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Mit der Post kam heute ein Paket, ein gelbes, es stand „Post“ darauf.
Du hast es mir geschickt, mein Freund, und darin liegen:
ein Physikheft
ein Videofilm
ein Kochrezept
eine Armbanduhr
eine Sonnenblume
ein Geldschein
ein Kerzenstumpf
eine Fotofilmdose
ein Foto
ein Blister mit Tabletten
ein Wörterbuch
eine Brille
und ein Brief: nur ein gefalteter Zettel, auf dem mein Name steht.

Wir haben die Physikkladde damals zusammen voll geschmiert, als das Schicksal uns bescherte, dass ich, als neuer Schüler in der Klasse, neben dir sitzen musste, durfte. Meist waren es obszöne Comics, in denen die Lehrerschaft eine tragende Rolle spielte. Von Physik wusste nach diesem Jahr keiner von uns etwas, aber wie gut du dich schon damals mit der weiblichen Anatomie auskanntest, erstaunt mich heute noch!

Dann kamen die Videos, ja, darüber sind wir uns eigentlich erst nahe gekommen. Es ist ein Film aus unserer Videothek, ich kenne ihn auswendig, wie ich jeden Film dieser Videothek auswendig kannte. Wir haben vor dem Fernseher deiner Eltern, später bei mir zuhause rumgehangen, billiges Gesöff in uns hinein geschüttet und versucht, mehr Zigaretten und Drogen zu konsumieren als die Jungs in unseren Filmen. Das war manchmal hart, aber es ist uns glaub‘ ich gelungen. Soll ich den Film jetzt zurück bringen? Wird bestimmt teuer, aber das war dir schon immer egal.

Kochen konnteste wie ein Weltmeister, jedenfalls zwei oder drei Gerichte. Das Rezept ist natürlich von dir, und es ist natürlich einem Film nachempfunden. Sowas haste meistens gekocht, wenn viele Leute da waren. Wir haben dann den Film gesehen und das passende Essen genossen, an diesen Abenden immer mit Unmengen Rotweins, das war ne Stilfrage. Normalerweise haben wir uns dann noch eine Woche lang von den Resten ernährt. Kann mich noch gut an die abgelederte Couch erinnern, die du dann hattest, an die Jungs und Mädchen, die sich darauf fläzten und dich anstaunten, weil du dich getraut hast zu leben, wie sie es sich vielleicht erträumten. Gut, es hat dir ja auch einiges eingebracht im zwischenmenschlichen Bereich, wenn ich mir auch nicht in jedem Fall sicher bin, ob es bei dir nicht häufig mehr zwischen als menschlich war.

Die Armbanduhr... eine schöne, mechanische Uhr. Wann hast du das Paket gepackt? Der Sekundenzeiger bewegt sich noch im Puls der Zeit, aber er dreht sich nicht mehr, wackelt nur noch auf der Stelle. War immer deine größte Angst, dass die Zeit weg laufen könnte, dass es zu viel zu erleben gibt in dieser kurzen Spanne namens Jugend, dass du Dinge nicht sehen konntest, die du aber unbedingt gesehen haben musst! Das hat zu einer Mischung aus Hektik und Phlegma geführt, je nachdem, ob du gerade alles auf einmal machen wolltest oder dich resigniert für Wochen zurück gezogen und die Hoffnungslosigkeit deiner Lage beklagt hast. Alberner Kerl, der du bist.
Kann mich erinnern, dass wir eines Tages, im Zivi, alle Uhren im Krankenhaus umgestellt haben, damit der Dienst später beginne und die Nacht länger sei. Ich glaube, das hat dir viel mehr bedeutet, als ich damals dachte.

Sonnenblumen, das waren mal deine Blumen, ich weiß. Ist eigentlich nicht gut, dass du sie mir jetzt schickst, und dass diese Blume in voller Pracht hier vor mir liegt. Hattest früher die ganze Wohnung voll stehen mit Sonnenblumen, das war ein Fest für die Augen und verschiedenste Ungeziefer. Doch der Tag, an dem du ausgerastet bist, ich weiß nicht mehr warum, an dem du dich gegen jede Wand deiner Wohnung geworfen hast, an dem du alle Sonnenblumen aus ihrer Erde gerissen und gefressen hast, bis du dich übergeben musstest, nach dem nie wieder eine Blume deine Wohnung verschönte und belebte; das ist einer der schwärzesten Tage, die es für mich gab. Stand nur daneben oder versuchte dir auszuweichen in deinem heiligen Zorn, deinem furchtbaren Unglück, deinem höllentiefen Leid, das mir unbegreiflich schien und doch da war. Irgendwann bin ich dann gegangen, und ein paar Tage später haste angerufen und geklungen, als sei nichts passiert.
Nur, da waren nie mehr irgendwelche Blumen.

Wie mit Blumen und mit Zeit bist du mit Geld umgegangen. Hast es geliebt, aber mit Freuden vernichtet, ich weiß. Dass sich daraus gewisse Probleme ergeben könnten, musste ich dir ständig ans Herz legen; du hast nur gelacht und mich zum Essen eingeladen, natürlich dahin, wo es stank vor Dünkel. Und wenn gar nichts mehr da war, das kam immer öfter vor, hast du dann munter weiter gelebt und dich einen Scheiß darum gekümmert, wie du denn leben sollst? Nein, haste nicht. Dann haste dich mies gefühlt, ein Leben in Armut an dir vorüber ziehen lassen, deine Verantwortungslosigkeit bejammert und mit Tränen in den Augen um ein Darlehen gebeten. Schön, dass du nun beginnst es zurück zu zahlen, aber ich möchte doch dein Geld gar nicht.

Die Kerze hab ich dir geschenkt, als dein Herz gebrochen war. So wie du lieben konntest, konntest du auch leiden, und gelitten hast du, gelitten hast du. Bin damals ja nochmal fast bei dir eingezogen, hab Urlaub genommen und dich wochenlang umsorgt, als du ganz sicher warst, dass nun die Welt untergegangen ist.
Ich hab dir dann diese Kerze, und die war mal stolz und groß, hingestellt. Habe dir gesagt, jedes Mal, wenn du um das Mädchen trauerst, wenn du glaubst, es nicht mehr aushalten zu können vor Sehnsucht und Schmerz, wenn du glaubst, es gebe nichts auf dieser Welt als sie, dann zünde die Kerze an und lass die Flamme brennen, bis es wieder besser ist. Und ich hab gesagt, es wird vorüber sein, noch bevor sie runter gebrannt ist. Hast sie ja fast verbraucht, mein Lieber. Wann brannte sie das letzte Mal?

Ich öffne die schwarze Fotodose und erwarte, einen Film zu finden. Doch es steckt eine kleine Figur darin, ein Playmobilmännchen. Ich weiß, was du willst. Hat sich ja alles so entwickelt, nein, du hast dich so entwickelt. Konntest oder wolltest dich nicht dagegen wehren, dass um dich herum alles immer schwärzer schien, dass du dich gefangen fühltest in einem Loch aus Dunkelheit, dass dir die Luft zum Atmen fehlte. Du hast dir selbst die Kehle zugedrückt, es aber immer auf die Hände geschoben, die sich da um deinen Hals legen. Oh ja, du warst gefangen in diesem Verlies, und das, obwohl es doch gar kein Verlies gab, oder? Oder?

Schönes Foto, das du mir da schickst, Freund. Es zeigt uns beide, und wenn ich es jetzt sehe, kann ich die Tränen doch nicht mehr zurück halten. Muss kurz nach der Schule gewesen sein, und das ist inzwischen verdammt lang her. Ich sitze auf diesem seltsamen Denkmal im Stadtpark und du stehst drunter und tust nichts, als mit deiner Zigarette auf mich zu weisen und dich schlapp zu lachen. Mann, ich seh ja auch lächerlich aus, und dann diese Klamotten! Mal abgesehen davon, dass du ebenso fragwürdig gekleidet bist. Was aber wie aus einer ganz fernen Welt herüber kommt, das ist dieses Lachen, und es ist das Strahlen deiner Augen. Hab das zu lang nicht mehr gesehen.

Das führte ja dann zu den Tabletten. Führte dazu, dass du dich selbst mit Pillen eingedeckt hast, die dich irgendwie fröhlicher machen sollten, und ich erkenne diese Tabletten, dein ganzer Schrank war mal voll damit, und mit aufgeklebtem Lachen hast du sie mir gezeigt. Hohl bist du geworden, gleichgültig, stumpf. Dein blitzgescheiter Geist, deine rhetorische Spitzfindigkeit, dein neugieriger Blick, deine wilde Streitlust waren einem samtenen, verständnislosen, mit dem Funktionieren der Vitalfunktionen schnell zufriedenen verzerrten Grinsen gewichen, und deine Trauer schien so nur noch größer.

Das Wörterbuch sagt mir eigentlich nichts. „Danke“ hast du als Widmung hinein geschrieben. „Danke“ wofür? Für die Worte, die wir gewechselt haben? Dafür habe ich dir zu danken, und ja, auch du mir. Eigentlich – früher – warst du immer der, der das große Wort geschwungen hat. Ich habe mich daran gefreut, dir zuzuhören und einzuschreiten, wenn du aus dem Ruder zu laufen drohtest. Als es dann bergab ging mit dir, als du nur noch diesen Schlund gesehen hast, der dich aufzufressen droht, da habe ich geredet, da habe ich verzweifelt versucht, in dir etwas zu wecken, was einst nur allzu wach gewesen war, da habe ich beruhigt und geschrieen und diskutiert. Hatte aber nie das Gefühl, dass es allzu lange hilft. Und nun schickst du mir ein Wörterbuch. Gibst du mir meine Worte zurück, Freund? Ist es das? Ist es so weit?

Das ist deine Brille, die da liegt, hat dicke Gläser inzwischen. Mensch, ohne diese Brille kannst du doch gar nichts mehr sehen, noch weniger als sowieso, ohne dieses verfickte, bescheuert teure Gestell bist du doch lebensunfähig, Mann!

Ich weiß, was passiert ist. Ich brauche den Brief nicht mehr zu lesen, warum soll ich das... mir noch antun?
Und warum hast du das getan, du Arschloch, warum.... Das hättest du nicht tun dürfen.

Warum hast du das getan?
 
L

Larissa

Gast
Lieber AlexanderrednaxelA,
das muss wohl Gedankenübertragung sein, denn gerade, als ich auf deine Geschichte eingehen wollte, erspähte ich deinen Kommentar zu "Die Spieluhr". Na ja, egal, antworte ich trotzdem zuerst hier.
Mich hat deine Geschichte nämlich wirklich vom Hocker gehauen. Zuerst saß ich nach dem Lesen minutenlang erstarrt da und ließ die Worte auf mich wirken, dann überfiel mich eine fürchterliche Gänsehaut, und nun bin ich immer noch ganz erschüttert. Aber ich glaube, diese Reaktion hast du wohl bereits bei deinen Lesern vorausgesehen.
Etwas Schöneres kann einem Schreiber ja nicht widerfahren, als die Menschen zu berühren. Und das ist dir total gelungen.Super!

Liebe Grüße und frohe Ostern!
Larissa
 
S

Stoffel

Gast
verdammt..verdammt..traurig..

aber Klasse!
lese ich auf jeden Fall morjen nochmal.
(kommt selten vor)

lG
Stoffel
 

arle

Mitglied
acht von zehn

Lieber Alexander,

eine winzige Kritik: Texte, die mich berühren, lese ich meistens laut vor mich hin. Und dabei hat mich persönlich der immer wieder auftauchende Ausdruck "haste" statt "hast du" jedesmal ein bisschen ins Stolpern gebracht. Er passt für mich nicht so recht zu den atemberaubenden Worten, die du gefunden hast. Dies nur als kleine Anregung.

Ansonsten: Bravo!
 
Erstmal allen vielen Dank für die warmen Worte.

Liebe arle, als ich die Geschichte gestern oder vorgestern noch mal durchlas, habe ich mich, genau wie Du, an einer zeitweiligen Häufung dieser Kurzform gestoßen. Ich stand dann vor dem Problem, dass ich das einzelne "haste" jeweils schon nachvollziehen konnte und daher nicht genau wusste, welches ich denn nun einfach ersetzen soll.

Derart verstrickt, überlege ich noch, ob und gglfs. wie ich das ändern werde und grüße Dortmund und den Rest der Welt!
 
S

Stoffel

Gast
Hallo,

hab doch noch was...
aber vielleicht willst Du ja auch gar nichts daran mehr machen.

"Du, mein Freundhast es mir geschickt, und darin liegen: "

"Dann kamen die Videos.."
Was hälst du von "Dann kam das mit den Videos"?

"und es ist natürlich einem Film nachempfunden"
Du meinst so.....
"Du hast Dir für jeden Film, den wir gemeinsam oder mit Freunden, ansahen..immer etwas passendes dazu einfallen lassen.."

"Sonnenblumen"
"das waren immer deine Lieblingsblumen"

Sas mit dem "kannste..haste" stört mich nicht so. Es gibt noch etwas mehr Intimität, so wie sie wohl miteinander redeten drückts für mich besser aus.

Übrigens..erst meine Tochter hatte, wie aus der Pistole geschossen..gesagt..
Du, dem seinen Namen kann man auch rückwärts lesen:)

lG
schönen Ostertag Euch
Stoffel
 
Salut Stoffel,

ich finde es sehr schön, dass Du Dich so aufmerksam mit dem Text auseinander gesetzt hast.

Bemerkenswerter Weise sind nahezu alle Punkte, die Du angesprochen hast, Entscheidungen, die ich beim Schreiben sehr bewusst getroffen habe (wohingegen viele andere Formulierungen sozusagen von selbst kamen und weniger spezielle Überlegungen dahinter standen).

Womöglich liegt gerade darin der Grund, dass ich mich für Konstruktionen entschieden habe, an denen man hängen bleiben kann.

"Du, mein Freund, hast es mir geschickt, und darin liegen: ", wie von Dir vorgeschlagen, habe ich nicht gewählt, weil es mir anders rhythmischer vorkam. Ich habe mir, ähnlich wie arle, den Text selbst vorgesprochen, ihn mir als halb stummen Dialog vorgestellt, auf der einen Seite die Mitteilungen des Freundes, auf der anderen die Reaktion darauf durch den Erzähler. Und dabei ging mir meine Formulierung leichter über die Lippen.

"Dann kamen die Videos.."
Was hältst du von "Dann kam das mit den Videos"?" wäre eine denkbare Alternative, die inhaltlich nichts verändert und vielleicht ein bisschen mehr Klarheit schafft. Ich vermute, auch hier wollte ich einen ungehinderten Sprachfluss darstellen, der ja manchmal zu etwas unsauberer Formulierung führt.

"und es ist natürlich einem Film nachempfunden"
Du meinst so.....
"Du hast Dir für jeden Film, den wir gemeinsam oder mit Freunden, ansahen..immer etwas passendes dazu einfallen lassen.." -
Hier glaube ich, dass Dein Vorschlag zu kompliziert, zu lang ist. Dabei gestehe ich gern zu, dass bei genauer Betrachtung meine Wahl semantisch nicht ganz korrekt ist.

"Sonnenblumen"
"das waren immer deine Lieblingsblumen" -
Das gleiche wie vorher. Ist schon richtig, dass "deine Blumen" inhaltlich nicht lupenrein, zumindest doppeldeutig ist; die von Dir vorgeschlagene Alternative kommt mir etwas formell vor.

Deine Herangehensweise an den Text ist sehr interessant, sie hat mich wiederum dazu gebracht, ihn mit etwas anderen Augen zu sehen. Hier ändere ich wohl nichts gravierendes mehr, aber vielleicht erstelle ich für mich noch einmal eine geänderte Version; in dem Fall informiere ich natürlich gern über das neue Leseerlebnis.

Im übrigen ein Hoch auf den Blick Deiner Tochter, die Hoffnung, dass sie weiterhin nur mit Worten schießt und viele Grüße aus Saarbrücken;

Alex
 

Daniela H

Mitglied
Hallo Alexander,

ich bin ein wenig spät dran mit meiner Kritik. Ich bin erst kürzlich auf die Leselupe gestoßen.

Diese Geschichte hat mich sehr berührt. Ich möchte sie fast schon in die Kategorie Prosalyrik einreihen, da viele Sätze einen Rhythmus haben, der die Stimmung der Geschichte nahezu lyrisch zum Ausdruck bringt. Ich denke, es würde sich auch jetzt noch lohnen, den Text noch einmal zu überarbeiten um die paar holprigen "Bremser" in eine flüssigere Form zu bringen. Den Abschnitt mit den Sonnenblumen z.B. finde ich perfekt gelungen. Da ist Musik drin.

Ich meine, der Absatz vom Wörterbuch holpert ein wenig. Genauer gesagt die ersten paar Zeilen. Es klingt zudem ungeschickt, wenn Du zuerst schreibst, dass das Wörterbuch Dir eigentlich nichts sagt und Du aber trotzdem einen Zusammenhang herstellen kannst. Auch für die folgenden Zeilen findest Du bestimmt noch flüssigere Formulierungen. Das fatale ist eben, wenn ein Text so gut ist, dann stören kleine Unebenheiten.

Mir gefällt besonders, dass Du eine Sprache, einen Ausdruck, gefunden hast, der sehr persönlich, individuell gefärbt ist. Ich freue mich auf weitere Texte von Dir.

Liebe Grüße von Daniela
 



 
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