Prozession - eine Geschichte aus der Welt von Ithiliasis

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A. K. Lange

Mitglied
Prozession


Carl mochte keine Menschenmengen. Er hatte nie verstanden, dass manche sich unter vielen Menschen sogar wohl zu fühlen meinten. Beinahe, als hätten sie erst gestern darüber gesprochen, glaubte er fast, über dem Raunen um ihn herum Martis Lachen hören zu können. Wie oft hatte er in die offen amüsierte Miene seines Freundes geschaut, wenn er ihm zu erklären versucht hatte, was er hinter all den zusammengedrängten Gesichtern ohne Namen sah. Natürlich war es nie mehr als freundschaftlicher Spott gewesen. Nichtsdestoweniger hatte es ihn jedes Mal ein wenig getroffen. Aber das war nicht Martis Schuld gewesen. Nicht ganz. Marti hatte einfach nicht alles gewusst. Mehr als die meisten zuvor, aber nicht alles.
Doch vielleicht wäre es genug gewesen, wenn Marti wenigstens einmal selbst eine Menschenmenge erlebt hätte, in der das versteckte Versprechen von sich in Chaos auflösender Kontrolle seine hässliche Fratze gezeigt hatte. Wenn die gut gelaunten Gesichter auf einen Schlag verschwanden und durch bedrohliche oder panische ersetzt wurden, wenn aus Lachen und Plaudern Rufen und Schreien wurde. Es war leicht über etwas zu spotten, das man nicht kannte.
Gut möglich, dass die Bilder, die Carl einmal mehr beiseite zu schieben versuchte, in ihm lebendiger geblieben waren, als sie es sein sollten. Aber es war nie verkehrt, vorsichtig zu sein und die Augen offen zu halten. Das, weswegen er in diesem Moment wieder in einer Menschenmenge stand, war eine wirkungsvolle Erinnerung daran.
Er wollte nicht hier sein. Viel lieber wäre er, wie an einem ganz normalen Tag, vor zwei Stunden aufgestanden, hätte sich gemütlich fertig gemacht und schließlich seinen kleinen Laden aufgeschlossen. Aber die Prozession hatte sich ja ausgerechnet Caradule als Station aussuchen müssen, eine der unwahrscheinlichsten Städte, weit weg von jeder Hauptroute zu einem der Häfen nach Galdea. Genau aus diesem Grund war Carls Wahl ja auf sie gefallen.
Das Hämmern von Fäusten in schweren Handschuhen gegen seine Ladentür hatte seine Nacht mehr als eine Stunde vor der Zeit jäh beendet. Nackte Panik hatte ihn aus dem Bett springen und schlaftrunken durchs Zimmer stürmen lassen. Nur ein einziger Gedanke war sofort zur Stelle gewesen: Sie haben mich gefunden.
Es hatte gebraucht, bis seine Hand auf dem Stuhl lag, mit dem er instinktiv seine Schlafzimmertür verrammeln wollte, ehe seine Vernunft sich hervorgekämpft hatte. Viel zu lange bis er sich daran erinnert hatte, dass garantiert niemand vorher angeklopft hätte, wenn er aufgeflogen wäre. Aber diese Erkenntnis war nur ein wenig besser als der tatsächliche Anlass für diesen Tumult gewesen. Die Dinge konnten durchaus noch immer eine Wendung nehmen, die daraus nicht mehr als einen Aufschub machte.
Jedes Haus in seiner Straße hatte seinen Teil von gegen protestierendes Holz hämmernden und rufenden Soldaten gehabt, jedes Haus in jeder Straße von Caradule. Es lief immer gleich ab. Niemand sollte das bevorstehende Schauspiel auf dem Marktplatz verpassen. Die meisten wären auch von selbst gekommen, wenn die Nachricht die Zeit gehabt hätte, sich auf dem üblichen Weg zu verbreiten. Aber die Routen dieser Prozessionen standen niemals vorher fest. Niemand wusste warum. Es war immer schon so gewesen, das reichte als Grund. Genug, dass es kein Gesetz brauchte, das einen dazu zwang, der Aufforderung der lärmend durch die Straßen ziehenden Soldaten zu folgen. Wer würde sich auch trauen, nicht zu folgen, wenn die Neugierde allein nicht reichte, um einen anzutreiben? Nur um danach als Sympathisant oder vielleicht sogar selbst als einer von denen denunziert zu werden?
Bewegung auf der linken Seite des Marktplatzes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Oder besser die Ahnung davon. Carl hatte weder einen besonders guten Platz, noch war er groß genug, um über diejenigen um ihn herum hinwegzuschauen. Aber wenn er die Wahl gehabt hätte, wäre er auch damit zufrieden gewesen, als einer der Vielen, die gar nicht erst mit auf den Marktplatz passten, in einer der Seitenstraßen zu bleiben. Eine der unvorhersehbaren plötzlichen Strömungen, die jeden mitzerrten, ob er wollte oder nicht, hatte ihn hier her vor die dicht besetzten Stufen eines der acht Wirtshäuser gebracht, die sich zwischen Läden und Werkstätten um den Platz verteilten. Sprießender Efeu verkündete ein ovales Schild, das dick von dem umrahmt war, was dem Haus seinen wenig einfallsreichen Namen gegeben hatte. Weder eines der besten, noch eines der einfacheren Häuser von Caradule. Jedes zweite hier am Platz hätte denselben Namen tragen können, bei all den dunkelgrünen Blättern, die an den meisten Fassaden rankten. Dicht aneinander gedrängte Köpfe in jedem gen Markt blickenden Fenster hatten sich nun noch zum Efeu an den Fassaden hinzugesellt.
„Gleich! Gleich geht’s los!“, wisperten diejenigen auf den Stufen hinter ihm überflüssigerweise mit aufgeregten Stimmen denen zu, die nicht erhöht standen. Zum zweiten Mal innerhalb der letzten halben Stunde.
Er hoffte, dass sie dieses Mal tatsächlich Recht hätten. Über den spitzen Dächern der vier- und fünfgeschossigen Häuser, die den Platz fast lückenlos umgaben, rannten immer tiefer hängende Wolken über den Himmel. Er selbst war durch die Häuser hinter ihm einigermaßen von dem Wind geschützt. Aber nur wenige Meter weiter zerrten Böen immer wieder an den offenen Haaren der unverheirateten Frauen, die sie nicht in einem Dutt trugen.
So sehr es zum Anlass gepasst hätte, musste er einen Wolkenbruch nicht haben, so lange er nicht, ohne Aufsehen zu erregen, wieder zurück zu seinem Laden konnte. Die meisten in diesem See aus Menschen um ihn herum wären wahrscheinlich selbst im wildesten Sturm zum Gaffen hier her gekommen. Aber für ihn war es nicht einmal einen einzigen Tropfen auf seinem unauffälligen Hemd wert. Unauffällig, wie alles an ihm. Wenigstens brach der Wind die drückende Frühsommerhitze, die sich vor diesem Sturm aufgestaut hatte.
„Fast drei Dutzend Männer sin’ dabei draufgegangen, diesen Teufel zu schnappen. Und nur die Hälfte der Wachen hat’s bis hier überstanden“, brüstete sich ein kahlköpfiger Mann zu seiner Rechten vor zwei sehr breiten Frauen, die selbst von hinten wie Schwestern aussahen.
„Ham sie im Bett geschnappt. War gefesselt wie ein Braten und der Kopf in nem Sack, ehe sie wusste, was los is“, tönte es irgendwo einige Meter weiter links in der schiebenden und drückenden Menge.
Er hatte schon mehr als genug Geschichten wie diese gehört, die nun überall um ihn herum mit dem Rauschen des Windes zu einem pulsierenden Raunen verschmolzen; auf dem Weg von seinem Laden hier her oder beim Warten. Diese waren noch vergleichsweise harmlos. Mindestens zweimal war sogar von Fliegen die Rede gewesen, noch ehe er sich vor dem Sprießenden Efeu wiedergefunden hatte. Mal war von einem Mann die Rede, mal von einer Frau, einmal sollte es sogar noch ein Kind gewesen sein – so unsinnig das auch war. Etwas Anderes, das immer in den gleichen Bahnen verlief. Genau wie der frühmorgendliche Auftritt der Soldaten. Die Leute versuchten nur, die angespannte Leere zwischen dem Hämmern an ihren Türen und dem Auftauchen der Prozession mit etwas zu füllen. Es lag in der Natur der Menschen, sich mit angeblichem Wissen und der tolleren Geschichte gegenseitig übertrumpfen zu wollen. Ohne Zweifel war der Glatzköpfige nicht der einzige, der bereits die dritte Version seiner Geschichte erzählte, wieder ein wenig anders als die, die Carl eine kleine Weile zuvor mit halbem Ohr gehört hatte.
Vom Wind immer wieder fort geschobenes Trommeln brach durch die nur langsam verstummende Menge. Dieses Mal war es also tatsächlich soweit. Widerwillig setzte er eine Maske der Spannung auf, die er nicht empfand. Nicht auffallen. Er war nur Einer unter Vielen. Das war bereits zu seiner zweiten Natur geworden. Einfach denen um ihn herum folgen, sich neugierig strecken und voller innen hohler Erwartung dann und wann ins Nichts fragen, ob jemand etwas erkennen konnte. Selbst seine Augen machten das Spielchen mit und rundeten seine Maske ab. Aber tatsächlich wollte er mit ihnen gar nicht sehen, was er schon viel zu genau kannte. Er hätte für all diejenigen um ihn herum, die ebenfalls nichts sehen konnten, genau beschreiben können, was unter den nun unüberhörbar über die Menge rollenden Trommelschlägen ablaufen würde. Wie um die Bilder zu unterstreichen, die sich in seinem Inneren abspulten, tauchten die ersten Banner über den vielen Köpfen auf. Immer weiter anschwellendes, erregtes Rufen begrüßte sie und schien sie noch wilder mit dem Wind flattern zu lassen. Die drei übereinanderliegenden weißen Wellenlinien auf blauem Grund von Haus Boyenne waren deutlich genug zu erkennen. Sie wechselten sich zu gleichen Teilen mit dem grünen Kreuz auf weiß von Formos ab.
Das erklärte, weshalb die Prozession diesen Weg genommen hatte. Von den Ländereien der Boyennes war dies der direkteste Weg zur Hauptstadt Ilenar, dem einzigen Ort in Formos, von dem aus zumindest gelegentlich Schiffe in Richtung Galdea aufbrachen. Es hatte beinahe etwas Ironisches, dass diese Prozession ausgerechnet im am dünnsten besiedelten Teil der Region von Formos ihren Anfang genommen hatte, die er sich gerade wegen ihrer Abgelegenheit ausgesucht hatte. Dass ein kleines Haus das Banner der Prozession führen durfte, bedeutete jedoch nicht, dass sie bescheidener ausfallen würde, als jede andere. Die Garden des Königs würden die Lücken schon gefüllt haben, die das Haus Boyenne nicht selbst besetzen konnte. Die zweite schlechte Nachricht dieses Tages.
Reihe um Reihe von im Schritt ihrer Träger wippenden Piken folgte auf die Trommler und Bannerträger. Nur die ersten Ränge trugen die blauen Bänder an ihren stählernen Spitzen, die restlichen trugen bereits das Grün der Garden. Hinter ihnen, ohne über die Menge hinausragende Kennzeichen für ihn unsichtbar, würden Bogenschützen und Armbruster folgen, danach Berittene. Eine richtige kleine Armee, von denen an diesem Morgen vermutlich nicht einmal alle gebraucht worden waren, um in einer Stadt dieser Größe die Leute zusammenzurufen. Und hinter dem, weswegen diese Demonstration der Stärke hier war, würde noch einmal dasselbe folgen – in umgekehrter Reihenfolge, nur ohne Trommler und Bannerträger.
Carl bezweifelte, dass mehr als eine Handvoll Caraduler jemals etwas Vergleichbares gesehen hatten. Der Aufregung und den Rufen nach, die er mechanisch imitierte, erfüllte diese Demonstration genau den Zweck, der sie tatsächlich rechtfertigte. Denn für die einzelne Gestalt, die dem Aufbrausen nach in diesem Moment zwischen all diesen bis an die Zähne bewaffneten Männern auf den Platz geführt werden musste, war sie jenseits von übertrieben. Aber die über den wogenden Rufen liegende Note der skeptischen Vorsicht Vieler, die nicht wagten, sich vollkommen freien Lauf zu lassen, zeigte, dass die Botschaft ankam.
„Hätte... gedacht, dass... viele nötig sind!“, war nur einer der sich sinngemäß um ihn herum wiederholenden Wortfetzen, der es durch die vielen aufgeregten Stimmen zu ihm schaffte. Dieses Bild würde sich neu einprägen, ob selbst gesehen oder nur aus den Mündern welcher, die es gesehen hatten, gehört: Das alles brauchte es also, um solch einer Gefahr Herr zu werden.
Nur schwer konnte Carl dem Impuls, seinen Kopf zu schütteln widerstehen. Er durfte seine Maske jetzt nicht fallen lassen, so klein die Gefahr auch war, dass es jemanden in diesem Trubel auffiel. Nicht mit einer Prozession in der Stadt.
Ein neuerliches Raunen lief durch die Menge, als auch die weiter hinten Stehenden etwas anderes als Banner, Piken und berittene Soldaten auf ihren Pferden zu sehen bekamen. Vier Männer, scheinbar vollkommen in schwarz gekleidet, führten zwischen sich ein geschlagen wirkendes Etwas auf ein Podest, das in der Mitte des Platzes errichtet worden war. Gefesselt und mit der breiten Augenbinde, die noch weit über Nase und Stirn hinausreichte, wäre die kleine, in kaum mehr als Lumpen gehüllte Gestalt nicht einmal für einen einzelnen der Vier eine Gefahr gewesen. Nichtsdestotrotz wirkten sie wie jederzeit zum Sprung bereit, gleichzeitig aber auch überlegen gelassen und beinahe zu offensichtlich für die lauernde Bedrohung in ihrer Mitte bereit, die Carl als nicht vorhanden wusste. Es war ein Schauspiel für die Masse und die Masse sog die ihr dargebotenen Eindrücke bereitwillig wie ein Schwamm auf und trieb sich selbst von angstvollem Schaudern in eine Euphorie voller Abscheu und zurück. Carl kam sich schmutzig vor, auch wenn sein Mitschwimmen im immer schneller fließenden Strom der Emotionen nichts als Fassade war. Das wachsende Gefühl gleichzeitig schwindender Kontrolle um ihn herum war das einzige, das sich im Augenblick damit messen konnte.
Eine weitere Gestalt erhob sich über die zahllosen Köpfe und immer häufiger auch erhobenen Fäuste, die gegen die mit hängenden Schultern dastehende Figur in Lumpen wetterten. Genau so wie die anderen Vier gekleidet vervollständigte der grauhaarige Mann das Ensemble. Carl war zu weit entfernt, um derart feine Details auszumachen. Aber er hätte das Emblem auf der rechten Brust des Grauhaarigen genau beschreiben können, das als einziges seinen Rang unter ihnen hervorhob – die nach einem Bündel stilisierter Blitze greifende Faust auf dem tatsächlich tief dunkelgrünen Stoff, eingerahmt von einem schmalen Ring in Rot, der sich auch in jedem Saum der Kleidung wiederholte. Ein Inquisitor des königlichen Hofes. Als einzigen umwehte ihn nichts als eine Aura der unerschütterlichen Selbstsicherheit, ganz als würde ihn das, was seine Männer so beunruhigte, nicht im Geringsten berühren können. Er würdigte das armselige Bündel in Fesseln nicht einmal eines Blickes.
„Hier“, erhob sich die Stimme des Inquisitors bereits nach dem ersten Mal, das sich seine Lippen scheinbar geräuschlos bewegt hatten, erstaunlich klar über den rasch ersterbenden Lärm. „Hier stehen wir und sind der Beweis dafür, dass die Wachsamkeit nie enden darf. Hier stehen wir mit einem weiteren Beispiel...“
Carl achtete nicht weiter auf die Litanei, deren Inhalt sich auch jeder Andere hier selbst hätte denken können – nie endende Bedrohung, verborgen unter uns, Erinnern an das Chaos, das jene über die Welt gebracht hatten. Jeder kannte die Geschichten, die in großer Sorgfalt mit Prozessionen wie dieser am Leben gehalten wurden. Er hatte nur Augen für das jämmerliche Bündel zwischen den hochgewachsenen Männern in Nachtgrün. Nur die Größe und die bis weit hinauf nackten Beine ließen erahnen, dass es eine Frau war. Was an langen Haaren dagewesen sein mochte, war längst kurz geschoren worden.
„Diese Wirkerin“, spie der Inquisitor schließlich durch seine Kulisse der Überlegenheit, „hat vorgegeben, eine von uns zu sein, hat sich eingenistet zwischen unbescholtenen, ehrbaren Bürgern wie euch.“ Er ließ eine Pause, um der Menge Gelegenheit für den empörten Aufschrei zu geben, der für diese Stelle vorgesehen war.
Brav wie ein Rudel trainierter Hunde folgte die Menge, mehr darin mit erhobener Faust als ohne. Carls Ekel ließ ihn Galle schmecken, als der Inquisitor die tobende Masse mit einer einfachen Geste beachtlich schnell wieder zum Verstummen brachte.
„Jahr um Jahr konnte sie mit ihren teuflischen Kräften im Verborgenen wirken, unentdeckt und unverdächtigt von den Menschen um sie herum, die sie arglos achteten und sogar liebten. Niemals werden wir wissen, was für eine dunkle Saat sie noch gesät hat, bis sie ihr wahres Gesicht zeigte. Aber irgendwann können sie alle ihre wahre Natur nicht mehr verbergen, die Natur des Zerstörens und der Gier nach Macht.“
Der Zorn, den Carl in seinen Anteil des Wiederaufbrausens der Menge steckte, war nicht gespielt. Nur von einer anderen Natur als der aller um ihn herum. Gier nach Macht, teuflisches Wirken im Verborgenen. Wie leicht es doch war, Unwissenheit mit Angst in Brand zu stecken! Welches Streben nach Macht? Welche teuflischen Fähigkeiten? Das letzte Mal, dass ein Wirker sich als tatsächliche Bedrohung herausgestellt hatte, war gewesen, noch bevor die meisten hier überhaupt mehr als ein Leuchten in den Augen ihrer Eltern gewesen waren! Ansonsten waren es nie mehr als Winzigkeiten, die den einzigen Unterschied machten, so es denn tatsächlich einen gab. So klein, dass es immer lange dauerte, bis es aufflog – und ganz gewiss nicht, weil jemand versuche, eine neue Zeit des Chaos’ heraufzubeschwören.
Es war gut, dass er sich Luft machen konnte, wenn auch nach außen hin auf verwerfliche Weise. Aber die erneut abschwellenden Stimmen zwischen den efeubewachsenen Fassaden des Marktplatzes kündigten schon den nächsten Akt der immer gleichen Farce an.
„Wirker sind Wirker und werden es immer bleiben. Wenn sie sich selbst nicht offenbaren, so tun es die Spuren, die sie hinterlassen. Menschen verschwinden, Menschen sterben. Vieh krankt und Ernten misslingen. Wo sie sind, untergraben sie die Leben derjenigen um sie herum, nagen an ihren Existenten und steigen auf unschuldige Schultern, in der Absicht sich erneut zu erheben.
Doch die Inquisition findet sie alle. So wie wir diese gefunden haben. Ihre Verderbtheit hatte längst begonnen, ihren Preis zu fordern. Die Heilerin des Dorfes, das sie vergiftet hatte, war eines ihrer ersten Opfer. Alibeth Maharen, eine unschuldige Frau, die Jahrzehntelang nichts anderes getan hatte, als Kindern auf die Welt zu helfen und Kranken mit ihren Kräutern beizustehen. Sie muss zu nah an die Wahrheit herangekommen sein, als dass diese hier ihr erlauben konnte, zu leben und das schmutzige Geheimnis zu früh zu lüften.
Mathess Holme, der nur vierzehnjährige Sohn des Dachdeckers. Er war...“
Carl brauchte die Augen der Umstehenden gar nicht zu sehen, wie sie sich über die so farbig greifbar gemachten Schandtaten der ihnen dargebotenen Wirkerin immer weiter verengten. Selbst wenn er nicht um das Halten seiner Maske bemüht gewesen wäre, hätte er sich nicht umgeschaut, um einen Zweifelnden unter ihnen zu finden. Er hatte einmal danach gesucht, in einer Menge, die weit größer gewesen war als diese – und nichts gefunden. Die Geschichten waren zwar ein wenig anders gewesen, aber das Muster dasselbe. Wie konnten all diese Leute nur diesen Unsinn glauben? War es so viel leichter, an böse Kräfte zu glauben, als sich zu fragen, ob Alibeth Maharen nicht nach ihren vielen Jahrzehnten treuen Dienstes in ihrem Dorf einfach den Preis der Jahre zahlen musste? Brauchte es wirklich das unsichtbare Eingreifen einer dunklen Absicht, um einen unvorsichtigen Mathess Holme von einem der Dächer stürzen zu lassen, auf dem er das Handwerk seines Vaters lernte? Die Blicke um ihn herum sagten ja. So wie es diejenigen in dem noch immer namenlosen Dorf vermutlich auch gesagt hatten, als sie in ihrer Gram einen Schuldigen brauchten. Und Schuld hatten immer die Sonderlinge.
Immer wieder peitschte der Inquisitor die Menge mit neuen Namen und angeblichen Taten auf, nur um sie danach in einer wohldurchdachten Choreographie wieder abzufangen. Gerade so weit, dass die Stimmung nicht überkochte, aber genug, dass sich der Hass und die Angst gegen Wirker auf ein Neues in die Herzen der Menschen einbrannte. Der grauhaarige Mann verstand sein Handwerk und alle schienen begierig, der fruchtbare Boden zu sein, den er umpflügen konnte, um seine Saat darin zu pflanzen.
„...werden nicht den einfachen Weg gehen, den andere Reiche beschreiten. Wir werden nicht zum Henkerbeil greifen, sobald auch diejenigen in Ilenar die Gelegenheit hatten, einen Blick auf diese hier zu werfen, um nicht zu vergessen, was nicht vergessen werden darf. Nein. Was ist das Leben eines einzelnen Wirkers gegen die Leben, die er verwirkt oder beendet hat? Was ist das rasche Ende eines Wirkers im Vergleich zur langen Trauer der zurückgelassenen Mütter, Frauen und Kinder?“
Es war nicht nötig, dass die Menge schon einmal so etwas miterlebt hatte. Jeder kannte die Gesetze und die aufgeblasenen Geschichten, mit denen sie verbreitet und gestärkt worden waren.
„Galdea! Galdea!“, begannen zahllose Kehlen angeheizt zu skandieren. Eine Aura der Geschlossenheit begann sich über den Platz zu legen und mit den dröhnenden Stimmen mitzuschwingen. „Galdea! Galdea!“ Die Illusion, dass ein Teil der Macht über das, was kommen würde, bei ihnen lag, war angekommen.
Carl hatte nicht vergessen, wie so etwas war. Aber trotz aller Mühe hatte er es nicht geschafft, die Erinnerung daran lebendig genug zu halten, um genügend darauf vorbereitet zu sein, um es gänzlich auszusperren. Seine Selbstsicherheit wankte mit dem Gefühl, dass jeder einzelne hier nur zu bereit wäre, mit dem Finger auf den Erstbesten zu zeigen, der auch nur den geringsten Verdacht erweckte. Er ertappte sich dabei, wie er noch ein wenig lauter in die noch immer nicht abschwellenden Rufe einstimmte, nur um sich sofort wieder zurückzunehmen. Hatte er es übertrieben? War da ein Zögern in seiner das Rufen untermalenden erhobenen Faust gewesen, das ihn preisgeben konnte? Er wagte nicht, seine Augen von den sechs Gestalten auf dem Podest abzuwenden, um nach Blicken zu suchen, die ihn genauer musterten, als ihm lieb sein konnte.
„Soll die sengende Sonne der Wüsten von Galdea diese Wirkerin strafen und sie in der Einsamkeit darüber nachdenken lassen, welchen Weg sie eingeschlagen hat. Soll es an ihr selbst sein, sich die Gnade zukommen zu lassen, als geläutert aus dieser Welt zu scheiden. Soll sie dort allein über ihre Verderbtheit und die Ihresgleichen nachdenken, bis sie ihre Schuld versteht. Für Vergebung in dieser Welt ist es zu spät. Möge sie sie in der nächsten finden.“
Ohne eine weitere Geste trat der Inquisitor unter dem ein letztes Mal aufbrausenden Jubel der Menge wieder ab. Jeder, der nicht Carls Wissen um die Regeln dieses makaberen Spiels hatte, musste in diesem Moment die um eine Spur scheinbar so aufrichtiger Großherzigkeit erweiterte Aura spüren, die der Grauhaarige um sich und das Reich gesponnen hatte. Sie war die finale Zutat, die sich in die Suppe aus Emotionen mischen sollte, die hier nach einem schon lange vorher festgelegten Rezept gekocht worden war, mit dem vom Podest herunter schreitenden Inquisitor als zufriedenem Koch, der wusste, dass er geschafft hatte, wofür er gekommen war.
Das einzig Gute, das Carl an dieser letzten Note finden konnte, war dass sie der Stimmung einen Hauch ihrer Schärfe genommen hatte. Die Rufe schienen in der Tat ein wenig leiser, nachdem der reine Jubel verklungen war. Aber gleichzeitig wuchs sein Ekel mit diesem blinden Einstimmen in die angebliche Gnade und Bedachtheit, die Reich und Inquisition selbst einer Wirkerin zuteil werden ließen. Es ließ ihn sich dafür schämen, ein Mensch wie sie alle zu sein, die sich und ihre Emotionen so einfach lenken ließen. Momente wie diese waren es, die Carl sich besonders fragen ließen, ob es wirklich so verkehrt war, anders zu sein.
Ohne einen so klaren Fokus wie zuvor verklangen die Rufe schnell wieder in von Windböen gedämpftes Murmeln allgemeinen Unterhaltens. Zum ersten Mal, seit die Prozession in Sicht gekommen war, blickte Carl sich um. Er wusste, dass die einsetzende Ruhe trügerisch war. Nur zu leicht würden sich diese aufgewühlten Gemüter so unmittelbar nach ihrem Höhenflug erneut anfachen lassen und er hatte nicht vor, der Funke dafür zu sein. So sehr ihn das Gefühl, hier raus zu müssen, beinahe erzittern ließ, inmitten der zusammengedrängten und von verstopften Zugangsstraßen eingepferchten Masse war er genau so gefangen wie die Wirkerin auf dem Podest.
Nur für einen kurzen Moment erwog er, sich in eines der überall einsetzenden Gespräche um das Geschehene und das, was jetzt wohl kommen mochte einzuklinken. Es war der Moment, in dem Fremde ganz selbstverständlich mit Fremden sprachen, um vielleicht etwas zu erfahren, aber auch um ihre Spannung zu teilen, die sie nun nicht mehr direkt herausrufen konnten. Aber er war sich nicht sicher, ob seine Maske über den unschlüssigen Blick, den er aufgesetzt hatte und vereinzeltes fragendes Lächeln, das er ziellos verstreute, hinaus gehalten hätte.
Eine quälende Ewigkeit verging, bis sich die Menge zu bewegen begann. Sie kannte nur eine Richtung und er hatte es auch nicht anders erwartet: hin zu der Wirkerin. Hilflos blieb ihm nichts, als sich dem Strudel der Neugierigen hinzugeben. Wenigstens ein klein wenig Abstand zum Podest und den Männern der Inquisition zu halten, was alles, was er versuchen konnte.
„Ich frage mich, was aus den ganzen Wirkern geworden ist, die über all die Jahre nach Galdea verschifft worden sind. Ich meine, was ist, wenn nicht alle in der Wüste gestorben sind, wie es immer heißt?“, hörte Carl einen hochgewachsenen Jungen neben sich sagen.
Aus den Augen musterte er den schlanken Burschen, der kaum älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein konnte. Es war der erste kluge Gedanke, den er heute in dem, was Caradule zu bieten gehabt hatte, zu hören bekam.
„Stell nicht so ungescheite Fragen Ararm“, antwortete ein etwas humpelnder Mann. Dieselbe übergroße Nase in der Mitte eines noch eckigeren Gesichtes als das de Jungen brauchte keinen genaueren Blick, um die Vaterschaft herauslesen zu können. „Glaubst du, die Inquisition ist so dumm und geht noch mehr unnötige Risiken ein, als es diese sogenannte Verbannung schon ist? Soweit ich weiß, wird nie dieselbe Stelle zum Aussetzen benutzt und nie mehr Wasser und Proviant mitgegeben, als dass es für mehr als eine oder zwei Wochen reicht.“
„Viel zu gut ist dieser ganze Aufwand für diese Teufel“, mischte sich ein anderer Mann mit einem Schnurrbart wie eine Bürste ein. „Unschädlich machen und dann diejenigen, die tatsächlich den Schaden hatten, für eine angemessene Strafe sorgen lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Mutter, deren Sohn von so einer verhext worden ist, schon weiß, was zu tun wäre, wenn man sie und die Wirkerin in einem Raum allein lassen würde!“
„Das wäre wirklich fairer“, stimmte der Junge Ararm zu.
„Hör nicht auf Jos. Es ist nicht schlau, zu glauben, dass es keinen guten Grund dafür gibt, dass die Dinge so sind, wie sie sind.“
„Ja, ja. Lass deinen Jungen nur verlernen, selbst zu denken. Ich sage, dass noch längst nicht alles gut und richtig sein mu...“
Zu viele andere Stimmen schoben sich zwischen die kleine Unterhaltung und ihn, als dass Carl ihr weiter folgen konnte. Aber sie war auch auf kaum eine andere Weise interessant gewesen, als dass sie ein weiteres der vielen immer gleich scheinenden Muster demonstriert hatte. Eine Frage und zwei klassische Pole, zwischen denen sie zerdrückt worden war, noch ehe sie echten Zweifel säen konnte. Aber weder Ararm, noch seinem Vater oder Jos würde bewusst sein, welchem anderen der vielen ausgetretenen Pfade sie eben schon wieder gefolgt waren. Es spielte auch keine große Rolle für sie. Nicht so sehr wie für Carl.
Für eine glückliche Weile hatte er das zu einem Spielchen zwischen sich und Marti machen können. Über sein Misstrauen gegenüber Menschenmengen hatte Marti noch gelacht. Aber die Durchschaubarkeit so vieler großer und kleiner Dinge, die von den meisten ohne weitere Gedanken als selbstverständlich hingenommen wurden, war etwas anderes gewesen. Zweimal hatte er Marti einen Zettel in die Hand gedrückt, auf den er einmal nur Minuten und einmal Stunden vorher geschrieben hatte, was völlig Fremde später tun würden. Fremde, mit denen weder er, noch Marti vorher oder nachher auch nur ein Wort gewechselt hatten. Beide Male hatte er Recht behalten. Es war zu seiner zweiten Natur geworden, Strömungen und Muster zu erkennen. Zu verstehen bedeutete Überleben.
Es war nicht leicht, sich scheinbar mit der Menge treiben zu lassen und gleichzeitig immer weiter von dem Podest wegzukommen. Letztlich hätte es keine Rolle gespielt, wenn er die Plattform dichter passiert hätte, die nunmehr von einem Kranz aus Piken umgeben war, nachdem die Soldaten die Gasse, durch die die Prozession gekommen war, freigegeben hatten. Es war unwahrscheinlich, dass einer von den Soldaten sein Gesicht kannte und fast unmöglich, dass dieser es dann in so einer Menge ausmachen würde. Das fast unmöglich wäre allein jedoch schon genug gewesen, um ihn hier wegzutreiben. Aber noch weniger wollte er in die Nähe der gefesselten Wirkerin und ihrer vier zu ihr gewandten Wächter kommen.
Der sich seit Stunden im Tiefgrau des Himmels abzeichnende Regen brachte Carl schließlich die ersehnte Öffnung der Menge, die dichten Tropfen die Rechtfertigung zur unverdeckten Eile. Dankbar brachte er die Szenerie in langen Schritten hinter sich. Nur wenige kannten noch eine andere Richtung als die vom Markt weg, aber die wenigen Unverbesserlichen, die selbst in diesem Wolkenbruch offenbar ihre Gelegenheit suchten, die Wirkerin zu sehen, schafften es erstaunlich oft der wegstrebenden Menge in den schmalen Straßen im Weg zu sein.
Aber Carl verschwendete keinen Gedanken an diese Dummköpfe. Schnell nahm er nicht mal das unablässig in sein Gesicht peitschende Nass noch wirklich wahr, während er sich zurechtzulegen begann, was er als nächstes tun würde. An jedem anderen Tag mit solchem Wetter hätte er schon über den sich ziehenden Weg durch die immer matschiger werdenden Straßen geflucht. Nur die Nordstraße und wenige um den Markt herum waren gepflastert. Aber für den Moment bedeutete, hier unter all den anderen eilig durch den Wolkenbruch zurück nach Hause strömenden Leuten zu sein, dass niemand wusste, wo er gerade war. Natürlich spielte das eigentlich keine Rolle. Wenn es bereits jetzt darauf ankäme, wäre ohnehin alles zu spät gewesen. Aber nach Stunden unter zu vielen aufs Neue sensibel gemachten Augen war es eine Erleichterung, weder auf seine Wirkung nach außen, achten zu müssen, noch das Gefühl zu haben, dass im nächsten Moment aus dem Nichts Hände nach ihm greifen und ihn mitnehmen würden.
Nur eine einzige weitere Gestalt war kurz vor ihm in die kleine Gasse angebogen, in der Carl seinen Laden hatte. Die hochgezogene Kapuze machte ein Erkennen genauso unmöglich wie die noch immer dicht fallenden Regentropfen, die schubweise fast waagerecht zwischen den hier nur noch höchstens zweigeschossigen Häusern entlang peitschten. Er duckte sich durch einen Schwall vom Dachfirst herab fallender Rinnsale durch seine Tür, bevor er sehen konnte, in welches Haus die andere Gestalt verschwinden würde. In diesem Wetter einen weiteren Moment zu warten, um etwas vermutlich vollkommen Belangloses zu sehen, kam nicht im Entferntesten in Frage.
Er beeilte sich nicht damit, durch den sehr überschaubaren Verkaufsraum zur Treppe nach oben zu gehen, um aus seinen nassen Klamotten herauszukommen. Dass er nass war, berührte ihn so wenig, wie der Regen selbst zuvor es getan hatte. Mit einer uneinordbaren Mischung von Empfindungen schweifte sein Blick über die mit allerlei Trödel gefüllten Regale zu beiden Seiten und hinter dem dunklen Tresen. Alles, was in irgendeiner Form als alt oder auch nur geringfügig ungewöhnlich bezeichnet werden konnte, füllte die Bretter und Fächer, manches schon so lange unberührt, dass er jede Erwartung, es jemals verkaufen zu können, längst aufgegeben hatte. Sofern sie je existierte. Die vom Alter fast schwarz gewordene Schnitzerei einer stilisierten, langbeinigen Katze, von der er nur die vordere Hälfte besaß, fiel genauso darunter wie der große eiserne Reif, der vor demselben Regal lehnte. Beinahe hüfthoch, wenn er ganz aufrecht gestanden hätte, schien er wie ein Seil aus zahllosen Metallsträngen geflochten zu sein, dessen Enden an einer Stelle mit einer breiten Manschette verbunden waren. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie jemand ein fast daumendickes Seil aus Metall herstellen können sollte. Aber was immer dahinter stecken oder woher es ursprünglich gekommen war, es hatte nie gereicht, um jemanden genug zu interessieren, es für den Preis zu kaufen, den Carl dafür verlangte.
Genügend andere Sachen zwischen noch viel mehr Dingen, die seine Regale nie verließen, erfüllten ihren Zweck als Ware in einem laufenden Geschäft weitaus besser. Zierrat wie kleine Spiegel oder alte Schatullen oder Praktisches wie ausgefallene Lampen mit ungewöhnlich bauchigen Aufsätzen aus manchmal buntem Glas. Nichts zu ausgefallenes, nichts was seinen Laden inmitten des bescheideneren Südwestviertels von Caradule außergewöhnlich erscheinen lassen würde.
Er hatte diese Fassade für sein Leben lieb gewonnen, in der der eigentümliche Reif oder die halbe Katze ihren Zweck genauso erfüllten wie die Lampen, Schatullen und beliebteren Figuren. Dieses Leben war das bisher längste, das er in Frieden geführt hatte, seit er Mareado verlassen hatte. Vielleicht war es das, was ihn in jetzt seinen eingebrannten Reflexen bremste, die in der Menge auf dem Markt übernommen hatten. In Asdere hatte er nicht gezögert, als die Zeit gekommen schien, genauso wenig in Rileth. Aber dort war er nur anderthalb Jahre und dann etwas mehr als elf Monate gewesen, nachdem er das Umherziehen leid gewesen war. Beinahe neun Jahre waren etwas vollkommen anderes.
Er griff nach seinem triefenden Hemd und stapfte in trübem Licht die schmale Treppe nach oben. Mochte sein, dass er begann, weich zu werden. Aber waren fünfzehn Jahre davonlaufen nicht genug? Er wusste genau, dass das Umherirren zwischen kurzen Illusionen normalen Lebens wahrscheinlich nie aufhören würde. Das tiefe Seufzen, das er entließ, als er noch auf der Treppe das nasse Hemd über seinen Kopf zog, galt mehr der Machtlosigkeit gegenüber dieser Gewissheit, als seinem Hemd.
Dann spürte er die Hände, die er in der Masse befürchtet hatte, tatsächlich auf seinen noch von nassem Stoff umfangenen Armen. Gnadenlose, kräftige Hände, die sorgsam darauf achteten, dass seine Augen vom Hemd bedeckt blieben. Als wenn das noch einen Unterschied gemacht hätte. Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu wehren.
„Habt ihr ihn?“, hörte er eine Stimme aus Richtung seines kleinen Schlafzimmers über dem Laden. Dass er sie wiedererkannte, kratzte nur unwesentlich an der durch ihn wallenden Kälte, die nichts mit seinen nassen Klamotten zu tun hatte. Es war die sonore Stimme des grauhaarigen Inquisitors, der gerade erst die Botschaft der Prozession in die Köpfe der Menge gemeißelt hatte.
„Wir haben ihn“, antwortete eine Stimme rechts neben ihm mit dem Klang eingespielter Routine und Effizienz, die weitere Worte überflüssig scheinen ließ.
Durch den Stoff vor seinen Augen sah er Licht auf sich zukommen, ehe er die leisen Schritte auf den Holzdielen hörte. Stiefel, teure Stiefel, wie seine Gedanken ihn absurderweise feststellen ließen. Der eigentlich wesentliche scheute sich noch immer, gänzlich hervorzukommen. Dabei schein die Welt aus nichts anderem mehr zu bestehen als seinem hämmernden Herzen, das mit jedem Schlag rief: Sie haben mich!


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Das ist das erste Mal, dass ich überhaupt etwas von mir Geschriebenes öffentlich zu lesen gebe. Aber ich bin einfach an einem Punkt, an dem ich differenzierteres Feedback von Leuten brauche, die ebenfalls schreiben (bzw. es wie ich versuchen ;o) ). Und ich bin vor allem neugierig, neugierig auf jeden Hinweis, was ich besser machen kann.
Auf jeden Fall bedanke ich mich für die Zeit, die diejenigen, die bis hierhin gekommen sind, in etwas von mir Geschriebenes zu stecken bereit waren!!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. ich wünsche dir viel lesevergnügen, so wie wir wohl auch an dir haben werden.
wie geht deine spannende geschichte weiter?
lg
 

A. K. Lange

Mitglied
Danke :) Bin gespannt, was sich hier so alles finden wird, aber auch was ich für mich hier so mitnehmen kann.

Die Geschichte geht bisher noch gar nicht in ausgeschriebener Form weiter. Ursprünglich sollte es eine aus einer kleinen Reihe von Geschichten sein, die in der Zeit vor jener spielen, über die ich bereits ein Buch geschrieben habe. Das sollte nicht über kleine Ausschnitte hinausgehen, die die Verfolgung der Wirker in weiten Teilen der Welt nachzeichnen, ebenso wie die Angst, die die in der Bevölkerung lebendig gehalten wurde.

Die im dem zu Grunde liegenden Roman "Ithiliasis" beschriebene (spätere) Zeit markiert einen entscheidenden Wandel im Weltgefüge und ist zu einer großen Geschichte geworden, die mir sehr gefällt. Es ist mein erster Roman, an den ich, wenn ich etwas weiter in meinen Fähigkeiten gewachsen bin, noch einmal mit etwas Abstand ran muss, um die Kinderkrankheiten aus den Anfangstagen meines Schreibens (Basics wie vereizelte Zeitraumunklarheiten i.d. Handlung; ich schreibe erst seit wenigen Jahren und hab dann gleich mit diesem nun fast 700 Seiter angefangen...) auszubügeln, aber auch um noch ein paar neue Ideen umzusetzen, die es noch weiter abrunden dürften.

Auch um eben jene Schreibfähigkeiten weiter auszubilden, sind die angesprochenen Geschichten gedacht gewesen. Nur kamen zu dieser Geschichte inzwischen genug neue Gedanken dazu, dass ich wohl nen eigenen kleinen Roman draus machen werde, der die ersten Zeichen von dem, was kommen wird (und im Roman "Ithiliasis" seinen vorläufigen Höhepunkt findet), tragen soll. Deshalb möchte ich ja auch gern Meinungen zu dieser Geschichte hören, denn sie soll nicht nur das Fundament, sondern gleich das erste Kapitel des Prequel-Romans werden...
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na prima.

dann lies dir mal die regelungen zum klappentext durch und verfahre also. dann werden wir deinen roman wachsen sehen und bei schlimmen fehlern aufmerksam machen.
lg
 



 
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