Protokoll eines Mordes

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springcrow

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Protokoll eines Mordes

Es ist Montag, ich weiß es, denn allen steht es ins Gesicht. Sie haben dieses Montagsgesicht. Verschlossen und in sich gekehrt. Und sie denken an das Wochenende und egal wie es war, gut, oder schlecht, jeder hängt ihm nach. Der junge Mann, gekleidet wie der König vom Kiez, der eifrig auf die Tasten seines Handys einhackt, hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen, damit keiner bemerkt, dass er, während er an drei Freundinnen gleichzeitig eine Liebesbekundung schrieb, doch nur an das eine Mädchen denkt, an das er nie herangekommen war.
Oder diese Frau, die dort steht und ihrem halbwarmen Becher – Kaffee nippt. Sie hat die besten Jahre hinter sich, will es aber nicht wahrhaben und quetscht sich in Klamotten eines Teenagers, die ihr gewiss zwei Nummern zu klein sind. In ihrem Kopf summt sie ein Lied aus ihrer Jugend, aber ich kenne es nicht.
Woher ich das weiß? Ich kann es hören. Ja ich kann ihre Gedanken in meinem Kopf hören.
Als Kind dachte ich, ich wäre verrückt, weil ich Stimmen höre. Ich sagte es niemandem, nein, ich behielt es für mich, freundete mich damit an, bis ich begriff, was die fremden Stimmen waren. Ich bin nicht verrückt, ich bin normal. Ich höre, was andere Denken, das ist nicht verrückt. Schließlich tu ich keinem was.
Ich höre sie, tagein, tagaus. Immer sind die Stimmen bei mir, sie bilden ein angenehmes Summen im Kopf. Manchmal kann ich das filtern und die Menschen einzeln hören. Die anderen Stimmen verschwinden dann nicht, nein nein, sie werden nur leiser.
Abstellen kann ich sie nicht.
Nein, still ist es nie.
Auf einmal sehe ich eine Frau, ihre Gedanken drehen sich im Kreis.
Sie weiß nicht, was sie denkt, sie ist verrückt.
Sie schreit herum, brüllt Obszönes in die Gesichter der Menschen.
Sie weiß nicht, was sie sagt, sie ist verrückt.
Sie spuckt auf den Boden, schlägt um sich.
Sie weiß nicht, was sie tut, sie ist verrückt.
Ich will schöne Gedanken hören, um mich abzulenken.
„Bring sie doch einer um!“
Was war das? Wer hat das gedacht? Ein Mann im Anzug, er starrt hasserfüllt auf den gefallenen Menschen.
„Solche sollte man töten.“
Das war ein Los - Budenverkäufer, der den Kopf schüttelt.
Die Frau hört das nicht, sie schreit weiter, läuft hin und her und schreit.
Sie ist verrückt.
„Die nervt! Bring sie um!“
Ein junges Mädchen mit schönen Ohrringen dreht sich angewidert weg.
Die Frau schreit weiter.
„Bringt sie um!“
Das war nicht ein Gedanke, es waren viele!
„Bringt sie um!“
Mehr Gedanken dringen in meinen Kopf.
Das bilde ich mir doch ein?
Nein, sie starren die Frau an. Ihre Gesichter spiegeln diese Gedanken wider.
Die Frau schreit.
„Bring sie um!“
Meinen die mich?
Die Frau schlägt um sich.
„Bring sie um!“
Schauen die jetzt mich an?
Die Frau spuckt und brüllt Obszönes.
„Bring sie um!“
Soll ich das tun?
Sie reisst sich einen Büschel Haare aus.
„Bring sie um!“
Also gehe ich zu ihr, ich nehme ihren Kopf und schlage ihn gegen den Boden.
Ich höre Krachen.
Ich schmecke Blut.
Ich höre ihre wirren Gedanken, die auch jetzt nicht begreifen, was geschieht.
Bis sie aufhört zu schreien, nicht mehr um sich schlägt.
Bis ihre wirren Gedanken schweigen.
„Was hast Du getan?“
Alle starren mich jetzt an.
Warum sind sie so entsetzt?
Sie haben es mir gesagt.
Sie wollten es so.
Ich bin nicht verrückt.
Alle Gedanken schweigen.
Sie starren.
Die Polizei kommt.
Die Gedanken schweigen.
Sie nehmen mich mit.
Alles ist ruhig.
Ich kann ihre Gedanken nicht hören, aber ich spüre, dass sie mich verachten.
Verachten dafür, dass ich getan habe, was sie wollten.
Sie verachten mich, weil ich sie gehört habe.
Weil ich sie kenne.
Der Schock verfliegt, ich kann sie wieder hören.
Sie reden von Mitgefühl für die Frau und Entsetzen über ihren Tod, aber in ihren Gedanken ist höhnisches Gelächter über eine Irre.
Erleichterung, dass sie schweigt und Triumph über mich, ihr Werkzeug.
Denn ich habe für sie gehandelt.
Ich war ihre böse Seite.
Ihr Henker.
Bin ich verrückt?
 



 
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