Prometheus

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Hieronymus

Mitglied
Der Begrüßungsapplaus verebbte, das Licht im großen Saal der Philharmonie wurde schwächer, nur die Bühne war noch hell erleucht. Ein Moment erwartungsvoller Stille, dann erklangen die ersten Akkorde der „Appassionata“. Melchior Proteus, Professor am Institut für Angewandte Kybernetik der Technischen Universität, beugte sich in seinem Sessel vor. Vom Parkett aus beobachtete er mit gespannter Aufmerksamkeit die Hände des Pianisten. Sie waren sein Werk. Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeitete er mit seinem Team fieberhaft an der Verbesserung der Prothesentechnik. Vor fünf Jahren hatte Proteus die entscheidende Idee für einen Prozessor gehabt, der zum wesentlichen Bestandteil der Ersatzglieder werden sollte. Mit seiner Hilfe konnten die Patienten ihre künstlichen Gliedmaßen völlig natürlich bewegen. Proteus blickte zur Loge Frischers hinüber, der ihm anerkennend zunickte.
Jussuf Frischer, Verteidigungsminister der Republik, interessierte sich eigenlich überhaupt nicht für klassische Musik, umso mehr aber für Prothesen. Seit dem jüngsten friedenssichernden Einsatz der Bundeswehr im Kongo waren die schweren Hand- und Fußverletzungen unter seinen Soldaten sprunghaft angestiegen, teils wegen der grausamen Gewohnheiten der einheimischen Guerilla, teils wegen der vielen Landminen, die die vorige Bundesregierung an den vorigen Diktator des Kongo geliefert hatte, und die überall im Lande lauerten. Frischer brauchte dringend etwas, um die Moral der Truppe zu stärken. Da kam ihm die Aussicht auf hochfunktionale Prothesen für alle, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten, gerade recht.
Dies war sein erstes Konzert nach mehrjährigem Aussetzen. Arturo Silvio Berliscangeli hatte schon das Ende seiner Pianistenkarriere kommen sehen. Die Gicht in seinen Händen schritt immer weiter fort und machte das Üben zur Tortur. Da hatte er Proteus kennen gelernt, der ihm von seinen Prothesen erzählte. Er hatte in eine Operation eingewilligt. Zwei Jahre unerbittlichen Übens hatten ihn nicht nur auf die Höhe seiner Kunst zurückgeführt, er konnte sogar aufgrund der Speicherfunktion der Prozessoren neue Stücke schneller erarbeiten und sicherer abrufen. Mit mächtigen Prankenhieben führte er die „Appassionata“ zu Ende, erhob sich und genoss den so lange entbehrten Applaus.
Es folgte die g-Moll-Ballade von Chopin, danach gab es eine Pause. Proteus eilte hinter die Bühne, um Berliscangelis Hände durchzuchecken. Dem Pianisten war eine ungewöhnliche Erwärmung an ihnen aufgefallen, und Proteus stellte schnell fest, dass Flüssigkeit aus dem Kühlsystem ausgetreten war. Die Ursache dafür konnte er in der kurzen Zeit nicht herausfinden; er musste sich damit begnügen, die verloren gegangene Kühlsubstanz mittels einer Injektion zu ersetzen. Mit Spezialkleber dichtete er die Einstichstelle ab.
Der zweite Teil des Konzerts begann, auf dem Programm stand Prokofjew, die Sonate Nr. 7. Proteus machte sich Sorgen, dass die Prozessoren in Berliscangelis Händen zuviel Hitze entwickeln würden. Aber alles ging gut; Berliscangeli hämmerte die letzten Takte des „Precipitato“ herunter. Proteus war am Ziel. Nach diesem Erfolg war ihm ein fetter Auftrag aus dem Verteidigungsministerium sicher. Ein Blick zu Frischers Loge hinüber bestätigte ihm das. Er würde eine Aktiengesellschaft gründen und für immer von der Universitätsfron befreit sein. Einen Namen hatte er sich auch schon überlegt. ProMeTeus sollte die Firma heißen.
Berliscangeli erhob sich, um die Ovationen entgegenzunehmen. Ja, dafür lohnte die jahrelange Arbeit! Als der Applaus nach einigen Minuten schließlich verebbte, kehrte er an den Flügel zurück. Mit einer Zugabe würde er sich dieses Glücksgefühl noch einmal verschaffen.
Was war das? Schweiß trat auf Proteus’ Stirn. Berliscangeli spielte ja wieder! Hatte er ihm in der Pause nicht eingeschärft, wegen des defekten Kühlsystems vorsichtig zu sein? Und ausgerechnet den „Mephisto-Walzer“ von Liszt. Das konnte möglicherweise zum Speicherüberlauf und zur Überhitzung des Prozessors führen. Da, beim Fortissimo, schoss eine Stichflamme aus der Rechten des Pianisten, dann auch aus der linken Hand. Der Kunststoff der Prothesen schmolz und tropfte auf die Tastatur. Eine schweflig stinkende Wolke waberte von der Bühne ins Parkett. Berliscangeli sprang auf und stürzte mit qualmenden Händen zum Waschraum. Proteus’ verzweifelter Blick suchte noch einmal die Loge Frischers. Aber die war bereits leer.
 

Stern

Mitglied
Hallo Hieronymus,

du hast mich eingewickelt mit deiner Kurzgeschichte, absolut. Super durchdacht bis zu den Namen(Yussuf Frischer - *brüll* :D) und den Musikstücken, gut aufgebaut, Hintergründe knapp und markant geschildert, nichts Überflüssiges, nichts Langweiliges, nichtmal Rechtschreibfehler. - Wer es wohl schafft, hier noch Textarbeit zu leisten? Also, ich nicht.

Ich versuche die ganze Zeit, mein Lachen nachzuempfinden, das ich am Ende dieser Geschichte von mir gab. Im Nachhinein fragte ich mich, wie ich da lachen konnte. Im Grunde ja ein menschliches Drama. Deine Schreibweise und Perspektive hat in mir eine Distanz verursacht, die es erlaubte, das Ende als makabren Höhepunkt zu erleben. - Ja, es muss daran liegen, dass der Blickwinkel des Proteus ein so kühler, rein materialistisch orientierter ist, und ich ihn nicht mochte, so dass mein Lachen eine Art Schadenfreude ihm gegenüber war. Wirklich genial, wie du diese Distanz geschaffen hast.

Applaudierend,

Stern *
 

Hieronymus

Mitglied
Hallo Stern,

vielen Dank für Deine positive Kritik.
Mit der Distanz hast Du recht. Ich habe versucht, die Geschichte vollständig aus der Sicht der drei Figuren zu schildern. Der Erzähler mischt sich nicht ein. Mir persönlich ist der Pianist am sympathischsten, dann kommt Proteus und zuletzt der Außenminister, der bei einem Misserfolg sofort Reißaus nimmt.

Viele Grüße
Hieronymus
 
S

Stoffel

Gast
Hallo,

wird "Angewandte" wirklich groß geschrieben?*grübel*

Ist es hier egal, welche TU?

Mir ist der Schluss zu dürftig.
Puff-Peng-Sense...nee, das denke ich nicht.
Ich denke mal, ein hochdotierter Pianist wie er, da geht auch was in der Presse rum. Die Menschen strömen sicher auch,um ihn mit den Protesen spielen zu hören und SEHEN.

Ich hatte einen anderen Schluss erwartet.
Vielleicht, dass er Zugabe gibt, obwohl Prometeus ihm abgeraten hatte..seine Hände sich verselbstständigen, durchdrehn quasi und er, der Pianist..vielleicht eher überfordert an einem Herzinfakt stirbt.

Ok, wohl alles, wie ich lese, auch reine Geschmackssache. Für mein Geschmack..der Schluss hingeschnuddelt. Sorry..:)
Gute Idee, absolut ausbaufähig. Das denke ich schon.

lG
Sanne

"Mit seiner Hilfe konnten die Patienten ihre künstlichen Gliedmaßen, durch (eigene) Hirnsteuerung völlig natürlich bewegen."

"Proteus blickte zur Loge des Verteidungsministers, hinüber, der ihm anerkennend zunickte.
Jussuf Frischer, Verteidigungsminister der Republik, interessierte sich eigenlich überhaupt nicht für klassische Musik, umso mehr aber für Prothesen."

"Seit des kürzlich erst friedenssichernden Einsatz der Bundeswehr im Kongo waren die schweren Hand-und Fußverletzungen unter seinen Soldaten, die meist zur Amputation führten...

"Arturo Silvio Berliscangeli, einer der wohl bekanntesten Pianisten der Welt, hatte schon das Ende seiner Karriere kommen sehen...."

"Die Gicht in seinen Händen schritt immer weiter fort und machte das Spielen zur Tortur, wenn nicht sogar manchmal unmöglich."

"Er lernte Proteus auf eine dieser Galas kennen...."

[blue]"Prankenhiebe.."? Nee, ein Pianist hat super Hände, da gibts nix "Prankenmässiges"! Und ich denke mal, wenn Proteus in der Lage ist, so was zu konstruieren, dann gibt er den Händen auch ein entsprechendes Äußeres? Zudem wären ZWEI Jahr Übens damit zu lange...datt muss schneller gehn;)[/blue]

"Dem Pianisten war eine ungewöhnliche Erwärmung an ihnen aufgefallen, und Proteus stellte schnell fest, dass Flüssigkeit aus dem Kühlsystem ausgetreten war. Die Ursache dafür konnte er in der kurzen Zeit nicht herausfinden; er musste sich damit begnügen, die verloren gegangene Kühlsubstanz mittels einer Injektion zu ersetzen. Mit Spezialkleber dichtete er die Einstichstelle ab."

[blue]Hört sich leider bissl nach Heimwerkermarkt aus und nicht nach einem fachlichen Genie in Punkto Prothesen.[/blue]

"Der zweite Teil des Konzerts begann. Auf dem Programm stand Prokofjew, die Sonate Nr. 7."


"Ein weiterer/nochmaliger Blick zu Frischers Loge hinüber bestätigte ihm das."

"ProMeTeus sollte die Firma heißen."
[blue]Ist ja klar. Ich allerdings würde ihn dann aber zuvor nicht "Priometeus" nennen, sondern den Namen tragen lassen, den er hat. Franz Fischer, Kuno Wagner, etc...[/blue]

"Berliscangeli erhob sich und verbeugte sich tief, als er die stehenden Ovationen entgegennahm. Die jahrelange Arbeit hatte sich gelohnt. All der Schmerz......."


"[strike]Was war das?[/strike] Schweiß trat auf Proteus' Stirn. Berliscangeli spielte ja wieder! Hatte er ihm in der Pause nicht eindringlich gebeten, es nicht zu tun?..."
 
S

Stoffel

Gast
wieso wird meine Wertung von "6", die lautet
"Dieses Werk hat was, bedarf der Überarbeitung"...
gestrichen??

Naja, ich blick eh nicht durch das B-System.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

stoffel, deine bewertung wurde markiert, aber nicht ungültig gemacht. sie weicht von der durchschnittsbewertung ab.
lg
 
S

Stoffel

Gast
andre sind schneller...

danke Flammarion,
dann war meine also...unter Durchschnitt.

ich hoffe aber dennoch für den Schreiber nicht gänzlich unwichtig:)

lG
Stoffel
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Hieronymus,

die Geschichte ist köstlich, ich hab eine ganze Zeit - bis zur völligen Entspannung - gelacht. Nebenbei zeugt sie von einer erstaunlichen Kennerschaft in musikalischen Dingen, meine Bewunderung!

Ich werde mich bei Gelegenheit an Deine weiteren Werke machen.

LG

P.
 

Hieronymus

Mitglied
Hallo Stoffel!

Ich bin ganz baff, dass sich jemand so viele Gedanken über meine Geschichte macht. Mein Ziel dabei war es, die Figur des Prometheus in die heutige Zeit zu versetzen. Der griechischen Mythologie zufolge hat Prometheus die Menschen gemacht und ihnen das Feuer und die Wissenschaften geschenkt. Daher bot es sich an, den Protagonisten Naturwissenschaftler sein zu lassen. Er formt zwar keine Menschen, aber doch immerhin Teile von ihnen. Das Feuer wollte ich auch ins Spiel bringen, daher die Erhitzung und die Stichflammen. Außerdem erinnert das Ganze an die Kernschmelze eines Atomkraftwerkes, auch so eine prometheische Unternehmung der Menschen.
Das Behelfsmäßige des "Spezialklebers" ist gewollt, da die Menschen den Fehlern ihrer komplizierten Technik meist schlecht vorbereitet gegenüber stehen.
Ich kann leider nicht auf alle Deine Änderungsvorschläge eingehen. Mein Ziel war es, die Geschichte so kurz wie möglich zu halten. Ferner sollte der Erzähler nur das Allernotwendigste mitteilen. Daher soll er z. B. solche Wertungen wie "einer der wohl bekanntesten Pianisten der Welt" nicht äußern.

Viele Grüße
Hieronymus
 
S

Stoffel

Gast
tja..lass sie wie sie ist, oder veränder sie..

ich habe sie mit den Augen eines zahlenden Lesers gelesen.
Bücher sind teuer;)

salut
sanne
 

San Martin

Mitglied
Formell habe ich nichts auszusetzen; allerdings ist mir leider die Pointe zu schwach. Ein "Teufelsritt" des Pianisten auf dem Piano in Referenz zu Goethes Zauberlehrling würde das Ganze eher abrunden als der so unspektakuläre und ein leeres Gefühl hinterlassende Schluss...
 



 
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