Posthume Poetik

Fragmente zu einer posthumen Poetik
aus "Tunneleffekt", Galrev, Berlin 2000

Es wird künftig, ich weiß nicht wo oder wenn, noch bewiesen werden: daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslichen verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geister-welt stehe, daß sie wechselseitig in diese wirke und von dieser Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht. Immanuel Kant






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Was bisher der Mythus des Christentums war, alles bestimmte, ist überholt, ist am Ende. Doch gibt es eine andere tiefere Realität, die "Gott" als das Unfertige Kommende erkennt.

Lyrik und Poesie in der Kunst allein gehn mit dem Kommenden, dem "Tod" wie mit Ihresgleichen um. Sie bringt die Illusion der "festen Welt" mit Hilfe der Interlinearversion, der Traumdiktate, des geöffneten Gedächtnisses zum Verwesen, sie hebt die Illusion der Zeit auf.

Das Subjekt rückt ins Zentrum: denn der dichteste Ort des Alls ist der mensch-liche Kopf. Kenntnis ist in unsere Sprachformen übersetztes kosmisches Wis-sen, vor allem in die der Mathematik. Das Subjekt, der Grund dieser Kenntnis selbst aber kann begrifflich niemals erfaßt werden... Dieses Unfaßbare wurde einmal "metonymische Kausalität" (abwesender Grund) genannt; sie ist der klingende Grund von Musik und Poesie.

Von Paul Celan wurde der Gedanke wieder aufgenommen, daß wir erst im Ge-dicht, ja, schon in jedem Wort, Dinge, Tiere, Pflanzen auferwecken, "erlösen", und Lyrik in solch einem "Probehandeln" eine Aufgabe erfüllt. In seinem "Krokus"-Gedicht heißt es:

KROKUS, vom gastlichen
Tisch aus gesehn:
Zeichenfühliges
kleines Exil
einer gemeinsamen
Wahrheit,
du brauchst
jeden Halm.

Ohne den Menschen wäre alles wieder in die tiefste Nacht des Nichtseins und in ein von niemandem gewußtes Ende hinabgesunken!

Der Einzelne, das Individuum, sein Bewußtsein ist mehr als "die Welt". Lyrik ist also zu einer Haupt-Sache geworden, oder müßte konsequenterweise zu ei-ner Hauptsache werden!

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Bilder (auch das Christusbild) können alles zuschütten, vermauern, uns "entla-sten" von der Verantwortung, jeden Augenblick unserer Existenz als tragische Ausnahme zu sehen.

Das Fehlende allein, die Absenz zielt ins Herz des Wirklichen.
Bei den Juden trug es den Namen des "Nichts", Voraussetzung, um sich jenem "Einen" (dem größten, weil alles-umfassenden, daher undenkbaren) Zusam-menhang zu nähern, den wir nicht fassen können: das Eine als treibende Ab-senz, das in allem enthalten ist, ein sich in Schmerz und Freude verwandelndes Heimweh, Hohlform unverzichtbarer Hoffnung, seiner nirgends und überall er-kennbaren Gestalt!

Aber das akzeptierte und bedenkenlos gelebte Alltäglich-Selbstverständliche und "Einfache" verhindert auch das Glück des unmittelbaren Reichtums und die Hintergründe eines großen Zusammenhangs im plötzlichen Aufblitzen von Berührung und Verstehen! Allein die "via negativa" ermöglicht dieses. Und die Chance ist im Gegensatz zu traditionellen Zeiten heute fast jedem gegeben, weil die Zeiten jetzt so sind, sie selbst den Abgrund zeigen!

"Das Staunen darüber, daß die Dinge die wir erleben, im zwanzigsten Jahr-hundert `noch` möglich sind, ist kein philosophisches", heißt es bei Walter Benjamin: "Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der sie stammt, nicht zu halten ist."

Absenz ist heute der allgemeine Zustand geworden. Und erst in den Zwischen-räumen des "Realen" kann es Hoffnung geben, sie ist bildlos und hart, es ist eine Leerstelle im Gewohnten, die Voraussetzungen sind günstig, die Zeit selbst hat Abschied im Blick, "Gott ist der Tod" (Hegel).

Sich trennen können, illusionslos hinabgetaucht in die tiefste Einsamkeit, die wiederholt, was jeder in der letzten Stunde erlebt, "todeseinsam" zu sein, bringt jenes Glücksgefühl einer anderen Vereinigung in der total zersplitterten, ei-gentlich schon untergegangenen sinnlichen Welt mit sich.

Und nicht nur Jung wußte davon, daß erst durch die Trennung von den anderen Menschen und vom Lärm der Sinne, in absoluter Einsamkeit und in einem auf sich selbst Zurückgeworfen-Sein, ausgespannter, ja abgeschnürter Sinne, jeder die Chance hat, wieder der "erste Mensch" zu sein. Eremiten und Einsame, bis hin zu den freiwillig sich im Finstern einmauernden Mönchen des Tibet, wis-sen vom Spalt, der sich erst in der Absenz öffnet, um die Mauer, an der wir täglich entlangtaumeln, zu durchbrechen. Dies ist jetzt nicht nur eine Sache von Eremiten geworden, die Zeit nämlich ist danach, sie selbst ist einsam geworden in ihrer Tiefe - überschüttet und verschlammt von schreienden Bildern.

Wer allein ist, liest, liest eher, wenn er einsam ist, ist dann konzentriert. "Le-sen, was nie geschrieben wurde": Herausstellen, was durch Geschichtsschrei-bung und Mündlichkeit verdeckt wurde. Wie Träume, die kurz nach dem Er-wachen verschwinden. Wie zwischen Leben und Tod, Heraufkommen von an-deren Archetypen und BILDERN von jenseits der Grenze, die die gewohnten löschen. Denn wäh-rend die Beziehung der Gegenwart des Bewußtseins zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die der bunten Welt unserer Augen, al-so des Gewesenen, zum bewußten Jetzt nicht zeitlicher, sondern bildlicher Natur.

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Gewesen-Verwesen, - also den Zerfall in jedem Augenblick vor sich zu sehen, müßte eigentlich abschiedsfähig machen, es hinterläßt aber nur Trauer, weil wir eher unseren Augen als unserer Gewissheit trauen. Und daß wir den Ab-schied (den Tod vor Augen) sehen können, dies wird mit den ständig ankom-menden und verschwindenden Sekunden gleichzeitig und immerzu verdrängt! Als wäre es die reine Unmöglich-keit... Wir erfahren sie täglich.

In der Poesia metafisica wird versucht, jene Scheinhaftigkeit der "wirklichen" Existenz kenntlich zu machen, und zwar durch virtuelles "Verschieben" in die eigene Zu-kunft, an jenen ORT, wo das Ich schon IST, den Bezugspunkt also zur wirklichen Zeit, die ihre Schatten in jeden Augenblick werfende erfüllte Zukunft (also das, was alle am Ende erwartet!) zu finden.

Der Versuch, im ver-endeten Schein diesseitiger Existenz dahin also zu kom-men, wo auch die Illusion Tod aufgehoben werden kann, macht jede Zeile zu einem "geschriebenen Glück". Unsere gemeine (gesicherte und sozialtierische) Alltags-Existenz ist ja eine künstliche (und unwahre) Pro-jektion aus Angst (Freud). Alles wird getan, um das Un-Heimli-che, jenen Abgrund des Heimi-schen (des Gemein-samen von Lebenden und Toten) zu verdrän-gen. Daraus ist der Erzähler noch nicht, wohl aber ein bewußtes lyri-sches Ich längst er-wacht.

Die Lebenden wirken wie Gespenster.

Das lyrische Ich (Spiegel des Selbst, das Du, der alte "Engel" in uns) reagiert mit gutmütigem Spott und Sarkasmus, aber auch freundschaftlich und mitlei-dend. Überhaupt kann es ja in dieser Wieder-Gabe (Mimesis) irdischer Ver-hältnisse nur mit leidvollem Wissen um alle Todesarten des Irdischen, wozu nicht nur Krankheit, Krieg, Alltag, sondern auch die Liebe gehört, zur authenti-schen Lyrik kommen; und es könnte sein, daß das ganze poetische Unterneh-men nur eine Art Jenseits-Therapie ist, die "Tagesreste" jenes Albtraums "Le-ben" zu tilgen, sich zu reinigen, um sich weiter entwickeln zu können, diese Schwere und Abschiedsunfähigkeit zu beseitigen.
Begriffe sind unfähig, dieses Kommende zu fassen (jene Welt, die eigentlich schon da ist).

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Der Tod als Tor, das Aufblitzen im Augenblick der Öffnung. Den Tod erlebt zu haben durch einen Unfall, eine Krankheit, den Verlust eines geliebten Men-schen, im Krieg... oder auch nur im alltäglichen Bewußtsein, daß wir sterben müssen, ist die Voraussetzung einer Lyrik, die von sich selber weiß und nicht nur mit Worten und Gefühlen spielt: Die Organisation eines Gedichtbandes braucht heute im bequemen Stillstand diesen Schock, einen Standort jenseits der Zeit; das Gedicht muß aus dem Zeitfluß herausgehoben sein, um sich selbst erkennen zu können. Es ist der Ort des Gewesen-Sein-Werdens!

Der Tod droht jedem! Das Nichts ist für jene freilich näher, die den Boden un-ter den Füßen verloren haben. Und daß dieses jeden Augenblick jedem droht, sehn wir heute leider zu fern! Es erhält einen Körper in der Erfahrung des Landverlu-stes (Exil), der wahnwitzigen Vertreibungen und Massaker auch heute, im Westen des Sinnenverlustes im "kleinen Tod" und Sterbegefühl von schmerzlicher Absenz auf Autobahnen, vor Mattscheiben, dies alles in man-gelnder Nähe.

Wem hilft es wirklich, doch den Opfern kaum, wenn in „medialen Durchsa-gen" immer wieder die Versicherung zu hören ist, es gebe uns alle nach dem Tode weiter in einem verwirrenden "chaotischen postmor-talen Zustand"? Wird auch dieses durch die Opfer zum Luxus, wäre gar Scham angebracht, wenn wir tröstend hören: Es gebe zwar eine Auflösung, und es gebe dabei eine Art "Zerstreutheit" und sich verlierende, einsame "Be-wußtseins-frag-men-te", doch auch eine zielgerich-tete Stimmigkeit des Nachtod-Bewußtseins... das "als Per-sön-lichkeit erscheinen kann?" Sind der Schmerz, die Qual, der Hunger, die Einsamkeit, die Verzweiflung nicht wirklicher und uns näher, als solch eine Nachricht über solch ein Nachher: daß es dann "Kno-tenpunkte, die sich zum Zwecke einer erkennba-ren Persönlich-keits-struktur verei-nigt haben", geben soll? "Kri-stal-lisa-tions-formen", die zu je-dem Perso-nen-Kern gehören, und - die schon im Leben vorbe-reitet werden; was einer im Grunde seines Wesens hier auf der Erde war - er wird es auch nach dem Tode sein! Was aber war er hier, ein hingeschlachtetes Kind, eine ermordete Mutter, die ihren Säugling im Arm hielt? Was wird mit ihnen? Dort? Wo?

Bei einem Gespräch zwischen Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse, das Grünbein beherrschte (in „Die Schweizer Korrekur“, Hrsg. Urs Engler, 1994), bemerkt Grünbein, daß der Erfinder der Gedächtniskunst ein Dichter, Simonides von Keos, gewesen sei. Als nämlich nach einem Ge-dichtvortrag beim thessalischen Fürsten Skopas, das Dach des Festsaals ein-stürzte, der Dichter wie durch Zufall im Freien war, und da die Leichen bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren, konnte er sie, nur er, der Dichter, wieder iden-tifizieren, durch Namen also zum Leben erwecken. „Als überlebender Zeuge hat er der Trauer der Überlebenden einen Weg gewiesen, als Epigrammatiker und Dichter von Totenklagen den Schlüssel zur Erinnerung ... gefunden.“ (Grünbein) Exemplarisch hat das in unserem Jahrhundert Paul Celan mit den Opfern des Holocaustes dichterisch getan. Brigitte Oleschinski fällt im Dialog zum Opferproblem ein „nasser Tag über dem leergezeigten Gelände, und Kin-derschuhe, Zahnbürsten , Brillen“ ein, gegen Grünbeins Versuch, die Grenzen zu überschreiten, setzt sie die Zelebration des Alltags, des Empirischen und Sinnlosen im totalen Bruch: „ und plötzlich war mir, als sei der Regen das ein-zig Sinnvolle, das sich jemals dazu sagen lassen wird...“
Sicher, Vorsicht ist geboten, auch Skepsis, Sprachlosigkeit und Verstummen. Doch an dessen Rändern - ist da nicht der Widerschein des Ungeheurlichen? Ist nicht eben dieses Ungeheuerliche der Massaker an der Grenze unserer Vor-stellung eine Aufforderung, bisherige Grenzen zu überschreiten, genau jene Beschränktheit, die erst dieses Unfaßbare ermöglicht hat, zu überschreiten?

Die Innenräume des Gedichts als Sammelstelle und allem Tode voran? Vorbe-reitende Reife vibrierte dann angeberisch und entzogen in der Zeile, für uns, die so luxuriös mit dem Ende und dem Neuanfang umgehen können: zweck-mäßiger Ernst in jedem Laut, im Vers?

Kein Vers erreicht den Hunger
Schreie/ unter der Folter die Wand
Nicht nur des Erschossenen wenn der Kopf
Sinkt.

Hier gehen wir schmerzlos über die Zeile.
(Das Gedicht)

Das von der Ein-bil-dungskraft oder dem reinen Selbstbezug des Ich vorausent-wor-fe-ne "Zugleich-sein" aller Ebenen, auch der Zukunft, also unseres Todes und der Toten mit uns, wird metasprachlich als ein Kreisen an den Rändern unseres Bewußtseins noch möglich, doch dazu kommt die Verzweiflung, aus dem Sprachgefängnis nicht ausbrechen und das, was dahinter steht, nicht aus-drücken zu können! Auch den letzten Augenblick, das was jetzt Tausende erle-ben, nicht!

Erstaunlich bleibt, daß in einem so hoch angesetzten Resumé über die Gegen-wartslyrik im SonderHeft „Lyrik“ des MERKUR (März/April 99) von dieser neuen Poesis keine Rede ist, auch in Texten zur Bukowina-Literatur und zu Celan oder der Shoa nicht (dabei gibt es dazu schon tiefsinnige Ausführungen von George Steiner und anderen!) Nur in einem Essay (Die neue Unersetzlich-keit der Lyrik von J. Drews) wird ansatzweise von einer „neuen Offenheit“ ge-redet, zaghaft und etwas gewunden: „Lyrik ist im Moment keine mit einem Achselzucken zu quittierende Sache mehr. Deshalb wären aber etwas intensi-vere Überlegungen zu der Frage, ob es nicht neue Kriterien zur Beurteilung der Adäquatheit von lyrischen Sprechweisen zur zeitgenössischen Wirklichkeit ... keineswegs überflüssig.“ Wie weit entfernt ist die Kritik doch von der lyri-schen Praxis und dem, was einige wenige Schreibende wissen und in ihren Ge-dichten und Texten formulieren!


Ich meine allerdings nicht die eigenwilligsten Epigonen der experimentellen Lyrik (auch der rumäniendeutschen) in ihrer heillosen Sackgasse. Es ist ty-pisch für diese geschichtslose lyrik, die fast bewußtlos an einer privatsprache bastelt und sich alles erlaubt, jenseits von Geschichte, Realität und Lesern!
Dabei wäre sie möglicherweise ein sprachkritisches poietisches Instrument, Grenzen zu überschreiten, aus dem Sprachgefängnis auszubrechen, wenn, ja, wenn beides zusammenkäme zu einer wirklichen verantwortungsvollen Syn-these, jenseits der reinen narzistischen Spielerei!

5
Das Grundgefühl im Alter dieser Welt läßt sich vielleicht so beschreiben: alles ist noch da und doch schon längst vergangen. Einzig dieses heute so typische Bewußtsein im Alltag, da und zugleich nicht da zu sein, abwesend, und doch im Jetzt vorhanden, das dem Zeitstillstand bei Schock- und Todeserlebnissen ähnelt, spiegelt die immer intensivere Auflösung der "festen Welt" in der wir wie Phantome leben.

Die "exzentrische Welt der Toten" (Hölderlin) bleibt so nah, als gäbe es heute einen ungeheuren Sog der Opfer, Millionen, die durch die Vernichtung unserer Welt ums Leben kamen und auch heute immer noch zu Hunderttausenden um-kommen!

Euer Bewußtsein ist wie ein Glühwürmchen, aufleuchtend, einen Augenblick bewußt also bei euch (auf der Erde), dann aber wieder bei euch absent und so für einen Au-genblick eben hier (bei uns den Toten), ihr sterbt in jeder Sekunde und werdet dann wieder geboren, ohne daß ihr es wirklich merkt. Kurzes Blackout. Nichts, ein schmaler Spalt, ein momentaner "Tod". Und kein Zeitfluß mehr. Du scheinst jenen Blitz und Spalt manchmal zu bemerken, manchmal... konzentriere dich auf jene Rückseite des Bewußtseins, sei ohne Angst abwe-send, so kommst du hierher, trainierst den Todesprozeß, der dir dann einmal den Übergang erleichtert -

Ich "stehe" in solchen Augenblicken betroffen an jener Grenze, wo der Zeitfluß aufhört zu fließen, betroffen und mit Angstgefühlen, da Zeit in mir stehenge-blieben ist, und ich habe dann große Schwierigkeiten, den äußeren Bildern zu folgen und wundere mich, daß sie doch noch da sind, diese Bilder; sie kommen wie in Traumfetzen und fiebrigen Intervallen als Augenbild an, und ich bin mir plötzlich erstaunt bewußt, immer noch da zu sein. Das Bild ist fixiert in seiner stati-schen Vorstellung, doch die "Zeit", der den Schrecken überdeckende Au-ßenfilm, ist ein Stück weitergerückt: und ich blinzele, strenge mich an nachzu-kommen, denke an möglichen Irrsinn, falls das taghelle Bewußtsein zu lang-sam sein oder vielleicht ganz aussetzten sollte... eine leere Stelle, kein Ich mehr, alles so intim nah, aber ganz fremd und namenlos:

CHAUSSEE NACH ROM/ Die Linden blühn die Pinien sind wie Schirme/ Die Augen Schatten blenden dich/ es irrt in dir/ Bewußtsein/ ein Chaussee-baum/ An deiner Außenwelt entlang// Wie ein Geheimnis steht/ In dir doch et-was still/ Ein Kern als hättest du ihn/ Überfahren// Du bist darin/ Ein Unbe-kannter/ Und läßt es weiterrücken/ Er steht/ du bist mit ihm/ Das Kreuz// So bist du immer schon/ Zerstört und doch wenn du/ Es fühlen kannst/ Mit ihm/ gleich zeitig/ schon gerettet.

Parmenides dachte sich diese Spaltung der Sekunden in ihrem unauf-hörlichen Vergehen als Mann und Frau, die hintereinander herlaufen, sich nie finden können, als eine Entzweiung zwischen Tod und Leben. Und die Opfer könnten sagen: die Zukunft sind wir, un-sere Welt und Lichtebene. Dauert die Absenz länger, könnt ihr sie nicht mehr als "Zeitfluß" überbrücken, und das ist der Tod, wenn euer Bewußtsein völlig abgekehrt ist von der materiellen Welt und nicht mehr Träger eines Erscheinungsbil-des sein kann.

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Können wir nun nach dem Ende einer Epoche auf eine in der Erfahrung noch unentdeckte Paradoxie hoffen, daß es eine Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die Ge-genwart ist, da die Vergangen-heit vor uns liegt und die Zu-kunft, die in der Gegenwart eingeschlossen war, hinter uns, wie Heiner Müller behauptet?
Daß wir noch nicht wirklich da sind, sondern nur in Zukunft wirklich sein wer-den? Daß jeder Augenblick nur ein kurzes Aufblitzen davon zeigt, der sofort wieder versinkt, daß er eingeholt wird vom Hasten, dem Unfertigen der Sekun-den, ja, daß dieses sowohl in der Theologie, als auch in der Physik heute das eigentlich tiefste Problem der Hoffnung auf Fortleben nach dem Tode sein könnte, weil alles noch im Kommen und unvollendet ist? Hier treffen sich Quantenphysik und Bibel mit Ernst Blochs Ahnungen.

Was auszuführen wäre, das ist/ ein weißer Fleck, und steht/auf einem andern Blatt,// unfertig, wie das Leben ist,/damit es sei (Cappella Sistina. Kopie, in: Landsehn", Galrev 1997)

Das dritte Kapitel im zweiten Buch Mose, Exodus genannt, gibt eine sehr schöne Erklärung dazu: dort fragt Moses, Verfasser und Hauptfigur in einem, Gott nach dem Namen. Die Antwort lautet: "Ich bin, der ich bin." Doch läßt sich dieses "Ehyeh Asher Ehyeh" genauer als reiner Widerspruch erkennen und in eine seltsame Möglichkeits-Form übersetzen: ICH BIN, DER ICH SEIN WERDE, oder: ICH WERDE SEIN, WO ICH SEIN WERDE. Er, der Unfaß-bare, Undenkbare, ist also Beherrscher der Zukunft, ein "End- und Omega-Gott", der für uns noch nicht – oder nur im Negativfilm, im Negieren - da ist, weil unser Denken uns von ihm trennt! Und wir uns gegen es wenden müßten, um dem Schmerz des Fehlenden näher zu sein!

7
Unser Elend und die beim Formulieren und Denken auftretenden Paradoxien rühren vom Zerschneiden der Erscheinungen, also den "Trennungen" von Dingen und Erscheinungen, die eigentlich zusammenge-hören her; so etwa wie Leben und Tod zusammengehören! Wie Vergangenheit, Gegenwart und Zu-kunft zusammengehören, gleichzeitig sind!

Die schlimmsten Verhee-run-gen richten die Trennungen aber in der Geschichte an. Wunderbar hat dieses Alexander Kluge auf den Punkt gebracht: "Wenn das Leben sich nicht für die Wirklichkeit interessiert, ist Wirklichkeitsliebe nur von den Toten zu erwarten" (Neue Geschichten, 1977). Weil die Toten, die Opfer vor allem, diese Trennungen überwunden haben, die Absurdes, Unlösbares, ja, Tod erzeugen. Die Lebenden kommen immer zu spät, weil die notwendigen Verbindungen zum richtigen Zeitpunkt nicht hergestellt werden oder (wegen der falsch gelenkten Abläufe - mit tödlichem Ausgang - ) meist nicht hergestellt werden können: " ... es ist durchaus unpraktisch, wenn die Erschütterung deutscher Familien, die im Jahre 1942 etwas Wichtiges für die Opfer in Auschwitz bedeutet hätte, im Jahre 1979 nachgeholt wird; denn heute ist es eine im wesentlichen unbrauchbare, nämlich zeitlose Form der Erschütterung."

Es gibt keine Wieder-gutmachung. Die "Veränderung der Vergangenheit" ist eine komplexe ja, eine enorme Aufgabe nicht "für" die Zukunft, sondern eine Aufgabe "der" Zukunft - und zwar jetzt, im gegenwärtigen Augenblick - daß ein ganz anderes, höheres Bewußtsein und Können dazu nötig wäre - wir in unserer linearen Zeit daran zerbrechen müßten, leuchtet ein. Nötig wäre prak-tisch die Aufhebung der Zeit in parallelen Ebenen, was gegenwärtig im menschlichen Bereich hypothetisch nur die theoretische Physik – die Gren-zwissenschaften, die Literatur und das Erinnerungsvermögen ermöglichen! Die Konsequenz wäre: das schuldhafte, vertane Leben zurückzuholen, indem eine radikale Veränderung der bisherigen Lebensweise, die auf lineare Zeit aufge-baut ist, stattfindet, die jederzeit die gleichen Greuel auf der Körperebene möglich macht, wie sie auch gegenwärtig (1999) vor unseren Augen gesche-hen!

Doch alles, was diese Körperwelt überschreitet, wird mit einem Tabu belegt; und die Mehrheit sieht nicht nur Lyrik als unsinnig an, sondern alles, was nicht mit den Händen greifbar ist; die Mehrheit geht den Verführern begeistert auf den Leim, die erklären, daß die mentale Persona nicht existiert, und die Be-wußt-seinsvorgänge nichts als neuronale Stoffwechselvorgänge seien, das Ich und das Selbst aber ihr Nebenprodukt, und also mit dem Tode verschwinden müßten.

So erscheint der Einzelne als sinnloses Tier, und das Endspiel-Todes-bewußtsein im Leben, Absence aus der eigenen Existenz geht um, das Dow-nerprogramm, so wird in diesen Niederungen jeder manipulierbar, die totale Tristesse macht alle frei verfügbar, man kann einen Pseudosinn anbieten, das Lustprinzip und uniformierte Heere von Konsumenten schaffen. Für Wenige bedeutet das unermesslichen Reichtum, für einige Wohlstand, für viele Armut, für alle aber letztlich und auf lange Sicht seelisches und körperliches Siechtum.

Doch: Port Bou: der Erschossene/ läuft noch immer, und er/ kennt noch im-mer keinen Tod, / ein Nein nur// er lebt// Anderswo/ unvorgestellter Himmel// anders// als nur ein Mahnmal/ mit Geisterhänden nachts,/dieses große// "Zu Spät"// ... (Für Walter Benjamin und das Berliner Mahnmal).

Im Begrenzten, Abgetrennten, gar Nur-Sichtbaren gibt es keine Auswege oder Lösungen. Heiner Müller formulierte es in seinem "Glücksgott" so: "Stehende Figuren (Götter, Denkmäler, Typen) sind als Katalysatoren brauchbar, wenn Erfahrung die Geschichte überholt hat ... wenn die Chancen vertan sind, be-ginnt, was Entwurf neuer Welt war, anders neu: als Dialog mit den Toten".

Im Grunde genommen hieße es, daß wir so nicht weiter leben können, wie wir bisher gelebt haben. Und dies wäre die einzig richtige Antwort!

8

Da und zugleich Nicht-da-Sein in einem merkwürdigen Ungleich und Zu-gleich. Gegenwart ist also nie. Heimat ein Niemals, und so auch der Zeitfluß Illusion. Glücklich ist, wer daran Abschiedsfähigkeit lernen kann.
Schreiben geschieht an dieser Grenze des Todesbewußtseins in einer merkwür-digen Geborgenheit und Absence, wo etwas Wesentliches, Intimes fest-gehalten werden kann!

Beim Schreiben nämlich geschieht das Zusammensetzen der BILDER in einem umge-kehrten Prozeß, und das ist die Möglichkeit einer überrealen Probehand-lung vor allem im Gedicht, die das Unzertrennte, Unzerschnittene wieder-bringt; nicht der Zeitverlauf, sondern die aufblitzenden Sequenzen sind zu-erst da. Und in einem Aufblitzen und Einleuchten ziehen sie sich je nach Verwandt-schaft und Sinn-Nähe an; das schafft höhere Lust, ist also ein gefühlter Wahr-heitsbeweis. Und schafft einen andern Zeitverlauf, der kein Bruch mehr ist, keine quälende Unverein-barkeit, sondern fiktiv ist, wie Einfälle und Intuitio-nen, die aus einem Bereich an der Grenze unserer Vorstellung kommen. Eine Übung, um etwas zu erreichen, was es nicht gegeben hätte, aber sein könnte, eine Menschenmöglichkeit, die verloren ge-gangen wäre, hätte sich hier nicht der Ein-fall den Weg in unsere Verständniswelt gebahnt; der Ein-Fall ist also wie ein Fakt, wie eine Stimme aus einer an-dern Welt, womöglich aus einer zu-künftigen, postmortalen Welt, wo es diese Trennungen nicht mehr gibt.

TUNNELEFFEKT. Teilchen in der Realität, wie auch Sprachteilchen im Kopf sind nie genau auszumachen, Nie an einem bestimmten Ort, zeit-verschoben, niemand kann sie festlegen nach vorgefasster Logik, denn sie haben auch "jen-seits der Barriere eine gewisse Aufenthaltswahrscheinlichkeit." Und das schön-ste daran sind die völlig unlogischen Überraschungseffekte, im Fragment, im Denkbild, im Gedicht, - es scheint, als seien sie nun auch mitten in der Reali-tät anzutreffen und in der Geschichte: ein noch unerkanntes Prinzip der Bewe-gung, wir aber mitten im Tunnel.

Wie aber trägt und erträgt der traditionelle Satz, der an eine traditionelle Logik gebunden ist, diese Erfahrungen? Man muß die Gedichte als annähernde "Übersetzungen" ansehen, wo im Satz Erfahrungen dieser Art widerhallen. Ei-ne neue Lyriksprache müßte geschaffen werden, die experimentelle Lyrik etwa die Pastiors, "umkehrt", umstülpt wie einen Handschuh, durch wirkliche Grenz-Erfahrungen ersetzt, die in jener am Formalen hängenden, spieleri-schen Sprach-umgebung meist fehlen.

Meine Ansätze in diesem Band sind eher anekdotisch auflösend und das Un-sagbare umkreisend mit der "normalen Sprache":

Auf dem Foto/ war nichts zu sehen./ Und auch das Zeichen verheilte/ leider zu schnell./ Überhaupt keine Kontur,/ kein transzendentales Souvenir./ Der Film aber, milchig weiß,/ war überbelichtet.// Schallend lachten die Leute,/ die da nichts sahen./ Foto-Ironie, sagte ich./ Ja, - auch die Netzhaut/ müßte dies ler-nen. (Flug nach Haiti).

Ellipse, Interlinearversion, Metapher, Allegorie und Hinweis. Intuition, Ah-nung, "Traumerinnerung" der Angst- und Todeserfahrung, die durchaus die Sprachgrenze überschreitet, wie die Mathematik und die Musik, sind die besten Instrumente dieses Meta-Klanges.

Ein "Ereignis" also wird im lyrischen Geschehen umkreist, denn durch welche Zeit des Verbums läßt sich dieses Bewußtsein ausdrücken? -

Das hypnotische System/ löst sich langsam auf ...// Die Sonne auch wie das kleinste Herz*/ das Loch um uns/ im Auge läßt die Welt sich sehn/ und blinde Punkte blinkt sie uns zu. (Das hypnotische System...)

Vielleicht ist dieser quälende Todes-Zustand der gegenwärtigen Welt sogar ein Augenblick der Wahrheit ge-gen die Sprache! Es wird als Zwiespalt empfun-den, daß alles noch da ist und schon längst vergan-gen, ein Aufbrechen unserer Logik, von der auch die Sprache bestimmt ist?! Was wir sehen, das äußere Au-genbild macht alles so alt und zwiespältig, denn das Andere, der Tod steht fest, daß wir hier einmal als Gast gewesen sein werden, er ist schon in uns:

Steh still und atme noch// Ein Augen Blick war ganz bei ihnen/ kehrt jetzt zu-rück ich staune wieder/ daß ich noch bin. (Der Augenblick bricht auf ).

Die scheinhafte Identität unseres Ich wird durchbrochen in parallele Zustände aufge-löst, die nicht im Vorurteilsraster unseres Zeit-Raum-Kausalität-Denkens aufgehen:

"Ich bin nicht ich.
Ich bin jener,
der mich begleitet und den ich nicht sehe,
den ich manchmal besuche ... " ( Juan Ramon Jimenez)

Der Autor, das Ich oder die "Iche" werden in der neuen Lyrik aufgelöst, abge-schafft. Die Subjekte werden Opfer übergreifender Konstellationen neuer Sin-neinheiten der Berührung, die die Wort-Höfe und "wirklichen" Augenblicke bieten. Das Opfer er-weist sich als Geschenk und als Schlüssel für den Lebens-verlust in diesem Gericht.
... du bist bei uns/ komm sei uns näher/ als dir bewußt. (Und hör die Stimme nur im Wort).

Und ich vermute, daß dieser Zustand, wo das wirkliche wie das lyrische Ich nicht weiß, ob es lebt oder tot ist, heute generell als wichtigster ästhetischer Ort angesehen werden muß, als Apriori jedes Gedichtes (Wir sind so nah daß du/ uns gar nicht sehen kannst), Apriori aber auch jedes anderen Textes, der ge-genwärtig ernst genommen werden kann! Das "EINE" - auch im Spiegel der Sprache - wird nämlich erst im Gedicht als Spiegel des neuen Wandlers ande-rer Ebenen von Existenz konkret sichtbar; es wird sinnlich faßbar, was nicht schilderbar war und nur intuitiv wirklich ist (wir sind in jedem Gras Halm/ den du siehst/ es ist dein Blick der ihn erschafft/ im Finger der bewegt/ und uns er-schafft), und erhält über dieses Medium des lyrischen Ichs eine faßbare Ge-stalt.

Eine Übersetzung unserer eigenen Absenz im historisch Späten, das Gefühl, daß wir Abwesende und Posthume sind, ist heute das Grundgefühl nicht nur meines Ge-dichts. Ein Prozeß, der schon 1950 mit Becketts "Molloy" in der Li-teratur be-gann.

Das Ich ist im Zeit-Ent-zug angekommen. Mit dem Wissen des "zu Gast-Gewe-sen- Sein-Werdens" (Celan), mit dem wir heute leben, wissend, daß unser Zeitbewußtsein ange-lernt und Projektion ist, läßt sich die von vielen noch geglaubte "Wirklichkeit", nicht darstellen, nur „aufheben“! Erzählen aus jener andern "Zeit-Ebene", wo Zeit aufgelöst ist, kann in unserer Sprache nur durch Interlinear-version oder metaphorisch eingesezt werden, Erzählen ist unmöglich, da weder die Subjekte noch die Sprache Lebens-Erfahrung mit jener anderen Ebene haben können, es ist dies nur möglich mit der Todes-Erfahrung, die noch keiner hier, ohne Rekurs auf das Unter-bewußtsein, haben kann, aber täglich im "kleinen Tod", also im Abgrund zwi-schen den vergehenden Sekunden erlebt. Das hier-gebliebene Bewußtsein der Perso-nen aber erlebt es in seinen Abgründen sublim, intuitiv, als Traum-Ebene - in je-nem Grenzraum, der durchgehend Lebende und Tote, die nie getrennt sind oder waren, im "Unbewußten" vereint, so daß auch die Beziehung Personen-Erzähler--Ich und lyri-sches Ich - reales Ich überhaupt möglich wird!

Der Herr der Welt bedrängt mich arg,
will aus dem Namen, der den Kopf
mir unentwegt beengt, doch was der Sprache
fehlt, gehört zu ihr, das Fehlen, DU, und
ICH entferne mich aus dem Kontext, dies
mein Gedicht das Fahrzeug JETZT euch
zu erreichen; bin müde, müde dieses
Herren, du bist nur in ihm noch
zu haben, doch hält er mich gefangen:

Druck Seiten schwarze kleine Augen,
nicht du, da liegt der Fehler, nicht des
Fehlens, das antreibt wie das Herz.
So schrei ich nachts den Namen, meinen
deinen an die leere Wand, schief hängt
daran dein Bild und Seines, das Loch
zu dir ein Fehler, und schuld und nichtschuld
an dem Winkel ist
die Müdigkeit der Welt.
(Petrarca in: Landsehn, Galrev 1997)

Es ist in unserer gespaltenen Welt insoweit ein "Regressus", als es dieses Be-wußtsein der Einheit tatsächlich einmal gegeben hatte, das heute aber unmög-lich scheint, ver-spottet wird, jedoch im "zeitlosen" Unbewußten bei allen Le-benden auch heute noch vorhanden ist. Daraus entsteht die typische Bewußt-seins-spaltung aller, die Freud einmal "Urteilsstreit" genannt hatte!

9
Alltagswissen - dieser flache Umgang mit dem Leben, wird als wichtigste und ern-steste Sache der Welt von allen akzeptiert, das Resultat: daß jeder anstatt Sekunden der wahren Empfindung und der Dichte, des Glücks zu leben, dieses täglich bis zum Tode versäumt. So wird jeder Moment, der uns selbst und je-nem Zwischen-raum, der schon an jenes Tor der anderen Zone klopft, gehören müßte, versäumt. Und der uns umgebende Reichtum der Welt wird kaum wahrgenommen!

Daß er sich hinzieht ein Tag in den andern .../ Die Zeit aber ein Trost/ als käm etwas nach/ und es käme an/ was uns fehlte// Doch wenn sich einmal das Blatt/ wendet und sich vielleicht/ unser Blick/ verändert/ hat uns die Trösterin Zeit/ längst erschlagen// was immer schon fehlte/ hat uns erreicht. (Daß er sich hin-zieht...).

Uns sind heute die alten Sinne be-sonders geschärft, und wir spüren, daß alles noch da ist und doch schon längst ver-gangen; ich sehe die Reben hier in mei-nem Garten, das Meer, und bin er-schroc-ken, als wäre ich ein Phantom, nein, die Landschaft ist es, sie ist "übriggeblieben". Ich aber bin es nicht. Und am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf. Unerlaubt scheint das wirkliche Weinlaub. Und dann schreibe ich als Antwort diesen Satz auf, die Finger springen über die Tastatur, unter der Haut schon die späteren Knochenfin-ger meines Skeletts.

Heute wird in Westeuropa keiner mehr physisch hingerichtet, wie Giordano Bruno. Heute werden ausnahmslos alle "von Anfang an hingerichtet", das heißt, es wäre kein Leben mehr möglich, sondern nur ein Zwischenreich der Phantome, würden sich nicht diese tieferen Lebenskräfte in Milliarden von Menschen täglich wehren, täglich neu auferstehen, und jenen tödlichen Belag, der auf der Welt liegt, immer wieder weg-leben! Heute ist jeder von Anfang an gescheitert, doch jeder wehrt sich dagegen, daß ihm die Sehnsucht, die Liebe genommen wird, zumindest tut er es klammheimlich! Und geht in seinen Träumen jede Nacht mit dem Erlebnis von Liebe und Tod um, fliegt und er-fährt alles wieder an einem Quell, der nicht versiegen kann. Jeder müßte in die-ser Umgebungslosigkeit noch drastischer scheitern, ja, dieser Unterwelt erlie-gen, die erst das ganze Ausmaß der sinnlichen Katastrophe zeigt, gäbe es jene Kräfte in uns, Traum, Sehnsucht, Liebe, Erotik, Phantasie nicht, die uns diese greisenhafte Mattscheibenwelt entziehen will!!

Ausgangspunkt dieser Gedichte ist die hoffnungsvolle Einsicht, daß alles Sichtbare Geist ist, der nicht als Geist erscheint.

Was uns heute schon umgibt, ist eine immaterielle Welt an einer unvor-stellbaren Grenze. Unsere Umgebung ist bestimmt von lichtschnellen Geräten und Apparaten; diese beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedanken-blitze", Inspiratio-nen und Einfälle wie in der Kunst: Das Nicht-Ma-terielle, das "Geistige" be-stimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale Prozesse ma-chen mit einer durch-schlagenden Evidenz Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathe-matische Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Natur-gesetze offenbar werden, wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und die Gesellschaft. Aber die Menschen der Gegenwart bewegen sich und handeln in dieser neuen im-materiellen Umgebung weiter so, als wäre es im-mer noch die alte Körperwelt.

Die neue, eine Art gefährliche ontologische Grenze zu einer schon längst ange-brochenen Zukunft, wird noch schärfer bewacht als die frühere politische Grenze mit Fahnen, Wachtürmen und Gewehren. Rufmord und die Seelenpoli-zei Psychiatrie sind heute ihre Zensoren, Agenten und Bewacher, und die Angst vor Tabuverletzung, die unbewußt jeden einzelnen bestimmt, wie früher die innere politische Zensur in den Diktaturen.

Es ist zweimal radikaler WIDERSTAND, der Hoffnung gibt! Heute ist dieser Widerstand passiv, beginnt damit, jene Traurigkeit aktiv werden zu lassen, von der Benjamin sprach, daß nämlich die Mehrheit mit den Siegern mitheult. In Zeiten, da die Dinge noch klar waren, noch "Wirklichkeit" existierte, endete der Autor eingemauert in einer wirklichen Zelle. Heute aber ist der Widerstand on-to-logi-sch, das heißt vor allem poetisch, denn die stärkste Macht jener Matt-scheibenwelt und ihres Raubbaus an Natur und Seele ist der menschenver-nichtende Irrglaube, daß das Sicht-bare "alles", der Tod ein endgültiges "materi-elles" Aus sei. Und das stärkste Tabu, von der Psychiatrie bewacht, der Einsatz für das neue fällige Paradigma, wo die Grenze zwischen Leben und Tod aufge-hoben ist, die raumzeitliche materielle Welt sich als Illusion erweist, wird nur im Traum, in der Imagination, in der Sehnsucht, ja, in der Liebe und auch in der Erotik, in ihren Ekstasen, gebrochen:


Wo ist der scharfe Tanz im Geruch des endgültigen Heimwehs wo
die andere bessere Träne (lacrimae Christi) als wär sie mein Fahrzeug?
Über deine haarige Höhle hinaus in den Himmel der schreienden Lust
nicht zu verglühen kalt sein vor koitaler Wiederholung
den Tod vergessen als gäb es ihn nicht mehr in dieser Gestalt
Glanz des Jenseits sagtest Du damals in uns ist der Tote der reist
und aufersteht mit jedem stärkeren Stoß. (Poesia erotica)

Ekstasen in der Liebe – in Diktaten der Kunst und Poesie, in grenzüberschrei-tenden Praktiken von Medien und Meditierenden. Und in numinosen Zustän-den von dazu Begabten, bei allen aber im Traum und in Zuständen der Gefahr zwischen Leben und Tod ist jenes tremendum des Numinosen da.

Am meisten hatte mich bei meinem Weltwechsel von Ost nach West schok-kiert, daß im Westen alles "so ist, wie es ist", ein Baum, nichts als ein Baum, ein Mensch nichts als ein Passant, ein Funktionsträger, eine Trivialität. Was mich immer stark berührt hat: es heißt, Sylvia Plath habe aus diesem Grund Selbstmord begangen. Die Ent-fremdung ist total, ist ontologisch geworden, so ist auch die Revolution nur als radi-kale möglich: als ein Durchbrechen durch Zeit und Raum, im Einlösen und Spielen der kommenden Partitur von Über-lichtgeschwindigkeiten und mentalen Konzerten.

Das Gedicht verwendet in diesem Spiegel der Revolte, die in der Sprache und weniger in den traditionellen Vers- und Gedichtformen, gespeicherten Kräfte und apperzeptiven Sonden, um jene Zone schon jetzt probehandelnd zu errei-chen.

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Nahtoderlebnisse (also eine Rückkehr aus einem Koma im klinischen Tod) sind durch die Intensiv-Medizin heute möglich und für die Menschheit wichtig geworden: wie im Tibetanischen, im Ägyptischen Totenbuch, wie im Toten-buch der Mayas, wie bei Dante tritt dabei eine Panoramaschau ein, wo das gan-ze Leben im Sterbeprozeß noch einmal wie ein Gerichtstag im Bewußtseins-spiegel des Sterbenden vorbeizieht; und das alles in einer zeitlosen Geschwin-digkeit.

Für den Schreiber dieser Zeilen wird dieses Gericht (mit Materialien aus dem eignen Erleben und dem von Freunden und Verwandten) als dynamische Handlung wie in einem unbe-wußten Diktat auch als eigener Text sichtbar und im Zwischenraum der Metaphern erkennbar; möglicherweise wie ein mediales Diktat oder das Auftauchen eines vergessenen und im Unbewußten gespei-cherten Erlebnisses im Satz!

Die Poesie hat dazu seltsame simultane Möglichkeiten: Eine höhere Stufe, die zur Über-Sicht führt, - In-Eins-Bindung und Über-schneidung von vielen Le-bensperspektiven, bis ins Grenzenlose, besorgt das riesige Gedächtnis der Sprache mit ihren apperzeptiven und apriorischen Formen, um das Eine, den Einen in immer reicheren Spiralen zu umkreisen, es jedoch nie ganz zu errei-chen, da „er“ (Sinn, Nichts, Tao, Gott – alles ohnmächtige Wort-Annäher-ungen!) unaussprechbar ist, das Namenlose, das alles erst möglich macht, auch uns und die Namen, nur dann da ist, wenn wir uns und die Namen löschen!

Auch gibt es einen erlaubten Trick, nämlich die Unsterblichkeit der Personal-prono-mina der Sprache, die das Bewußtsein tragen, sich weiter erinnern zu las-sen, als die Grenze einer individuellen Lebenszeit oder die unseres historischen Bewußtseins-Horizontes es eigentlich erlauben. Dieser Horizont ist, wie wir gesehen haben, an seine Grenze gekommen, die übersprungen werden muß, um jene Partitur, die heute schon bruchstückhaft "eingegeben" wird, in reiner ek-statischer Inspiration, richtig zu spielen. So wird die Offenheit der Zukunft in die geschlossene, scheinbar abgeschlos-sene Vergangenheit, eingeführt, und das bittere Fazit und Urteil ist: daß wir uns selbst dieses Leben geraubt haben, weil wir es uns haben rauben lassen. ("Doch weine nicht, wir kommen alle wieder" - zumindest im Gedicht!)

Bei den gleichaltrigen, älteren oder gar bei den jüngeren deutschen Kollegen stößt solch eine Poiesis und Poetik auf Unverständnis, ja Ratlosigkit, obwohl diese Poetik zur großen Tradition der Poesie gehört; nicht etwa nur der deut-schen Romantik, Klassik und bis 1968 (bei Paul Celan besonders ausgeprägt) – sondern es sind weltliterarische Überlebenszeichen (bis hin zu Dante und Pe-trarca oder Shakespare!), die sich in diesen Räumen bewegen! So kam etwa beim Gespräch zwischen Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Wa-terhouse (in „Die Schweizer Korrekur“, Hrsg. Urs Engler, 1994), zu Grünbeins schön formulierten Gedanken-Gängen dazu, daß „im Paßgang von Denken und Andenken ... sich das lyrische Sprechen eine Gegenwart jenseits des Todes und diesseits der historisch verhafteten Zeit“ schaffe, daß darin die „anthropo-logische Dimension der Dichtung“, jetzt liege, „ die man vielleicht erst heute erkennt, im Moment der Synthese verschiedener Denkformen und nach dem Heimgang der Philosophie;“ daß sich erst in der Dichtung „die ältester Emp-findung mit dem jüngsten Einfall ... in einem Akt blitzartiger Imagination“ tref-fe, - bei Oleschinski außer einem „mhmm...“ nur eine weiße leere Seite steht, und bei Waterhouse nichts als das Wort „ kein Meta-Ort“. Und bei Grünbeins Bemerkung, daß sich in den „verdichteten Bildern ... die Vorstellung des Ein-zelnen synchronisiert mit der Weltwahrnehmung aller – solange es Überliefe-rung gibt.“ Die es gar nicht mehr geben darf? Denn zur treffenden und tiefen, einer zum Grunde gehenden Passage Grünbeins, die das Zugrundegehen unse-rer Welt mit in sich enthält, ja erklärt, daß nämlich „jenseits der protokollari-schen Einzelheiten eines Menschenlebens und über alle Stilepochen und Kunst-idale hinweg“ „das Gedichtwort Verbindung zu den Gedächtnisgründen, den im Erdreich versunkenen Zivilisationen, den allgegenwärtigen Toten“ hal-te! Fällt Oleschinski nichts und Waterhouse nichts als die flache Bemerkung: es sei ja das alles „nur ein Bestandteil dieses Lebens“ ein !(?) Nämlich genau an jener Stelle, wo Grünbein die entscheidende Frage stellt: „Woher sonst rüh-ren alle die vielen Déjà-vu-Momente, die endogenen Symbole und Leitmotive, die soetwas wie eine anthropologische Blickweise überhaupt erst ermögli-chen?“

Und hör die Stimme nur im Wort/ die jetzt beginnt: du bist bei uns/komm sei uns näher/ als dir bewußt.

... steh still und atme noch// Ein Augen Blick war ganz bei ihnen/ kehrt jetzt zurück ich staune wieder/ daß ich noch bin.

Spanisch? Ja, das erinnert mich an die Giralda in Sevilla, als wäre mir und andern jetzt alles spanisch. Das Leben ein unbeschreiblicher Traum? Vor Jah-ren auf einer Spanienreise in Sevilla, da gab es an jenem Tag ein katholisches Fest, überall Kitsch, Tribünen, heilige Bilder, Fahnen. Wirklich blieb nur die gotische Kathedrale mit dem neunzig Meter hohen Turm, der Giralda. Eine Palme, ein Augenbild vor mir, doch irgend etwas hatte mein Bewußtsein auf-gebrochen und dieses fächerte schmerzhaft weißes Licht auf die Plaza de la Falanga Española. Es war "stehengeblieben", ich absent hier, und als ich "auf-wachte", war das Außenbild schon "weitergerückt", ich kam nicht nach. Ich dachte durchzudrehen und rannte davon, in einer Osteria stürzte ich mehrere Glas Rotwein hinunter, um meine Angst zu betäuben.

Euer Bewußtsein ist wie ein Glühwürmchen, aufleuchtend, einen Augenblick bewußt also bei euch (auf der Erde), dann aber wieder bei euch absent und so für einen Au-genblick eben hier (bei uns den Toten), ihr sterbt in jeder Sekunde und werdet dann wieder geboren, ohne daß ihr es wirklich merkt.

Die unsichtbare innere Form einer bestimmten Art von Gedicht, die ich bevor-zuge, geht von diesem Noch-Nicht (dem sekündlichen Tod im Zeitvergehen) aus, das aber schon da ist. Darauf baut eine sich selbst aufhebende Ring-konstruktion; diese arbeitet mit Abaelards SIC ET NON; Passage für Passage wird das Gesagte, das ja schon da ist, zurückgenommen, um das Kommende möglich zu machen, so frißt sich das Gedicht selbst auf, und damit auch den Namen als Handelnden. Im besten Fall berührt diese Form die negative My-stik: Jener Name wird gelöscht, der die Welt, in der jüdischen Überlieferung als Baum vorgestellt, durch Sprechen erschaffen hat ( "Im Anfang war das Wort").



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Wahr bleiben nur solche Sekundenbilder, mit Sprache zusammengesetzt wie Fotos im Labor, vergrößert, verkleinert, Momentaufnahmen, Ausschnitte, Vorder- und Hintergrün-de herauspräpariert und vertauscht in Großaufnahmen, wo das ganze Gedicht dann wie eine strukturelle Metapher wirkt! Auch eine Umkehr der Bilder oder Schnitte von innen kann es geben, die zum Sinn füh-ren. Und dann wer-den sie auch noch mit dem Gefühl und Formgefühl des lyri-schen Ich retouchiert, als wären sie nur Schablonen.

Alle diese Momentaufnahmen werden in günstigen Augenblicken zu Gedich-ten, Ge-dichtteilen, Versen; bei schwächeren Intensitätsgraden zum Tagebuch, Gedankenbild oder zur Prosa.

Aber: was sind diese Momentaufnahmen, was ist das JETZT der Augen-Blicke? Darum geht es. Dieses Jetzt der Lebensmomente, nun so, ins Unendli-che verlängert, ist unheimlich, aus dem Namen gefallen, aber im unausdrück-baren EINEN, im In-formationsnetz der Beziehungen aufgehoben, es blitzt und leuchtet ein, drückt – wenn auch oft ironisch gebrochen - ein Glücksgefühl aus, nachzulesen etwas im Gedicht „du weißt es noch nicht?“:

Sie aber im zusammengefalteten Raum
ALIENS Astral Flug
gedankengleich wirklich

Milliarden Lichtjahre in einem einzigen Blitz


Doch nicht nur das Ich löst sich dabei auf, wird Aufgabe in der ironischen UFO-Metapher, in andern Gedichten im Strom der Meditation, dem indischen oder tibetischen Dharma, der christlichen Meditation, sondern die starre Ästhe-tik und das frustrierende Gesellschaftsden-ken, Beute der Sieger, löst sich eben-falls in Wohlgefallen auf, entfernt sich; wie die Zeit stehenblieb, so soll auch der Verstand, sollen die Sinne stehenbleiben im Unheimlichen, und sei es in furchtbaren Momenten des bewußtgewordenen Abschie-des, des Todes, ein Bewußtsein, das bis zu Furcht und Zittern in einer plastischen Szene des eige-nen Todes oder des Eingesperrtseins im eigenen Körper vorgestellt und erlebt werden, aus dem es nur ein Entkommen gibt: - der Flucht ins endgültige Ende dieses Lichtes.
In meinem Tagebuch hatte ich solch eine Erfahrung festgehalten, die mich nicht mehr losläßt und zu meinen Schlüsselerlebnissen gehört:

In der Nacht dann Portovenere, ich lag halbnackt in der Bootskabine neben Hannah, da hatte ich wi-eder die Zwangsvorstellung, nicht aus mei-nem Körper herauszu-kön-nen, in ihm einge-sperrt zu sein, wie je-der Baum, wie die Erschossenen an der Mauer, die Gehenkten, aber auch wie wir alle, wie Hannah, wie unser kleiner schwarzer Hund; es ist jedesmal entsetzlich, als stehe eine Hinrichtung bevor. Ein Bekann-ter aus Pistoia leidet darunter, daß er im Körper fest-sitzt, und hat mich schon vor Jahren auf diesen tödlichen Gedanken gebracht; seither werde ich ihn nicht mehr los. Was ist schlimmer, diese Fleischzelle oder der Tod: - als Befrei-ung? Wir könnten nicht leben, wür-den wir dieses Bewußt-sein, im Fleisch unentrinn-bar einge-mauert zu sein, nicht dauernd vergessen. Wenn alles wie bei Geisteskranken unheim-lich und unbekannt wird, Namen nicht mehr schützen, alles aus seinen Namen fällt, so über-real ist wie namenlos Haut und Knochen. - Es ist ein verges-se-nes Wissen, daß wir ins Fleisch gefallen sind, anders-wohin gehören, und daß solche Angst-zustände uns näher ans Erwa-chen brin-gen.

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Ein Vergleich mit bisherigen "traditionellen" Zeiten ergibt aufschlußreiche Er-gebnis-se. Schon im Stilunterschied zeigt sich der Zeitunterschied; früher gab es noch Reali-tät und Natur, daher konnte auch sinnlich gelebt und geschrieben werden. Im schar-fen Kontrast dazu steht die heutige Umgebungslosigkeit, da-mit Verlust auch des Sinnlichen und Narrativen. Doch noch ist Nichts verlo-ren, nur nach innen verlegt und auf die Spitze getrieben, anstrengender gewor-den: wundgewordenes angeschärftes Bewußtsein tiefster Eigenheit bis zum isolierten Dasein, das an die Grenze des Wahnsinns und des Todes reicht! Wer es aushält und die gebotenen Entlastungen medialer und Konsum-Blödheit des frei Haus gelieferten allgemeinen Scheins als Leben meiden kann, kann zur nackten Wahrheit finden, zur Auflösung des Verblödend- Bekannten ins Nu-minose kommen, falls er die Angst überwindet, sich selbst kurz und voller Schrecken begegnen!!

(Solch ein Traum- und Nah-Toderlebnis als „Strukturerlebnis“ wäre nachzule-sen im Text, der von solch einem Erlebnis ausgeht: Mein Körper löst sich vom Denken, tut nicht mehr weh, ich kann mühelos aufstehen, öffne die Tür zum Garten, gleite hinaus fliege. Flüssi-ges Feuer auf den Stuhl fällt durch den Oli-ven-baum Licht und Schatten flüssi-ges weißes Feuer wie bei Van Gogs "Stuhl" schlagen daraus Flammen und er-starre alles geschält aus dem Namen durchsichtig schwingts, schwe-re Au-genlider... (S. )


Die doppelte Brechung - lyrisches Ich, auf einer Ebene mit einem höheren Komplexitätsgrad (Ein-Fall, Eingebung, Traum, Todesgefühle, Schreckerleb-nis, Visionen, also grenzüberschreitende Metaerlebnisse) - und das „Normale“ mit seinem empirischen und Alltags- Bewußtsein ist im Gedicht ein uner-schöpflicher Inspiratiosquell. Das geht bis zum Risiko des „Spinnens“ – sogar vom eigenen Realitätsgefühl her gesehen! Karl Heinz Bohrer hat es das Erleb-nis des Schocks und der „Plötzlichkeit“ genannt.

Es ist das Summen des Schock, wie er bei Krankheit, Tod, bei einem Unfall, in Kriegserlebnissen, aber auch im Schrecken der Diktaturen, bei Verfolgung, Verhaftung, Folter erlebt werden kann. Mein stärkstes Erlebnis der „Plötzlich-keit“, des aus der „Sukzession“ der gewohnten Zeit Herausgerissenwerdens war bei den ersten Verhaftungen und Verhören in der Stalin-Zeit. Erstaunli-cherweise ist es nicht in die Lyrik. sondern in meinen Roman „Vaterlandstage“ eingegangen: „Und diese Treppe ist eine andere Treppe als sonst Treppen sind, es ist eine elektrische Nerven-Treppe, deine Füße nackt (...) Es ist nichts mehr voraussehbar, es können die schlimmsten Dinge geschehen ... es ist die Unsi-cherheit, die dir den Boden entzieht, du wirst ein anderer, in diesen Stunden veränderst du dich, es kann nie mehr so sein wie früher. Jede gewohnte Geste ... SIE zerschlagen dir dieses unmittelbare Erleben chiffrierter Abstraktion ... du erhältst einen Schlag: es ist wie bei einer Todesnachricht.“ „Du wirst hin-eingestoßen in eine innere Welt, daraus bricht dort jenes scharfe Licht, du weißt, ein Strahl, der dich versehrt bis ins Mark, bricht mit der Angst hervor.“

Der Schockbegriff bei Walter Benjamin, bei Scholem, bei Celan zielt auf den Schrecken, das Unterbrechen der Gewohnheit, der Sukzession, auf den „innern Ruck“ eines „Außer-Sich-Seins“, wo der Schleier des Scheins, die Wand vor den Augen fällt!

Der in-nere Selbstbezug des Ich, der durchbrochen wird in der Äu-ßerlich-keit des täglichen Eigenkinos einer gewohnten Films von Außenwelt, die ja auch die eigne Person sich selbst zur Erscheinung werden läßt, zu nur noch schein-haften Identitäten, also eigentlich zu "Geistern", zu Phantomen macht, gilt hier nun nicht mehr auch für das "transzendentale Subjekt narrativer Synthesis", al-so für das Ich, den Abgrund des Einzelnen, wie das im Postmodern-Er-habenen definiert worden ist. Denn jener Einzelne, der das Tor, der in jenem Abgrund Verbin-dung zu einer Metaebene ist, kann als geistiges Wesen die "Mannigfaltigkeit der sukzessiven Zu-stände durch Synthese narrativer Apperzeption zu einer Einheit zusammenfassen", zu jener vorhin erwähnten großen unaussprechlichen Einheit - mit jenem Andern Blick, der nun erlebt, daß Zeit-Einteilung mit zur Projektion (also zum Schein) ge-hö-rt. Er erlebt so jene schöne, aber auch erschreckende „nackte Wahrheit“ den befreiten innern Sinn Kants (aus der Kritik der reinen Vernunft) als kaum ausdrückbaren Bewußtseins-Lebensprozeß, das von der Ein-bil-dungskraft oder dem reinen Selbstbezug des Ich vorausentworfene "Zugleich-sein", das insoweit viel-leicht ein "Regressus" (Kant) ist, als es dieses Bewußtsein der Einheit früher tatsächlich (und sehr viel unkomplizierter) einmal gegeben hatte, das aber auch im "zeitlosen" Unbewußten bei allen Lebenden heute noch vorhanden ist.

Seltener in der Prosa , meist in der Lyrik - wie in Träumen und der Meditation eben im seelischen Innenraum - möglich, bis zu jenem "Zugleichsein" und "in-neren Sinn" vorzudringen! auch wenn ein letztes Ereignis von gewohnter Welt, das Ende eines Lebens oder einer Kultur, noch nicht abgeschlossen sind; denn die wichtigste Perspektive des Gedichtes ist die Zeit aus dem Blickwinkel von Liebe und Tod zu "fühlen", zu sehen, wie ein Widerschein des Überstandenen und Überstehens - wie ein Bote aus einer uns erwartenden Zukunftswelt auf-scheint! Lyrik braucht nicht wie der Roman die angebliche "Wirklichkeit", um sich "entwickeln" zu können; und auch Hegels Eule der Minerva gilt für sie nicht. Der Augenschein ist für sie das Gewesene, Vergangene, Uner-hebliche; in der Prosa schafft dieses Bewußtsein nur der phantastische Roman und die Science fiction.

Ein Zeitparadoxon öffnet sich: wie kann z.B. im Schock, im Nahtoderlebnis, das meist zu einer Panoramaschau des eigenen Lebens wird, in dieser Panora-maschau zum Urteil und Gerichtstag über sich selbst führt, sprachlich erfaßt, solch eine sich auflösende Zeitperspektive mit überraschenden Momenten als Schock dargestellt werden? Jedes JETZT erhält dabei eine unendliche Per-spektive, alles öffnet sich bis ins Unheimliche. Denn es ist nicht so, daß das ly-rische Ich nun nichts mehr erlebt, es erlebt nur ganz anders: Zukunft der Ver-gangenheit im Prozeß. Also das Bewußtsein, schon einmal gelebt zu haben, und sich hier, auch im Gedicht, schon einmal selbst begegnet zu sein!

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Inzwischen hat sich sogar die Physik des Themas angenommen, so löst etwa der Amerikaner Frank Tipler in seiner "Physik der Unsterblichkeit" mathema-tisch ein, was er in der Einleitung behauptet: "Ich werde eine physikalische Begründung der Eschatologie - der Erforschung der letzten Zukunft - vorlegen; dabei gehe ich von der physikalischen Annahme aus, daß das Universum im-stande sein muß, Leben unbegrenzt aufrechtzuerhalten ... Ich habe einmal ein Nazi-Konzentrationslager besucht; dieses Erlebnis bestärkte mich in der Über-zeugung, daß es nichts Häßlicheres gibt, als Vernichtung." Und er geht auf Heisenberg zurück, der davon ausging, daß die Wahrheit "schön ist, ja, zur letzten Aussage gehört.“ "Es ist wahrscheinlicher, daß ein schönes Postulat wahr ist, als daß ein häßliches Postulat wahr ist" (Tipler).

Und kämen die Besucher und käme ein Mensch gar
mit dem Lichtbart und stotterte er wie in der Poesie
unpräzise das Schöne
nur auf diesem Blatt oder Schrift an der Grenze
als bekäme sie
neue Synthesis
als Kopf- und Herzoffenbarung:

Wenn etwas stimmt, sag: DAS IST SCHÖN!
Es kommt nicht mehr nur
im Herzen/ im Kopf hier an: sondern flugbereit
als die Kraft der Toten ...

Nichts ist getrennt, auch nicht die Physik von der Poetik oder diesem Augen-blick, den ich gerade erlebe, von mir oder von Tiplers Denken, gar von einem Regenschirm und meinem Computer, wie schon der Surrealismus wußte; auch heute geht eine notwendige Metapoesie vom Ungeteilten, Einen (dem Univer-sum als Ganzem) aus, aus dem niemand fallen kann. Wie es übrigens noch In-geborg Bachmann und Paul Celan oder Günter Eich wußten. (Heute geht - auch in der Lyrik, wie ein Gespenst - ein falscher Glaube an die Scheinwelt des Empirischen um!). Meiner Überzeugung nach aber, ist es notwendig, daß "HERRN COGITO" „der Kopf raucht" - ja:

(...) als er im Durchbruch endlich wieder
den Himmel sah,
da zählte er die Sterne seiner neuen Blitze. Und
als alles darin verbrannte, erkannte er,
wie er durchsichtig wurde und sich durchschaute.

Die heute so weitreichende Empirie verbrannte er im Hirn/ wie
in einer Müllverbrennungsanlage.

So rauchte tatsächlich sein Kopf
mit Erfolg. Und da diese Logik sich selbst aufdenkt,
und vergißt und den Kopf zerbricht, kann die Liebe
heraussteigen: vor allen Dingen. (Herrn Cogito rauchte der Kopf).


Bei Günter Eich finden wir dieses schöne Bekenntnis: "Wir wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt, die wir nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig: und ich muß annehmen, daß auch das Gehirn fragwür-dig ist. Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an der Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Daß der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd. Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen."

Jene ältere deutsche Lyrik war näher am harten Kern unseres Wissens, als die diffuse Gegenwartspoesie des Alltags heute, sie ging noch von der Ahnung aus, daß die Zukunft erst wirklich und wahr ist (auch reicher, angereicherter, wis-sender: ein "Meridian"!); nur der Tod (und die Entropie-Gesetze) scheinen uns einen Strich durch diese Rechnung zu machen; es ist der Augenschein der "Wirklichkeit", dem doch auch die Poeten heute so sehr vertrauen!

Doch: "... ich versuche, noch etwas zu schreiben, was anderswo hinzielt. Ich meine das Gedicht." Und: "Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben... In je-der gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt: Ich bin auf festem Boden." (Günter Eich).

Der Augenblick, das ständig Neu-Ankommende ist das Wirkliche, von dem wir aber nichts wissen können, keiner ist je in der nächsten Sekunde gewesen, und man sehe, wie schon die Grammatik den Wahnsinn verrät; sprachlos das Perfekt (in der nächsten Sekunde auch in Zukunft „gewesen“), anstatt des Fu-turs? Es gibt nichts Konkreteres, Beunruhigenderes, als dieses Realste der Zeit. Und es ist auch die "Bedingung der Möglichkeit" von Erfahrung. Gar nicht selbstverständlich ist es, was uns andauern geschieht, und es ist nicht von Menschen gemacht.

Alexander Kluge und Peter Weiss gehen als Filmer mit Sequenzen um. Bieten Querschnitte, keine erzählten Längsschnitte. Momente. Oft Schreckmomente, wie Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstandes" Géricaults "Fluß der Medu-sa". Ein Hadesbild der Überlebenden, die wir ja sind, ein Hadesbild, das die To-des-tiefe im Moment des Schreckens spiegelt, ein Schrei des Untergehenden wird im Moment des Todes sichtbar, es wird ihm klar, daß alles falsch war, quer zum historischen Prozeß. Es ist der unendliche, andauernde Moment des Entsetzens, der alle diese Momente der bisherigen Geschichte zusammenfasst. Zeit anhält, wie das Summen in einem Todesmoment.

DIE SEQUENZ, der scharfe Filmschnitt sozusagen ist auch das Prinzip des Denkbildes und Fragments, und wie im Gedicht die Beweislosigkeit, wie ein Traum, der keiner Begründung bedarf. Kurze schnelle Querschnitte, wo alles unwichtige fortfällt, und wo die Sequenz wie im Traum, wie im Film abgesetzt wird, vereinzelt da steht wie eine Pause, wie ein Abgrund der Sekunden... Auf diese Weise wird der Stillstand, das Anhalten der Zeit mehrfach geübt, bis Zeit dann auch wirklich stehenbleibt.

Durch die sich überstürzenden Ereignisse, die das vorherige Geschehen "alt" machen wie Wegwerfgeschichten, löschen, meine ich in einen Alptraum gera-ten zu sein.

Aber immer deutlicher wird es, sogar der Wissenschaft, den Physikern, daß eben doch die sogenannte Negentropie (die die vernichtende Zeit überschrei-tet!) ein umfassenderes Denkmodell abgibt, als die Alltagsevidenz und ihre schwarze Schwester der Vernichtung, die gelehrt von der "Irreversibilität" der Zeit spricht (oder fabelt!) und vor allem in der "Hure der Geschichte" (Cioran) und im Schein des Alltags wirkt!

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Die Räume der Sinne und der Anschauung, ihr Agent, das Phantom Zeit als quälendes Phäno-men, hatten schon für Kant etwas Beunruhigendes, Gespensti-sches, da der Königsberger Philosoph und "Vater der Aufklärung", seinen Geist von einem anderen, einem geistigen Reich her, aber hier auf der Erde als Gefangener bestimmt sah. Er sah sich fremd hinter einer Wand der Sinne ste-hen, und der Art, wie er und alle Menschen gezwungenermaßen sehen müssen, ausgesetzt.

Der Mensch ist nach Kant fremd, weil er eine Art Ebenbild des "höchsten Gutes", des "Einen" ist, zu dem er nur mit dem "inneren Sinn" Zugang hat; die-ser "innere Sinn" aber geht über die Alltags-welt der Sinne weit hinaus, die ihn nicht zu sich kommen lassen, da schon wegen des Voranrückens von Zeit in den Außeneindrücken eine Erfahrung überhaupt nur möglich sein kann, wenn "Zusammenhang" oder "Einheit" unseres Bewußtseins als "Gewußte" und zu-gleich Wissende, also Verstehen da ist.

Es gibt sogar eine Belohnung dafür, das Glücksgefühl beim blitzartigen "Be-greifen" und Verstehen durch einen Ein-Fall, und dieses nicht nur beim Lite-raturschreiben oder beim schöpferischen Denken in der Kunst und Wissen-schaft!

Auf die Literatur übertragen heißt das (zumindest bei mir), ein Arbeiten mit ei-nem Beziehungsnetz von Lebensfragmenten, Erfahrungsfragmenten, Zitaten, ihre Collage ergibt sich aus der besonderen Notwendigkeit der Phantasiearbeit, denn die Einfälle arbeiten sequentiell, in einzelnen kurzen Szenen und Hand-lungs-Stößen; viel-leicht ist das bei Lyrikern so: es ist der erlebte Mo-ment oder die Welt als Einfall, ganz "heiß" dann aufgeschrieben, tagebuchartig in "Zeithäppchen", flashs, und dann erst nachträglich zu-sammen-gesetzt zu einem Buch, einem Roman, einer Prosaarbeit, einem Gedichtband. Und zwar immer so, daß auch beim nachträglichen Zusammensetzen alles "heiß" und inspirativ gesche-hen muß, es darf keine Manipulation oder Bastelarbeit sein.

Dieses ist deshalb so erregend, weil es wie die Simulation eines ebenbildlichen Prozesses zu sein scheint, wo Sinn sich summiert. Je mehr Einzelszenen oder Fragmente und einzelne Gedichte in einer Struktur, wie auch in diesem Band, sich gegen-seitig anziehen, dichter werden, ein an-näherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden "Sinnarbeit", die sich eben einem Unerreichbaren, ei-nem verborgenen Gan-zen annähert. Es ist ein erhellendes Verstehen, das im-mer näher und in-tensiver wird, je mehr "Bildpunkte" auf dem Bildschirm des Gedankens und dann des Buches zusam-menkommen.

Ist dieses ein "Gespenstersehen"? Althochgdeutsch hieß Gespenst noch "gi-spanst", was eher Verlockung, Verführung, ein Irrlicht bedeutet, das einen vom gradlienigen Weg abbringt. Ein Gespenst ist auch ein "Gespinst", Stimme aus einer andern Welt, Eingebung, Ein-Fall. Etwas, was im Alltag eigentlich nicht sein dürfte, und doch vorkommt, ortlos. Wie Kunst, wie Literatur auch.

Es ist eine komplizierte, jahrelange und sehr einsame Reise in eine Zone, wo das Unerreichbare, das platonische "Eine", vielleicht "Metapher Gott" warten. Und so wäre diese Sin-narbeit via erlebter Weltfragmente im Laufe der Zeit, diese zerfallenen Stückwerke der Mo-mente und Lebensphasen in ihrem an-scheinend sinnlosen, daher schmerzhaften "Unten" ihrer mangelnden Bindung und des feh-lenden Zusammenhanges eben das Rohmaterial eines Gan-zen, ei-ner stimmigen schwingenden "Sprachheimat". Es ist bisher die einzig mögli-che "Sicher-heit", einer fast numinosen Geborgenheit im Nirgendwo, die es für mich an der Grenze zwi-schen sinnlichem und geistigem Bereich noch gab, mit ihrer Tiefengrammatik des Sprachge-dächtnisses als das einzige unzerstörbare Haus, das ich noch besitze.

"Einheit der Apperzeption (oder des Bewußt-seins)." "Einheit der Synthesis in der Mannigfaltigkeit" nannte Kant diesen Kernpunkt auch seiner Philosophie. Das Zauberwort dieses Vermögens heißt bei ihm "synthetische Urteile" oder die berühmte "Einheit der Synthe-sis in der Mannigfaltig-keit".

Es geht eigent-lich nur um die erwähnte Teil-Habe des inneren Menschen am "Einen" via Lebenserfahrung und Lebensfragmenten, um das Sich-Annähern an das "Gottes-Eben-bildli-che" in uns, das jedoch nicht zum Zu-ge kommen kann, weil wir uns selbst fremd geworden sind, genau wie die Dinge uns fremd blei-ben, als in den Körper Gefallene unbekannt bleiben müssen, solange wir - wie es ja heute fast zu einem verinnerlichten Diktat unserer außenweltori-entierten Zivilisation geworden ist - nur ge-trennte (materielle) Körper sehen, eine Art Sün-denfall, weil wir so im Körper und unse-ren Sinnen - also dem Schein und der Illusion - gefan-gen bleiben! Ja, einer Kultur des Scheins, nicht des Seins, zu huldigen gezwungen sind!

Und es ist erstaunlich, daß nun nach den Gedächtnislücken, den Zerstörungen und innern und äußeren Verheerungen, der Hang zum Verstummen in der Ly-rik nun von außen, als eine andere künstliche Einheit und Synthese via Com-puter und Computerisierung droht; und da Lyrik „deutlicher als andere Formen die zerebrale Seite der Kunst“ zeigt, und „empfindlicher reagiert auf jede kli-matische Veränderung in der von Gedanken zerfurchten Welt... unabsehbar die Choreographie ihrer Redefiguren“ (Grünbein) zeigt, ja., lang schon dem Ab-schied voran, im Virtuellen, in der Neuromantik zuhaus ist, muß sie den Bruch auch heftiger spüren „nur daß aus den Weiten ihrer lexikalischen Räume jede Fischschuppe, jedes Haar, jedes Sandkorn immer aufs neue unversehrt zurück-kehren wird“ (wirklich?). Wird sie in diesem Sog, fast wie der Körper selbst, nur umfassender, schmerzhaft zusammenzucken und in einem unergründlichen Sog umgedreht und zum Grund gezogen werden in ihrem „babylonischen Hirn“ (Baudelaire)? Und ist daher nicht gerade die Lyrik, die zerbrechlichste und dauerhafteste Brücke in der obsessiven Grenzüberschreitung und im Zu-kunftsgang beim Ausprobieren dieser neuen Einheit ganz vorne im „Virtuel-len“? Und gleichzeitig ein Schock, ein Erwachen aus dem täglichen solipsti-schen Dauerschlaf des täglichen Gebrabbels, das alles zudeckt?! Wobei das neue Gebrabbel der multimedialen Scheuklappen, das Dauergesumme der Sprüche und der Computerdiktatur und Internetverführung als angeblich wirk-lichere Wirklichkeit, trotz ihrer Berieselungen Hirnnähe mimt, aber ein Erwa-chen erstickt, verpappt, erstrecht verhindert!

Was zum Ganzen kommen könnte, zum Einen, verhindert diese angebliche Hirnnähe der neuen Künstlichkeit von „Kunst“! Das neue Mögliche auch im Fensterwesen und der Collage mithilfe des Freundes PC, Springen und Montie-ren am Bildschirm, der Schreibprozeß „aufgespalten in kleine und vielfältig verwendbare Einheiten, die auf jede nur vorstellbare Weise zusammengesetzt werden können. Oder könnten, wenn das Unbehagen daran für mich nicht im-mer größer würde“ (Brigitte Oleschinski), weil das erfrischend Kreative, Spontane, Schöpfen aus dem Nichts „die unwillkürliche Anteile am Schrei-ben“, das Hinabtauchen ins Ungekannte, Ungewußte, also auch Rätselhafte, Geheimnisvolle, abgenommen hat?! Überall ist dieser Transformationsprozeß, diese globale Metamorphose erkennbar, am sensibelsten im Gedicht, im „Ver-fügbarmachen von Faktoren, die aus ihren traditionellen Bindungen herausge-löst und zu neuen synthetischen Mustern zusammengesetzt werden“. Das ewig angesterbte große Eine nun also total erreicht? Ja, erreicht aber als sterile Künstlichkeit, als ein geschenkter, fixundfertiger Standard. Wird so die Einheit parodiert, Glück des höchsten Verstehen, also „Gott“, verhindert?

Was aber war bisher das Ideal dieser letzten Einheit (die uns nun verstellt wird?). Carl Friedrich von Weiz-säcker hat den anderen – nun dieser Compu-tereinheit radikal entgegengesetzten - Kernpunkt der Wirklichkeit sehr schön am Be-ispiel der heutigen Theorie der Phy-sik, der Quantentheorie gedeutet, die von Kants Denken gelernt hat: Die von uns sinnlich wahrgenommene Vielheit der Dinge - so Carl Friedrich von Weizsäcker - sei "letztlich nicht wahr." Isolierte Ob-jekte bedeuten nur "mangelnde Kenntnis der Kohä-renz ...der Wirk-lichkeit. Wenn es überhaupt eine letzte Wirklichkeit gibt, so ist sie Einheit. Vom Stand-punkt dieser Einheit aus gesehen ... sind die Objekte nur Objekte für end-liche Subjekte (d.h. für Sub-jekte, denen gewis-ses mögliches Wissen fehlt)... (d.h. sie sind indi-viduelle See-len unter den Bedingungen der Kör-perlichkeit)."

Und Alexander Kluge formulierte es so: "...die Aufhebung der Trennungen ge-hört ja zum Realistischen. Ein Realist bohrt. Er ist darin unangenehm. Er neigt z.B. dazu, einige Dinge auf Null zu stellen." Denn realistisch ist nur das, was wirklich ist, und wirklich ist niemals nur ein Ausschnitt, sondern immer das (undenkbare) Ganze (das niemals denkbar ist mit Hilfe eines „Rechners“!), und ebenfalls gehört zur tieferen Wirklichkeit der Unsicherheitsfaktor Beobachter, das Zentrum unserer Welt: das Subjekt, das am intensivsten in der Liebe, der Musik und in der Lyrik zur Sprache kommt!

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Die Gedichte dieses Bandes stehen in der Tradition der "Poesia metafisica" der "Metaphysical Poets" um John Donne - und auch in der Tradition jener "älte-ren deutschen Lyrik"; sie sind beeinflußt von den neuesten Tendenzen einer meta-physischen Dichtung vor allem in Italien und Rumänien, auf dem Hinter-grund des Schocks historischer Erfahrung in unserem Jahrhundert. Und: sie ge-hen davon aus, daß nicht ein ganz neuer Stil im sich öffnenden virtuellen Be-reich der Welt und des Posthumen der Literatur eine Überlebenschance sichern kann, sondern nur ein Anknüpfen an eine bestimmte Tradition, die einfach "vergessen" wurde, und wie der Tod, seit einigen "gescheiten Jahren" ausge-klammert wird:

Es geht nicht darum, Neues zu erfinden, sondern im Licht dieser neuen Erfah-rung das Beste fortzuschreiben, um den Bestand der Tradition nicht zum Werkzeug der neuen Sieger werden zu lassen, die ja die Erben jener sind, die immer schon gesiegt haben; daher ist das Zitat so wichtig, wie der heftige Querschläger und Erkenntnisblitz kurzer Form; als würde er jenen Moment des Aufstandes, wo Millionen den flash als Uhr einer unbekannten Zeit empfanden, auch nach der Niederlage dem Vergessen entreißen.

Schreiben ist nicht nur der Diktatur verwandt, indem es die Welt einzusperren versucht, seit einiger Zeit überschreitet es die Grenze, läßt Welt und Text in-einanderfließen, Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung; da aber Tod und Leben zusammenhängen, ist es zugleich Lebensaufschub und Totengespräch.

Auch die deutsche Poesie könnte (wie Poesie in all den Jahrtausenden auch) Grenzereignisse einbeziehen, um der Wissenschaft nicht hinterher zu hinken, sondern ihr, wie noch im vorigen Jahrhundert, voraus zu sein, indem sie nicht den Abgrund, Schutt und Wortschutt der Außenwelt ins Gedicht nimmt, son-dern den Abgrund des Rätsels Subjekt, die tiefste Wirklichkeit unserer menschlichen Welt, die immer schon das Zentrum der Poesie war, wieder als Brennpunkt zuläßt!
 



 
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