied
Hallo fmnarnia, ich ahne, dass es sich hier um einen autobiographischen Text handelt - was jedoch für die Bewertung der Qualität zunächst egal ist. Vermutlich wird es der Text in der LL schwer haben. Auf mich wirkt er ziemlich verkopft. Sollte ich mich irren, umso besser...

Ohne Frage, in einer Erzählung kann der Text durchaus epische Dimensionen erlangen. Ich konnte oder wollte beim Lesen den Gedankensprüngen des Prots nicht immer folgen. Beispiel:

Kindliches Verhalten zeichnet sich durch entwaffnende Unmittelbarkeit aus. Die „Normalität“ erwachsener Rituale ist Kindern zunächst fremd. Nur langsam ... kommt es im Heranwachsen zur Assimilation der Denk- und Verhaltensweisen an die Gepflogenheiten der Lebenswelt. Für gewöhnlich hält dieser Assimilationsvorgang Schritt mit der körperlichen und seelisch-mentalen Entwicklung, sodass der Herangewachsene in seiner Denkweise und seinen Handlungen weitgehend im Einklang mit der Umwelt steht (wir sehen hier einmal von verbreiteten „Ausnahmen“ wie Pubertät und Eltern-Kind-Konflikten ab). Dieser gewöhnliche Reifungsprozess mit Kongruenz von Entwicklungsstand und Wertebewusstheit bringt den „eigentlichen“ Menschen hervor, der sich in voller Überzeugtheit in die Belange der Welt einmischt und sie besser (oder anders) einzurichten versucht.
Wozu braucht es diese Textstelle? Der Autor will etwas Grundsätzliches erklären, ich soll etwas verstehen - oder? Dann sollte es aber auch fachlich fundiert sein (Entwicklungspsychologie). Entwicklung eines Menschen ist ein stetiger Prozess der Veränderung: gestufte, irreversible, lebenslange, qualitative Veränderung des Verhaltens, Erleben und Denkens. Verursacht durch Lernen und Reifung.

Kindliche Entwicklung läuft in vier Stufen ab (Stufenmodel nach Piaget). Um die einzelnen Stufen zu verstehen, braucht es noch eine wichtige Komponente: Neben der Assimilation (Anpassung des Schema) nutzt das Kind die Akkommodation (Erstellung eines neuen Schemas). Entwicklung von Intelligenz bedingt dieses wechselseitige Spiel - je nach Alter mit verschiedenen Schwerpunkten. Erst wenn die Entwicklungsaufgabe der jeweiligen Stufe erreicht ist, kann das Kind einen neue beginnen.

Und pupertierende Jugendliche sind in der Phase der formalen Operation angekommen. Sie müssen diesen schwierigen Prozess durchlaufen - ihre Knoten im Kopf auflösen. Das ist eine große Leistung...

Das Stufenmodell von Piaget ist ganz brauchbar auf Wikipedia beschrieben. Für die Rechereche zu deinen Text vielleicht ganz brauchbar...

Grüße von wipfel
 



 
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