Prismenblick oder Das Geheimnis kennen und dann

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Prismenblick oder Das Geheimnis kennen und dann


Auf dem Berg ist das Geheimnis. So muss es sein. Ihr Vater hat es ihr in abendlichen Geschichten erzählt. Die Bücher sprechen davon – die uralten Legenden ebenso wie die neuesten Wissenschaften. Sie hat sie alle gelesen und erforscht. Auf ihren Reisen hat sie die Geschichte immer wieder neu gefunden, in anderen Kleidern, doch immer dasselbe Gesicht. Auf dem Berg ist das Geheimnis. Doch keiner hat es je gesehen, berichten die Legenden. Was ist das Geheimnis? Und wie ist es in die Geschichten gekommen, wenn keiner es je gesehen hat? Sie wird auf den Berg gehen. Sie will das Geheimnis kennen.

***

Dies ist der Berg, hinter dieser Wüste und diesen Hügeln. Sie hat alle Karten studiert, sie kann sich nicht irren. Sie wird diesen Berg besteigen, das Geheimnis ergründen und davon berichten. Dies ist der Berg, und hier ist der Weg, der zu ihrem Ziel führt. Sie atmet tief durch. Sie steht an einer Schranke. Und vor der Schranke steht ein Mann.

„Du kannst hier nicht durch“, sagt er und versperrt ihr den Weg. Steht breitbeinig da, mit verschränkten Armen. „Los, mach, dass du wegkommst.“ Sie rührt sich nicht. „Bist du Gefahrensucherin, oder was?“ Kein schlechter Titel für eine Visitenkarte, denkt sie. Aber kein guter Zeitpunkt für einen Streit. „Ich will auf diesen Berg“, sagt sie. „Gibt es einen anderen Weg als diesen?“ Sie schaut ihn an, fragend. „Eine halbe Portion wie du? Vielleicht bist du ja clever, aber ob du die Ausdauer hast? Hier kannst du nicht durch, hier laufen die Champions.“ „Die Champions?“ wundert sie sich. „Clever ist wohl auch nicht dein Fall. Was weißt du eigentlich?“ pöbelt er. „Die Champions im Berglauf, natürlich. Die wandern bis zum Aussichtspunkt und wieder zurück. Wer die Strecke am schnellsten schafft, erhält einen Preis.“ „Und nach dem Aussichtspunkt, was kommt danach?“ fragt sie ihn. „Keine Ahnung, ich war noch nie dort. Ich passe auf, dass hier keiner durchkommt, der da oben nichts verloren hat.“ Er schwillt noch ein bisschen mehr an. „Und jetzt verschwinde endlich!“ Sie nickt, „Tschüss. Und Danke noch für die Auskunft.“

Sie geht im Ort umher und fragt die Leute. Fragt sich durch von Tür zu Tür. Fragt die Leute auf der Straße, Champions, Veteranen. „Was kommt nach dem Aussichtspunkt?“ Erhält immer wieder die gleiche Antwort: „Da ist nichts, nur Wildnis. Steine und Gestrüpp. Da kommt keiner durch.“

Nach drei Wochen steht sie wieder an der Schranke. Der Wächter grinst schon beinahe. „Gibt es einen anderen Weg als diesen?“ fragt sie ihn. „Was weiß denn ich“, knurrt er. Sie wartet. „Vielleicht von der anderen Seite, durch die Wüste. Dauert bestimmt allein mehrere Tage bis man dort ist. Hat noch keiner probiert, der auch zurück gekommen wäre.“ „Von der anderen Seite?“ „Ja, da entlang“, er zeigt mit dem Finger in die Richtung, aus der die Sonne den Asphalt in flirrende Streifen zerlegt. „Danke“, sagt sie und grinst ihn kurz an. Dreht sich um und geht los. „He, du“, ruft er ihr nach, „du spinnst doch, einfach loszulaufen.“ „Hab alles dabei, was ich brauche!“ ruft sie zurück, lacht. „Es gibt keinen anderen Weg, hab ich doch gesagt“, schreit er. „Die Zeit der Pioniere ist vorbei!“ Sie hat sich bereits wieder umgedreht und geht weiter. „Mir doch egal, ob diese Spinnerin sich die Füße verbrennt“, murmelt er vor sich hin. Wenn es eine andere Seite gibt, finde ich auch einen anderen Weg, denkt sie. Die nicht zurück gekommen sind, haben es vielleicht einfach nicht gewollt.

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Sie hat den Staub der Straße schon lange hinter sich gelassen. Nur Wildnis? Steine und Gestrüpp? Es ist schön hier in den Bergen. Die Luft klar und eiskalt, so dass sie an den Schläfen hämmert und in der Lunge brennt. Die Sonne so nah, dass sie blendet. Der Wind fegt sie fast vom Berg. Es ist wild und gefährlich und schön. Sie kann die Adler schreien hören, die über ihr kreisen. Sie trinkt das sauberste Wasser der Welt. Winzige Blüten färben die Ecken der Felsen in allen Farben. Sie spürt die Müdigkeit in ihren Gliedern, wenn sie abends im Schlafsack liegt. Denkt an die Menschen, die sie liebt. Sie ist nicht entwurzelt, nur allein hier oben. Einsamkeit singt sie in den Schlaf. Die Stille ist so groß, dass sie ihre Gedanken knistern hört. Der Himmel scheint so nah, dass es sie zuweilen fast zerreißt. Ihr Herzschlag vermischt sich mit dem des Wassers und der Bäume und der Steine. Als wäre sie ein Teil dieser Welt, der wirklich zählt. Auch wenn sie hier wie ein winziges Insekt umherkriecht, sie gehört dazu.

Sie ist gut gerüstet für ein Überleben in der Wildnis. Sie hängt an ihrem Zelt und an ihrer Ausrüstung, an den beständigen Routinen des Reisens. Das meiste davon ist praktisch, ein paar Erinnerungsstücke. Ein Notizbuch. Sie hat immer etwas zum Schreiben dabei. Sie würde es als letztes hergeben. Was nützt ihr die Reise, wenn sie nicht schreiben kann? Alles was ihr begegnet, sammelt sie in sich an. Es gärt und verändert sie. Es gärt in ihr und verändert sich. Und sie schreibt es auf.

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Ganz oben steht sie, um sie herum Schnee und Steine. Wochenlang ist sie gegangen. Durch die Wüste, bis an die Berge. Hat sich den Aufstieg gesucht. Jetzt ist sie angekommen. An einer geschützten Stelle wird sie ihr Zelt aufschlagen. Doch erst einmal will sie die Aussicht genießen. Sie streicht sich das Haar aus den Augen, um besser sehen zu können. Eine Strähne bleibt an ihrer verschwitzten Stirn kleben, und sie muss die Bewegung wiederholen. Dann sieht sie sich um.

Weit unter ihr liegt das Land. Sie kann noch den Weg sehen, die letzten Meter, die sie zurückgelegt hat. Tief unter ihr ein verästeltes Geflecht aus Pfaden, Weggabelungen und Entscheidungen, die hinter ihr liegen. Sie liebt die schiefen Wege, die noch nicht gepflasterten, die quer durch Busch und Unterholz führen. Sie sieht das Land, doch was im Verborgenen liegt, hat sie noch nicht entdeckt.

Am nächsten Morgen begegnet ihr ein Wunder. Sie steht und staunt. Ein alter Mann tanzt barfuss auf dem Plateau. Tanzt er wirklich? Es sieht wunderschön aus. Weiche, fließende Bewegungen. Er trägt einen einfachen weißen Anzug aus Baumwolle, darüber einen schwarzen Hosenrock, der um seine Beine schwingt. Mit beiden Armen hält er ein Schwert. Die Luft flirrt, wenn er damit sticht und schlägt. Sein Schrei dampft in der Kälte.

Sie steht und schaut und rührt sich nicht, will seine Konzentration nicht stören. Als er fertig ist, schaut er sie an. Sie tritt näher. „Wer bist du?“ fragt er. Sie nennt ihren Namen. „Dies ist dein Name. Aber wer bist du?“ Sie erzählt von ihrer Reise, von ihrem Wunsch, den Berg zu sehen. Schließlich auch von der Sehnsucht nach dem Geheimnis. Er hört zu. Doch am Ende wiederholt er seine Frage: „Wer bist du?“ Sie zuckt mit den Schultern, ratlos, was sie noch erzählen könnte, um seine Frage zufrieden zu stellen. „Mehr weiß ich nicht“, sagt sie und schweigt.

Es gibt unzählige Geschichten über den Meister, der einen Schüler annimmt. Sie hat viele davon gelesen und einige im Kino gesehen. Dies hier ist anders. Dies ist ihre Geschichte. Und ihre Freude ist die Freude, dass sie lernen darf. Das Leben meistern, sagt der Alte, heißt den eigenen Fehlern ins Gesicht zu schauen und sie freundlich zu begrüßen. Perfekt, weil fehlerfrei, sind nur die Toten.

***

Er sagt noch vieles in den nächsten Jahren. Über noch mehr schweigt er. Schweigt, bis die Zeit reif ist, den Dingen einen Namen zu geben. Bis sie so vertraut sind, dass die Dinge zu ihr sprechen, ihr Geheimnis preisgeben. Sie lernt, die Geschichten zu hören, die das Land ihr erzählt. Hört still hin, wenn ihr Atem zu ihr spricht. Dazwischen kämpft sie mit dem Schwert, dem Berg, den Elementen, mit bloßen Händen. Am meisten mit sich selbst. Es gibt Zeiten, da nimmt sie sich am Abend vor, dass sie am Morgen den Rückweg antreten wird. Sie hätte genug zu erzählen, Legenden und Wissenschaften für die nächsten Jahrzehnte. In diesen Nächten denkt sie an Dörfer, an Städte und an Menschen. Am nächsten Morgen bleibt sie und macht weiter.

Zum Abschied schenkt er ihr ein Schwert. Die Klinge ist so scharf, dass sie Stein schneidet. „Achte gut darauf. Kämpfe nicht ohne Grund. Der beste Krieger ist jener, dessen Schwert in der Scheide bleibt. Vergiss niemals deinen Namen und wer du bist. Gute Reise.“ Sie bedankt sich und bietet ihm den vertrauten Gruß. Dann geht sie. Sie möchte ihn nicht verlassen, und sie möchte doch auch reisen. Es tut weh. Sie beginnt den Abstieg. Es war gut, bei ihm zu lernen. Es ist gut, wieder unterwegs zu sein. Reisende brauchen starke Wurzeln. Solche, die zupacken und loslassen können.

***

Auf dem Berg ist das Geheimnis. Wie kann ich es weitergeben? Der Wunsch nach den Menschen und Geschichten. Und wenn ich es tue? Scharen von Besuchern, eine asphaltierte Straße, die den Berg zerschneidet. Traurigkeit überzieht ihr Gemüt. Die uralten Legenden und neuesten Wissenschaften haben Recht. Es ist wohlgehütet, denn es ist unsagbar. Zurückkehren, um von dem zu erzählen, was nicht erzählt werden möchte? Wohin soll ich gehen?

Weit unter ihr liegt das Land, ein verästeltes Geflecht aus Pfaden, Weggabelungen und Entscheidungen, die vor ihr liegen. Sie liebt noch immer die schiefen Wege quer durch Busch und Unterholz. Andere vor ihr haben Wege wiedergefunden oder entdeckt. Wege, die noch niemand ging. Auch sie wird weitergehen, wird ihren Weg machen und es wird der richtige Weg sein. Sie ist zuversichtlich. Ihre Geschichte schreibt ihr eigenes Roadmovie. Sie wird keine Monumente hinterlassen, aber Spuren. Vielleicht einen neuen Weg.

Es ist Abend geworden. Der erste Abend in ihrem Leben mit dem Geheimnis. Sie sitzt am Feuer. „Vergiss niemals, wer du bist“, hat er gesagt. Sie wickelt ihr Schwert aus seiner Hülle aus dunklem Tuch. Liest die Inschrift auf der Scheide: „Alexan T. Waters.” Das ist ihr Name. „Wanderin zwischen den Welten“. Sie wiederholt es ein paar Mal, probiert den Klang aus wie einen neuen Mantel. „Alexan T. Waters. Wanderin zwischen den Welten”. Ein guter Titel für meine Visitenkarte, denkt sie. Wenn ich wieder jemanden treffe, der wissen möchte, wer ich bin. Weil es unhöflich wäre, sofort das Schwert zu ziehen.
 

Asgar

Mitglied
Grüße,
gefällt mir sehr gut, die Geschichte. Ist schön geschrieben und es hat Spass gemacht sie zu lesen ^^

Mir kommt es blos nicht wie eine Kurzgeschichte vor...
Aber so gut kenn ich mich da nicht aus ^^°

In diesem Sinne:
weiter so!

mfg
Asgar
 
Hallo Asgar,

vielen Dank für das nette Feedback. :) Freut mich sehr, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Ich habe mich einfach für das Forum "Kurzgeschichten" entschieden, weil mir der Text für eine Erzählung nicht lang genug scheint und er inhaltlich auch nicht in eines der anderen Foren passt.

Frohes Schreiben!
Perdita
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es kommt nicht nur auf die Länge an.
Bei Geschichten so wenig, wie bei primären männlichen Geschlechtsmerkmalen: dies ist die kurze Erzählung einer langen Geschichte.

Auch wenn sie kurz geraten war, hat sie es ihm dick angetan
 



 
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