Psyche

AUFZEICHNUNGEN EINES WAHNSINNIGEN

Phantastische Erzählung von Stefan Seifert




Mein Name ist Hieronymus Lotter. Ich lebe in einer Provinzstadt und besitze einen kleinen antiquarischen Buchladen unweit der Universität. Ich führe ein ruhiges, allzu ruhiges Leben. Der Laden ernährt mich schlecht und recht. Meine Kunden sind Studenten, die billige Exemplare ihrer Standardwerke suchen und Sonderlinge, die es lieben, stundenlang in alten Folianten zu blättern.
In meiner Jugend hatte ich mir ein solches Leben sehnlich gewünscht, inmitten von Büchern, fernab vom Getöse der Welt. Durch eine Reihe von günstigen Umständen war ich später in der Lage, mir diesen Traum zu verwirklichen. Nun kommt es mir vor, als wäre ich in eine Falle geraten. Mein Leben verebbt allmählich an diesem Ort, mit dem immer gleichen Ausblick auf die stille, enge Gasse, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Manchmal denke ich, wen die Götter strafen wollen, dem erfüllen sie seine innigsten Wünsche.
Einer meiner Stammkunden der letzten Jahre war ein kleiner, weißhaariger Herr, der meinen Laden ein oder zweimal in der Woche aufsuchte und mich jedesmal in ein Gespräch über seltene Bücher, Raritäten und Kuriositäten verwickelte. Er zeigte dabei ein ganz erstaunliches, detailreiches Wissen, ganz so, als habe er selber einst mit den Verfassern oder längst vermoderten Besitzern dieser Werke verkehrt. Er interessierte sich besonders für alte Bücher über Chemie und Alchemie, sowie für Literatur über Geheimbünde wie die Freimaurer und die Rosenkreuzer. Ich konnte ihm beim Aufspüren und Beschaffen so manches seltenen Werkes behilflich sein, und da er von liebenswürdigem Wesen war, entstand zwischen uns ein vertrautes Verhältnis, was bei mir eine Seltenheit ist, da ich von Natur aus eher verschlossen und eigenbrötlerisch bin.
Eines Tages erschien er in meinem Laden und sagte, daß er sich von mir verabschieden wolle, da er sich auf eine längere Reise begebe und wir uns wohl nicht wiedersehen würden. Er habe etwas bei sich, was er nicht auf diese Reise mitnehmen könne, ein Manuskript mit der Lebensschilderung eines Freundes, der leider kürzlich verstorben wäre. Da ich der einzige Mensch in dieser Stadt sei, mit dem er engeren Kontakt habe, zudem ein Freund und Kenner des geschriebenen Wortes, bitte er mich, dieses Manuskript an mich zu nehmen und aufzubewahren. Ich könne es auch gerne lesen und im übrigen damit verfahren wie ich wolle. Er übergab mir sodann eine Mappe, drückte mir die Hand und verließ meinen Laden. Ich sah ihn mit Bedauern gehen. Er war mein bester Kunde und zudem ein anregender Gesprächspartner gewesen.
Da ich in meinem Laden über Zeit und Muße im Überfluß verfüge, öffnete ich bald die Mappe und besah mir ihren Inhalt. Er bestand aus mehreren Schreibheften, deren Seiten durchgehend mit einer klaren, fast kindlich zu nennenden Handschrift bedeckt waren. Ich begann zu lesen und je weiter ich dabei fortschritt, um so mehr ergriffen mich Erstaunen und Ratlosigkeit. Handelte es sich hier um die Erinnerungen eines hochbegabten und sensiblen Menschen oder um die wirren Phantasien eines zerrütteten Geistes? Ich konnte darüber zu keinem eindeutigen Urteil kommen, es gab Argumente für die eine wie für die andere Annahme. Schließlich entschloß ich mich, das ganze ohne weiteren Kommentar der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mögen Sie, lieber Leser, selber Ihr Urteil fällen. Meine Aufgabe ist erfüllt und ich ziehe mich wieder in die Abgeschiedenheit meines Ladens zurück.
H.L.







Der Inhalt der Hefte, nur geringfügig bearbeitet und korrigiert


Meine Kindheit kann nicht anders als glücklich genannt werden. Wenn ich in all den düsteren Jahren der Bedrängnis, die mir seither zuteil wurden, nicht verzweifelte, so ist das nur jenem Licht zu danken, das mir von dorther leuchtete.
Mein Vater war ein hochangesehener Mann. Als begnadeter Künstler und Gelehrter bekleidete er ehrenvolle Ämter und verkehrte mit den Großen und Mächtigen unseres vom Schicksal später so schwer gebeutelten Landes auf gleichem Fuße. Ihm wurden höchste Auszeichnungen zuteil. Dabei war er zu jedermann, ob Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen, Dienstboten oder gekrönte Häupter, gleichermaßen freundlich und anteilnehmend. Er achtete jedes Wesen gleich und respektierte es in seiner Art, ob es nun ein Minister war oder ein Straßenköter.
Auch meine Mutter war von freundlichem Wesen, dabei aber stolz, energisch und mit einem Sinn für die Realität. Mein Vater unternahm nichts, ohne zuvor ihren Rat und ihr Einverständnis eingeholt zu haben. Sie steuerte die Geschicke unserer Familie, war deren eigentliches Oberhaupt, ihr praktischer Verstand und Mittelpunkt.
Es gab noch verschiedene Dienstboten im Kosmos meiner Kindheit: die Köchin Theodora, den Kutscher Timofej, den Gärtner und Hausmeister Wadim, Gouvernanten und Dienstmädchen. Sie gehörten mit dazu. Sie trösteten mich, wenn ich Kummer hatte, erzählten mir seltsame Geschichten aus einer fremden Welt und einer fernen Zeit und sangen mich in den Schlaf. Ich neckte sie, spielte ihnen Streiche und schloß sie in meine Gebete ein.
Ich ging in keine Schule, sondern die Lehrer kamen zu uns ins Haus. Es war ihnen eine Ehre. Einige waren Kollegen meines Vaters, wenn auch in untergeordneten Positionen. Sie behandelten mich mit Respekt. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß es anders sein könnte.
Und doch gab es düstere Vorzeichen. So will es mir heute, im nachhinein, erscheinen. Damals war ich einfach erschrocken und verstört.
So ging ich einmal mit meiner Gouvernante in der Stadt spazieren. Sie kaufte mir ein Eis, sagte, ich solle vor einem Geschäft auf sie warten und ging hinein, um sich etwas anzusehen.
Da kamen plötzlich bedrohlich aussehende Kinder die Straße entlang. Ich trat ängstlich zur Seite, um sie vorbei zu lassen. Der größte und am gefährlichsten aussehende von ihnen schrie: „Seht den feinen Pinkel!“ und schlug mir das Eis aus der Hand, das klatschend auf der Straße landete. Die anderen johlten und fuchtelten mir mit den Fäusten vor dem Gesicht herum. Ich war zu Tode erschrocken und den Tränen nahe. Die Gouvernante kam aus dem Laden gestürzt und verjagte die Kinder. Sie drohte: „Ich rufe die Polizei!“
Die Kinder liefen davon und lachten. Der große reckte die Faust und schrie im Davonlaufen: „Wir kriegen euch, ihr Bürgerschweine!“
Später kam der Tod meines Vaters. Er erscheint mir heute wie der Beginn einer Abwärtsbewegung, die fast unmerklich in einen Absturz ins Bodenlose überging.
Ich war damals fünfzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium. Das Begräbnis war noch einmal ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges. Die bedeutendsten Persönlichkeiten versicherten meine Mutter und mich ihrer Anteilnahme und ihres Beistands.
Dann zogen wir aus unserem großen Haus in der Stadt, das mir so vertraut war wie ein Teil meiner selbst, in eine kleinere Wohnung. Das Haus auf dem Land, in dem wir, soweit ich zurückdenken konnte, den Sommer verbracht hatten, gaben wir auf. Die Dienstboten entließen wir bis auf die Köchin Theodora. Wir hatten immer ein großzügiges Leben geführt, Feste gefeiert und Empfänge gegeben. Es gab Abende, da fuhren unentwegt Kutschen und Automobile vor und Diener mit Leuchtern standen auf den Treppenabsätzen. Aber meinem Vater war es offenbar nie in den Sinn gekommen, etwas für schlechte Zeiten zurückzulegen. Wahrscheinlich waren solche schlechten Zeiten völlig außerhalb seiner Vorstellung gewesen, ebenso wie die Möglichkeit seines eigenen Todes.
Die Persönlichkeiten, die meiner Mutter und mir noch zur Begräbnisfeier so mitfühlend die Hand gedrückt hatten, fanden nicht den Weg in unsere neue, bescheidenere Behausung. Das kümmerte mich nicht im geringsten. Ich war mit mir selber beschäftigt, drang in neue geistige Welten vor und begann, meine noch unklaren Empfindungen in Gedichten niederzuschreiben. Ich ging in Cafés, um dort mit Literaten, Dichtern, Schauspielern und Verlegern zu verkehren und gab mir den Dichternamen Angelus. Ein erster schmaler Gedichtband von mir erschien, er hieß „Das Flammenschwert“. Heute würde ich mich wahrscheinlich seiner schämen, aber damals brachte er zum Ausdruck, was viele von uns Jungen empfanden: Das Gefühl, eingeengt zu sein, das Bedürfnis, Ketten zu sprengen und Grenzen zu überschreiten. Und die Sehnsucht nach einem großen Gefühl, nach einer Liebe, die in dieser irdischen Welt keine Erfüllung finden konnte.
Mit einem Schlag wurde ich in den literarischen Zirkeln der Stadt bekannt, man lud mich zu Dichterlesungen ein, die damals große Mode waren. Eine dieser Lesungen fand in einem Café statt. Ich las zusammen mit einem anderen jungen Autor aus meinen neuesten Gedichten. An den Wänden des Cafés hingen die Bilder eines jungen Malers, der ebenfalls zu unserem Kreis gehörte und dessen Aktzeichnungen als schockierend empfunden wurden. Das Café war brechend voll. Meine Gedichte wurden wohlwollend aufgenommen. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Dennoch hatte ich das Empfinden, eigentlich nicht verstanden zu werden. Die Anwesenden, vertraute Gesichter aus der literarischen Szene, waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und jeder arbeitete daran, sich möglichst effektvoll in Szene zu setzen. Das machte sich schon an der auffälligen Kleidung bemerkbar, an der Art zu sprechen und sich möglichst exzentrisch zu verhalten.
Einzig ein Gesicht fiel mir auf, das sich von den anderen abhob, das mir aus der Menge entgegenleuchtete, auf dem ich Verstehen und Sympathie, ja Begeisterung und vielleicht Liebe las. Es gehörte einem jungen Mädchen, das ich vom Sehen kannte. Sie war die Tochter eines Professors, der flüchtig mit meinem Vater bekannt gewesen war. Nach der Lesung sah ich sie nicht mehr, aber ihr kindliches Gesicht mit den erstaunten großen Augen hatte sich mir fest eingeprägt. Erst Jahre später sollte ich sie unter anderen Verhältnissen wiedersehen.
Inzwischen vermehrten sich die Zeichen des Unheils. Das öffentliche Leben wurde von Skandalen erschüttert. Respektable Männer und Frauen wurden in Mißkredit gebracht, brüskiert und zogen sich aus dem öffentliche Leben zurück. Auch mir erschienen sie damals als Repräsentanten einer veralteten, überholten Ordnung. Allerlei fragwürdige Personen mit dunkler oder gänzlich unbekannter Vergangenheit bekleideten hohe politische Ämter. Der Staat stürzte von einer Krise in die andere, die Wirtschaft kollabierte.
Schließlich gelangte eine radikale revolutionäre Partei mit einem charismatischen Führer an die Macht. Sie erklärte offen das Privateigentum zur Ursache allen Übels in der Gesellschaft und kündigte entschlossene Maßnahmen zur Verstaatlichung von Wirtschaft und Gesellschaft an. Künstler und Intellektuelle wurden zu schweren körperlichen Arbeiten zwangsverpflichtet. Verhaftungskommandos waren unterwegs, zunächst nachts, später auch am Tage. Verhaftet wurden die Vertreter der alten Ordnung, Industrielle, Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller, aber auch politische Rivalen der Machthaber.
Es gab Schauprozesse, in denen bekannte Persönlichkeiten sich der schrecklichsten Verbrechen schuldig bekannten. In den Gerichtssälen durften die Angeklagten weder gefilmt noch photographiert werden, damit man nicht die Spuren der Folterungen sah. In den Wochenschauen erschienen immer nur die Gesichter der wortgewaltigen Ankläger auf der Leinwand. Die Erschießungskommandos arbeiteten ohne Pause.
Der Exodus war in vollem Gange. Wen man noch nicht verhaftet hatte und wem noch nicht der Paß weggenommen worden war, der versuchte ins Ausland zu entkommen.
Fast alle meine Dichter- und Malerfreunde hatten das Land schon verlassen. So beschloß auch ich, zu gehen. Ich tat es ungern, denn ich fürchtete die Unbehaustheit, die mich im Exil erwartete. Nicht daß dieses Gefühl mir fremd gewesen wäre. Spätestens seit dem Tod meines Vaters war es mir ein vertrauter Begleiter. Dennoch hatte ich hier in meiner Heimatstadt meine Wurzeln, konkrete Ausgangspunkte, von denen ich mich in das unbekannte und geheimnisvolle Land der Poesie vorwagte. Es gab die vertraute Silhouette der Stadt, den Fluß mit seinen Brücken, die Straßen meiner Kindheit. In der Fremde hatte ich nur mich selbst. Konnte ich darauf bauen?
Meine Mutter blieb mit Theodora zu Hause zurück. Sie wollte die Heimat nicht verlassen, dem Grab meines Vaters nahe sein. Die Aussicht auf Verhaftung oder Tod schreckte sie nicht. Sie war nicht nur eine stolze sondern auch eine mutige Frau.
Sie stattete mich mit allem aus, was mir auf der Reise von Nutzen sein konnte: Kleidung, Geld, gute Ratschläge. Der Abschied war tränenreich und ich war froh, als ich mit meinem Koffer auf der regennassen Straße war.
Der Bahnhof war mit Menschen verstopft. Es war unmöglich, zu den Fahrkartenschaltern vorzudringen. Außerdem waren die sowieso geschlossen. Dennoch konnte man Fahrkarten kaufen. Schwarzhändler schoben sich durch die Menge und machten ihre Angebote. Es dauerte nicht lange, bis auch ich angesprochen wurde. Ein Mann mit einer dunklen Brille und einer tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze bot mir eine Fahrkarte in eine europäische Hauptstadt an. Ich mußte ablehnen, da der Preis meine Mittel überstieg.
Wenig später wurde ich wieder angesprochen. Wieder war es ein Mann mit einer dunklen Brille, doch dieses Mal hatte er einen Filzhut auf dem Kopf. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, daß es der gleiche Mann wäre, nur in etwas anderer Verkleidung. Doch der Gedanke war absurd.
Diesmal bot mir der Mann eine Fahrkarte zu einem Preis an, den ich akzeptieren konnte.
Wir machten den Handel perfekt, ich steckte die Fahrkarte ein und versuchte, mich in Richtung der Bahnsteige durchzudrängen.
Der Zug war überfüllt. Trotzdem gelang es mir, einen Sitzplatz in einem Abteil zu ergattern. Die Menschen standen, saßen und lagen überall in den Gängen. Ab und zu öffnete jemand die Tür unseres Abteils und starrte hinein. Es schien sich mehrmals um die gleiche Person zu handeln, mit unterschiedlichen Brillen oder Hüten ausstaffiert. Sein forschender Blick ruhte besonders lange auf mir, als versuchte er, mich zu identifizieren.
Kurz vor der Grenze verließen etliche Reisende den Zug. Wahrscheinlich waren sie nicht im Besitz eines gültigen Passes oder hatten andere Gründe, die Grenzkontrollen zu fürchten. Sie versuchten, meist mit Hilfe von Schleppern, die Grenze zu Fuß zu überwinden.
An der Grenzstation wurde der Zug von bewaffneten Kommandos durchkämmt. Auch unsere Abteiltür wurde aufgerissen und herein kam ein uniformierter Beamter mit zwei Soldaten als Begleitung.
Der Aufforderung, die Pässe vorzuzeigen hätte es nicht bedurft, wir hielten sie alle furchtsam in der Hand.
Der Uniformierte besah sich jeden einzelnen Pass gründlich und verglich die Namen mit einer Liste. Jeden der Passagiere fragte er nach Ziel und Zweck seiner Reise, und alle erzählten ängstlich ihre vorbereiteten Geschichten von Verwandtenbesuchen und Geschäftsreisen. Sie wurden von dem Kontrolleur mit Hohnlächeln quittiert. Er ließ sich anmerken, daß er kein Wort glaubte.
Ich antwortete auf seine Frage wahrheitsgemäß, daß ich der Einladung meines ausländischen Verlegers folgte. Der Uniformierte horchte auf. Er schaute noch einmal auf seiner Liste nach, dann befahl er mir, meinen Koffer zu öffnen und den Inhalt auszupacken. Er konfiszierte ein Bündel mit Manuskripten und sagte, es müsse auf verräterische und volksfeindliche Schriften untersucht werden.
Dann ließ er sich die Koffer der anderen Passagiere öffnen. In einem fand er einen großen Besteckkasten mit Tafelsilber, den er sofort konfiszierte.
„Aber es handelt sich um ein Familienerbstück,“ jammerte der Besitzer. Der Uniformierte sah ihn kalt an.
„Ich könnte Sie auf der Stelle verhaften lassen,“ sagte er ruhig. „Sie haben versucht, Kulturgut, das unserem Volk gehört, ins Ausland zu schmuggeln. Darauf steht Zuchthaus oder Todesstrafe.“
Der Besitzer des Tafelsilbers schwieg unglücklich und verschreckt.
Der Uniformierte verließ mit seinen Begleitern das Abteil. Alle packten bedrückt wieder ihre Habseligkeiten in die Koffer. Der mit dem Silberbesteck, nunmehr ohne dasselbe, jammerte:
„Wovon soll ich jetzt leben im Ausland? Ich wollte das Besteck verkaufen ...“
„Seien Sie still,“ zischte ihm sein Nachbar zu. „Seien Sie froh, daß Sie noch so gut weggekommen sind.“
Nach einer scheinbar endlos langen Wartezeit fuhr der Zug wieder an. Auf dem Bahnhof blieb eine Gruppe von Reisenden zurück, die nicht so glücklich gewesen waren wie wir. Sie wurden von Soldaten weggeführt.
Unser Zug fuhr durch eine unscheinbare, flache Landschaft. Irgendwo hier mußte die Grenze verlaufen. Die Abteiltür wurde von einem Mann mit runder Brille aufgerissen. Es war wohl der gleiche, der schon mehrmals während der Reise die Abteiltür geöffnet und prüfend hineingesehen hatte, manchmal eine Entschuldigung murmelnd, manchmal nicht. Er hielt meine Manuskripte in der Hand und reichte sie mir.
„Das gehört ihnen,“ sagte er. „Seien sie unbesorgt. Wir bleiben in Verbindung.“

Sofern irgendwelche Beziehungen zwischen den Reisenden während dieser Bahnfahrt entstanden waren, so zerstoben sie in nichts, kaum daß wir in den Bahnhof der großen westlichen Stadt eingefahren waren. Alle die Passagiere mit ihren Schicksalen, Bestimmungen, Vorhaben und Plänen wurden von der Stadt aufgesogen wie von einem großen Schwamm.
Ich begab mich zunächst zu einer Telephonzelle und rief meinen Verleger an. Der erschien sofort persönlich mit einem Taxi und brachte mich in seine Privatwohnung, wo ich mich erfrischen und von der Reise erholen konnte.
Wir sprachen über den Verkauf meines Buches. Der Verleger sagte, für einen Lyrikband seien die Zahlen ermutigend. Er wollte Lesungen mit mir organisieren, um das Geschäft zu beleben.
Niemals fiel das Wort Exil. Mein Verleger empfahl mir auch, nichts Negatives über die politischen Vorgänge in meiner Heimat zu äußern, da das mir und dem Verkauf meines Buches nur schaden würde. Unter den westlichen Intellektuellen war es Mode, mit der revolutionären Entwicklung meines Heimatlandes zu sympathisieren.
Ich konnte natürlich nicht auf Dauer bei dem Verleger wohnen und ein Hotelzimmer war zu teuer. Ein Ehepaar namens Haslinger besorgte mir eine sehr preiswerte Unterkunft. Sie gaben vor, Bewunderer meiner Gedichte zu sein und gehörten zum weiteren Bekanntenkreis des Verlegers.
Meine neue Wohnung befand sich außerhalb der Stadt am Rande einer trostlosen Neubausiedlung. Vom Stadtzentrum aus mußte man zunächst mit der Straßenbahn und dann etwa eine Stunde mit der Eisenbahn fahren. Danach hatte man noch einen Fußmarsch vor sich.
An dessen Ende winkte mir als Unterkunft eine hölzerne Hütte in einem Gartengrundstück. Die Besitzerin wohnte in einem häßlichen roten Ziegelhaus auf der anderen Seite des Gartens. Als Toilette diente ein Verschlag mit einem sogenannten Donnerbalken. Zum Waschen hatte ich eine Schüssel, in die ich mit Müh und Not das Gesicht eintauchen konnte.
Ich dachte an Cervantes, der den „Don Quijote“ im Kerker geschrieben hatte. Warum sollte ich hier nicht Gedichte schreiben können? Ich legte das Bündel mit meinen Manuskripten auf den rohen Holztisch und begann darin zu lesen. Meine eigenen Verse erschienen mir fremd, wie aus einer anderen Welt. Ich mußte sie umschreiben. Und neue schreiben. Plötzlich hatte ich eine Ahnung, was Exil bedeutete. Ein ununterbrochenes Nichtzuhausesein. Leben mit einer offenen Wunde. Doch war das nicht die für einen Dichter einzig mögliche Lebensform? Dieser Gedanke versöhnte mich wieder halbwegs mit meinem Schicksal, machte mir mein Los erträglicher.
Nein, ich durfte mich nicht beklagen. Ich mußte diesen Weg gehen und ihn als den mir von Anbeginn der Welt an zugedachten akzeptieren, ja umarmen.
Ich blieb lange wach in dieser Nacht, bis die Hauswirtin kam und sagte, ich solle das Licht löschen, der Strom sei teuer. Am nächsten Tag kaufte ich mir Kerzen, die ich abends anzündete. Wieder kam die Hauswirtin und sagte erbost, der Umgang mit offenem Licht sei in dem hölzernen Gartenhäuschen streng verboten und sie würde die Polizei holen. Schließlich kaufte ich mir eine Taschenlampe.
Im übrigen hielt ich mich nach Möglichkeit nur zum Schlafen in meinem neuen Domizil auf. Wurde es einmal sehr spät, konnte ich in der Wohnung meines Verlegers übernachten.

Ich führte das Leben eines Großstadtnomaden. Ich durchstreifte die Stadt zu Fuß, mit der Straßenbahn, dem Bus oder mit der Untergrundbahn. Doch merkte ich bald, daß das zu nichts führte. So konnte ich nichts und niemanden kennenlernen. Die Menschen waren hier anders, als ich es gewohnt war. Sie blickten einen nicht an. Es war, als wäre man aus Glas. Alle hatten es eilig, es gab keine Flaneure. Man bewegte sich zielstrebig von Punkt A nach Punkt B. Ging einer langsam, ohne Ziel, dann stimmte etwas nicht mit ihm. Er war krank, hatte sich verlaufen oder war betrunken. War ein Schutzmann in der Nähe, fragte er, ob er ihm helfen könnte. Ich wurde mehrmals in dieser Weise angesprochen.
Was blieb, waren die Cafés. Dort konnte man sich aufhalten und Gespräche führen, dort traf man Bekannte oder lernte andere Menschen kennen. Ich schaffte es sogar, in Cafés Gedichte zu schreiben, was mich allerdings viel Überwindung kostete, da Gedichte schreiben für mich eine sehr intime Angelegenheit ist, die der Zurückgezogenheit bedarf. Einmal schrieb ich ein Gedicht in einem Lokal, in dem kein Bekannter zu sitzen schien, an einem etwas abseits befindlichen Tisch. Ich war ganz vertieft, als mich plötzlich jemand von der Seite ansprach:
„Guten Tag, Herr Angelus. Was schreiben Sie denn da Schönes, mein Lieber?“
Ich bekam einen furchtbaren Schreck, zuckte zusammen, raffte meine Habseligkeiten an mich, warf ein Geldstück für den Kellner auf den Tisch und verließ in panischer Flucht das Café. Noch lange irrte ich mit fliegenden Pulsen durch die Straßen. Es war mir, als hätte jemand in den geheimsten Winkel meiner Seele gespäht, mich bei Allerprivatestem beobachtet.
Ein andermal blickte ich von meinen Versen auf und traf den Blick eines Mannes mit einer runden Brille, die aus einem Theaterfundus zu stammen schien. Er starrte mich über den Rand einer Zeitung hinweg durchdringend an. Ich zahlte sofort und ging. Das Lokal betrat ich nie wieder.
Das Schlimme an den Cafés war, das man dauernd irgendetwas verzehren mußte. Kaum hatte man sich auf einen Stuhl gesetzt, schon stand ein Kellner da und fragte, was man wünschte. Ich wünschte gar nichts von dem Kellner, ich wünschte in Ruhe gelassen zu werden. Statt dessen bestellte ich einen Kaffee oder ein Bier. Wieviel Kaffee mußte ich trinken, den ich nicht trinken wollte, den ich verabscheute. Am liebsten waren mir die Cafés, in denen man stundenlang vor einer halbgeleerten Tasse Kaffee sitzen konnte, ohne von einem Kellner belästigt zu werden.
Das Gefühl der Unwirklichkeit meiner Existenz wurde durch das Leben in den Cafés bis zum Alptraum gesteigert. Die gewöhnlichen Gäste kamen von irgendwoher, bestellten etwas, unterhielten sich oder lasen die Zeitung, zahlten und gingen irgendwohin. Zurück zu ihrem normalen Leben, zu Beruf und Familie. Wenn ich ging, ging ich lediglich in ein anderes Café. Ich täuschte eine bürgerliche Existenz nur vor. Alles an mir erschien mir falsch. Mein Pseudonym. Mein Beruf.
Der Dichter Angelus, dessen Gedichte man in Büchern oder Zeitschriften lesen konnte, war mir völlig fremd. Das war nur eine der Masken, hinter denen ich meine Nichtexistenz verbarg. Das Gefühl des Fremdseins, des Sichverlaufenhabens und der Einsamkeit war manchmal so stark, daß ich auf der Straße stehen blieb, weil ein jäher Schmerz mich durchfuhr und mein Inneres sich zusammenkrampfte.
War das nur das Exil, die Unbehaustheit in der Fremde? Oder war es etwas Tiefergehendes, etwas, was schon viel früher begonnen hatte, eigentlich schon mit meiner Geburt? War ich mit einer Krankheit geschlagen, die erst mit meinem Tod enden würde?
Vielleicht war es so. Ganz sicher sogar. Aber dann war das ja die Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit meiner Existenz. Dann war diese Krankheit meine wahre Identität. Diese Krankheit war – ich. Ich mußte sie dankbar annehmen und als meine Aufgabe betrachten. Als meine Mission. Ich würde mit blutenden Wunden dichten. Oder mich von einem Turm stürzen. Oder einfach zurückkehren in mein schwer gebeuteltes Heimatland und geduldig auf die Verhaftung warten. Aber wenn sie mich nicht verhafteten? Wenn sie mich einfach ... ignorierten? In den Orkus des Vergessens stürzten? Mich mir selber überließen?

Mein Verleger hatte eine Lesung organisiert. In einem Café natürlich, wo sonst. Ich sollte aus einem Buch mit einer Auswahl meiner Gedichte vorlesen, das gerade erschienen war. Es hieß „Menetekel“. Eine Neuauflage war in Vorbereitung. Dazu hatte ich einen Großteil der Gedichte umgeschrieben. Ich hatte neue Erfahrungen in sie einfließen lassen.
Ich kam viel zu früh in das Café. Der Verleger saß mit mehreren mir völlig fremden Menschen zusammen, die mich neugierig anstarrten. Ich war erschrocken und ging wieder hinaus, obwohl der Verleger mir lebhaft zuwinkte. Ich setzte mich stattdessen in ein kleines Lokal in der Nachbarschaft und trank sehr langsam einen Kaffee, bis die vereinbarte Zeit herangekommen war. Als ich zahlen wollte, ließ der Kellner sich nicht blicken, und ich kam etwas verspätet an den Ort der Lesung zurück. Der Raum hatte sich inzwischen mit Publikum gefüllt.
Der Anblick all dieser Menschen, die ich nicht verstand und die mich vermutlich nicht verstehen würden, flößte mir Angst ein. Ich zögerte einen Moment und überlegte, ob ich wieder umkehren und gehen sollte. Da sah ich sie. Ihr kindliches Gesicht mit den großen dunklen Augen, das aus einer Märchenwelt zu kommen schien. Sie war hier, die Tochter des Professors. Nach all den Jahren und allem, was seitdem passiert war, war sie auch hierher gekommen.
Auf einmal schien alles ganz einfach. Dieses fremde Land, diese ungastliche Stadt waren nicht mehr fremd und ungastlich, sondern ein freundlicher Hort, eine Zuflucht für Fabelwesen wie sie und mich. Durch ihre und meine Anwesenheit wurde alles verzaubert. Ich allein hätte diese Kraft nicht aufgebracht. Aber mit ihr ...
Ich ging mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Sie streckte mir ebenfalls die Hände entgegen und lächelte mich an.
„Meine Liebe,“ sagte ich (sie hieß Maria, aber das ist völlig gleichgültig). „Daß Sie heute hier sind!“
„Sie haben mich erkannt?“ fragte sie erstaunt, mit ihren großen, leuchtenden Kinderaugen.
„Wie sollte ich nicht!“, rief ich. „Seit jenem Abend, wie lange ist es jetzt schon her, habe ich ständig an Sie gedacht, wenn ich geschrieben habe. Solange es Menschen wie Sie gibt, dachte ich, solange kann es nicht völlig vergebens sein, was ich schreibe oder zu schreiben versuche oder auch nicht schreibe sondern nur träume. Gestatten Sie, daß ich heute abend nur für Sie lese. Wer sonst könnte mich wie Sie verstehen?“
In der Mitte des Raumes standen, einsam und verloren, ein Stuhl und ein kleiner Tisch mit einer Lampe. Dieser Platz war für mich bestimmt, den Fremden, den Dichter. Als sollte ich zur Schau gestellt werden: Seht dieses eigenartige Wesen. Diese Laune von Mutter Natur.
Ich setze mich und achtete darauf, daß sie in meinem Blickfeld war.
Ich stellte mir vor, daß meine Gedichte für sie bestimmt wären. Die Worte bekamen auf einmal einen ganz einfachen Sinn, warum sollte man sie nicht verstehen? Außerdem, Verse muß man gar nicht verstehen, man hört sie wie Musik. Ich hatte mir ganz umsonst Sorgen gemacht, meine Verzweiflung war unbegründet gewesen. Meine seltsamen Gedanken und Vorstellungen, dieses Verschlüsselte, Allerprivateste, war möglich, sagbar, hörbar, sogar erwünscht.
Nach der Lesung streiften wir durch die nächtliche Stadt und erzählten uns voneinander. Sie wohnte mit ihrer Tochter in einer Pension. Ihr Mann war im Ausland, sie erwartete ihn aber täglich zurück.
Als wir durch die Straßen gingen, bemerkte ich mit Erstaunen, an was für einem geheimnisvollen, verzauberten Ort wir uns befanden. Wir machten uns gegenseitig auf Merkwürdiges und Erstaunliches aufmerksam. Es war, als würden graue Tücher weggezogen, mit denen man Häuser und Straßen verhängt hatte. Wie hatte ich nur glauben können, daß ein Dichter hier nicht leben konnte. Ich mußte alles, alle meine Gedichte über die Fremde, noch einmal umschreiben. Was ich geschrieben hatte, war ja nicht mehr wahr. Hier war keine Wüste, hier war Wunderland.
Sie begleitete mich bis zum Bahnhof und mußte mir versprechen, mich gleich am nächsten Tag zu besuchen. Mit ihrer Tochter, die sechs Jahre alt war. Ein kluges, stilles Kind. Ich zeichnete ihr einen detaillierten Plan, wie sie zu mir finden würde. Beinahe hätte ich über das Zeichnen dieses Planes meinen letzten Zug verpaßt.

Am nächsten Vormittag saß ich auf der hölzernen Veranda vor meinem Häuschen, in der Erwartung, ihre Silhouette am Ende der Straße auftauchen zu sehen. Ich bemerkte das Mythische der Situation. Das Schicksal führt uns zusammen. Und wird uns wieder trennen. Und dazwischen diese Begegnung, die uns magische Kräfte verleiht.
Ich wußte, es konnte nicht unser erstes Zusammentreffen gewesen sein. Wir waren uns schon früher begegnet, vor Jahrhunderten, Jahrtausenden. In jedem unserer Leben vollzog sich das Wunder erneut, wurden wieder Magie und Poesie geboren.
Irgendwann einmal, so sinnierte ich, waren wir vereint gewesen. Vielleicht im Paradies, vor Adam und Eva. Wir waren in Harmonie mit der Welt, wir sprachen mit Pflanzen und Tieren und mit dem Wind. Dann brach die Welt auseinander und wir wurden hinausgeworfen ins Unwirtliche. Doch ein gnädiger Gott hatte Mitleid mit unserem Elend und ließ zu, das wir uns alle hundert Jahre wieder trafen und für einen winzigen Augenblick die alte Harmonie des Kosmos wieder hergestellt war. Dieser Augenblick war jetzt, so sagte ich mir, wenn sie am Ende der Straße auftauchte.
Dann stand sie vor mir, mit der Tochter an der Hand. Die Tochter mußte dringend Pipi machen. Ich empfahl ihr die Sträucher des Gartens. Den Donnerbalken wollte ich ihr nicht zumuten.
Wir sprachen nicht über Gedichte. Über Verse kann man nicht sprechen. Nicht mit Worten. Vielleicht mit Schweigen.
Die Tochter saß still da, sie langweilte sich gewiß. Wir beschlossen, diese ungastliche Stätte zu verlassen und in die Stadt zu fahren. Wir wollten dem Kind eine Freude machen und gingen in den Zoo.
Der Zoo gehört zu den Orten, die ich gewöhnlich meide. Dort sind Tiere eingesperrt, bedauernswerte, gequälte und gedemütigte Wesen, und werden von Schaulustigen für Geld angegafft. Das ist nicht lustig. Ich fühlte mich elend in der dumpfen Menge der Voyeure. Manchmal fing ich den halben Blick eines Tieres auf und es war, als wollte es sagen: Auch du...? Schämst du dich nicht?
Im Zoo gab es ein Lokal, dort aßen wir zu Mittag. Sie sagte, ich könne unmöglich dort draußen wohnen bleiben, fernab der Zivilisation. Sie wollte sich hier im Stadtzentrum nach einer Unterkunft für mich umsehen. Ich könnte doch in einer Pension wie der ihren wohnen. Das sei durchaus nicht so teuer. Was das denn für Leute wären, die mir diese erbarmungswürdige Behausung besorgt hatten?
Ich beschrieb ihr das Ehepaar Haslinger, das ich nur ein oder zweimal gesehen hatte.
Frau Haslinger war eine Frau schwer bestimmbaren Alters, vielleicht um die dreißig, schlank, mit dunklem Pagenkopf und einem Puppengesicht. Sie lachte nie und bemühte sich, keine Emotionen zu zeigen, denn sie war der Meinung, das Verziehen der Gesichtszüge erzeuge Falten. Ihr Mann war offenbar um einiges älter als sie. Er war groß, hatte graue Haare und auch sonst war alles an ihm grau, seine Haut, seine Augen, einfach alles. Er sagte, er wäre ein ehemaliger Häftling und hätte während seiner Haftzeit in einer chemischen Fabrik arbeiten müssen. Die giftigen Dämpfe dort hätten ihn krank gemacht.
Sie (sie hieß Maria in diesem Leben, aber das ist ohne Bedeutung) schüttelte bedenklich den Kopf. Was ich ihr von den Leuten erzählte, gefiel ihr nicht. Sie glaubte, es wäre kein Zufall, daß man mich in dieser Einöde untergebracht hatte.
„Sie packen am besten sofort ihre Sachen und ziehen in unsere Pension,“ sagte sie. Ich willigte mit Freuden ein.
Ich kündigte der Wirtin, die mich mißtrauisch anstarrte und vor sich hin schimpfte, zahlte die Miete für den laufenden Monat und verließ den ungastlichen Ort.
Als ich in der Pension meinen Koffer auspackte, durchfuhr mich ein Schreck wie ein Stromstoß: Meine Manuskripte waren weg. Es waren meine jüngsten Arbeiten, die Umarbeitungen meiner Gedichte, die ich jetzt erneut umarbeiten wollte, aber auch ganz neue Verse. Ich ging zu ihr und klagte ihr mein Leid.
Sie sagte, ich müsse noch einmal zurück, in die alte Wohnung, sicher hätte ich meine Manuskripte dort liegengelassen. Das konnte ich nicht glauben. Dennoch fuhren wir zusammen hin. Ich klingelte bei der Wirtin. Nach einer Weile öffnete diese die Tür einen Spalt weit. Die Sicherheitskette war vorgelegt.
Ich sagte, ich müsse noch einmal in das Gartenhäuschen, ich hätte etwas Wichtiges vergessen. Sie blickte mich haßerfüllt und zugleich furchtsam an.
„Gehen Sie weg!“ zischte sie. „Kommen Sie nie wieder hierher!“
Dann zog sie die Tür zu. Wir beschlossen, dennoch zu dem Gartenhäuschen zu gehen. Die Tür war offen. Drinnen sah es aus, als wäre nach mir noch jemand hier gewesen. Schubladen waren aufgezogen, Möbelstücke verrückt. Meine Manuskripte waren nicht da. Ich war verzweifelt. Wir fuhren wieder zurück in die Pension. Als ich mein Zimmer betrat sah ich sofort das Bündel Manuskripte auf dem Tisch liegen.
Was hatte das zu bedeuten? Waren hier dunkle Mächte am Werk, oder war ich dabei, den Verstand zu verlieren?

Am darauffolgenden Tag kam ihr Mann aus dem Ausland zurück. Er war ein ehemaliger Militär, jetzt Doktor der Philosophie. Er wirkte auf mich beruhigend. Ihr Ehemann konnte nur ein guter Mensch sein. Etwas anderes war gar nicht denkbar.
Er war von eher kleinem Wuchs, schmal, mit hoher Stirn und dunklen, ernsten Augen. Sein Wesen war zurückhaltend und nüchtern. Er sprach und dachte in eindeutigen Begriffen, auch moralisch. Für ihn waren die Welt und die Menschen wie ein aufgeschlagenes Buch. Es gab keine Frage, auf die er nicht eine klare und erschöpfende Antwort wußte.
Dr. Z., so will ich ihn hier nennen, hatte sich in geistigen Kreisen schon einen Namen gemacht. Er hatte in Prag und Wien studiert und promoviert und verschiedene kulturkritische und philosophische Aufsätze veröffentlicht, die Aufsehen erregt hatten. In diese Stadt war er gekommen, um aktiven Einfluß auf das brodelnde geistige Leben, das hier stattfand, auszuüben und um die Leitung einer literarischen Zeitschrift zu übernehmen.
Dr. Z. nahm seine Mahlzeiten nicht in der Pension, sondern in einem unweit gelegenen, gut besuchten vegetarischen Restaurant ein, wohin wir, sie und ich, ihn begleiteten. Er war Vegetarier und ernährte sich nach einem strengen Diätplan, der nur Produkte biologisch-natürlicher Landwirtschaft umfaßte. Er sagte, durch eine Ernährung, die sich im Einklang mit den positiven Kräften in der Natur befindet, würden im Menschen Kräfte für das Geistige frei. Durch die heutige degenerierte Ernährung würden diese Kräfte nicht nur vernachlässigt, sondern negative, dem Menschen schädliche Kräfte geweckt.
Vor allem gälte es, im Inneren Substanz zu vergeistigen und diese durchgeistigte Substanz als neue, belebende Energie dem Kosmos zurück zu geben.
Anschließend gingen wir in den nahen Park.
„Sie müssen wissen,“ sagte Dr. Z., „daß bei der Tötung eines Tieres enorme negative Schwingungen freigesetzt werden, die chemische Veränderungen im Körper des Tieres bewirken und das Fleisch für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet machen. Ein fleischessender Mensch ist ein Mensch mit einem vergifteten inneren Kräftekreislauf und von daher mit einer vergifteten Seele. Er hat negative Gedanken und Gefühle. Er wird seinerseits versuchen, anderen Wesen seinen Willen aufzuzwingen, sie zu verletzen oder zu töten.
Das war im Einklang mit dem Gesetz der Entwicklung, als die Menschen in einander bekämpfenden Horden über die Erde zogen und von der Jagd lebten. Dem heutigen Menschen aber verbietet sich der Fleischverzehr auf das Entschiedenste. Stehen wir doch heute am Beginn eines Zeitalters mit ganz neuen Wirkungskräften.
Sehen Sie sich unsere Welt heute an, unsere Technik, unsere Zivilisation. Sie befinden sich auf einem sehr hohen Entwicklungsstand, gewiß. Aber worauf beruht unsere vielgerühmte Technik? Im Grunde immer noch auf dem Faustkeil. Die natürlichen Formen werden zerteilt, zerstört, vergewaltigt. Enorme Energiemengen werden für den Mißbrauch und die Zerstörung der Natur eingesetzt. Dabei könnte man schon mit ungleich geringeren Energiemengen wesentlich größere Wirkungen hervorrufen. Man müßte nur nicht gegen, sondern mit der Natur arbeiten, im Einklang mit den natürlichen Kräften und Schwingungen. Wozu man heute riesige Fabriken und Apparate und Heerscharen von Arbeitssklaven benötigt, dazu bedürfte es dann nur - eines Lächelns.“
„Ihre Frau,“ sagte ich, und blickte sie liebevoll an, „Ihre Frau ist ein solcher Mensch der Zukunft. Ihr Lächeln besitzt magische Kräfte.“
„Ich weiß,“ sagte Dr. Z. „Und lassen Sie mich Ihnen noch etwas sagen. Auch Sie, mein lieber Angelus, sind ein ungewöhnlicher Mensch. Das habe ich sofort gespürt, als ich Sie das erste Mal sah, ja, als ich das erste Mal ihre Gedichte las. Auch Sie sind ein Mensch der Zukunft, ein zu früh geborener. Das ist auch Ihre Tragik. Sie müssen furchtbar leiden in dieser entwurzelten Zeit, da Sie über eine hochempfindliche seelische Substanz verfügen, die feinste Schwingungen sowohl wahrnehmen als auch erzeugen kann. Sie gehören zu einem Menschentyp, der seit der Antike in wenigen, seltenen Exemplaren erschien und der auf Kommendes hinweist.
Aber in einer Zeit des Umbruchs wie der unseren sind Sie gefährdet. Wenn gewisse Kräfte und Wesen Sie erst einmal ausgespäht haben, werden sie versuchen, Ihrer habhaft zu werden und Ihre Fähigkeiten zu mißbrauchen. Und wie ich gehört habe, gibt es bereits erste Anzeichen, daß dergleichen geschehen ist. Man hatte Sie mit Hilfe des Ehepaares Haslinger an einem abgelegenen Ort untergebracht - möglicherweise um sie dort zur Erzeugung von Phantomen zu mißbrauchen.“
Ich blickte ihn erstaunt an.
„Was meinen Sie damit?“ fragte ich. „Was sind Phantome und warum wollte man sie mit meiner Hilfe erzeugen?“
„Phantome,“ erwiderte Dr. Z., „sind geistige Wesenheiten, also feinste Schwingungen des Äthers, wie ja alles letztlich aus Ätherschwingungen besteht. Sie sind aber der physischen Welt von allen geistigen Wesen am nächsten, das heißt, sie besitzen auch physikalische Eigenschaften. Sie entstehen als Reaktion auf negative Schwingungen und Störungen von harmonischen Abläufen durch Lüge, Gewalt oder Bedrohung.
Sie durchstreifen unsere irdische Welt und wirken verhängnisvoll auf die menschliche Entwicklung. Wenn sich genügend von ihnen angesammelt haben, kann es zu Katastrophen wie Kriegen, Vernichtungen und Zerstörungen großen Ausmaßes kommen.
Es liegt auf der Hand, daß jemand mit Ihrer hohen Sensibilität besonders geeignet ist, auf negative Schwingungen zu reagieren und somit Phantome zu erzeugen. Phantome entstehen ausschließlich im Schlaf, wenn die Seele den Körper verläßt und sich mit geistigen Wesen austauscht. Dann werden die negativen Schwingungen gewissermaßen von ihr abgetrennt und führen ein selbständiges Dasein. Von den höheren Welten werden sie abgelehnt, also müssen sie zurück zur Welt der Menschen, zu ihren Ursprüngen.“
„Und was hat das mit meiner ehemaligen Unterkunft zu tun?“ fragte ich.
„Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen,“ sagte Dr. Z. „Möglicherweise hatte man in ihrer Nachbarschaft einen Apparat untergebracht, der negative Schwingungen erzeugt und die entstandenen Phantome einsaugt und sammelt. Man hätte dann versucht, eine Art Phantombrutmaschine aus Ihnen zu machen.“
„Aber wer sollte an so etwas ein Interesse haben?“
„Offenbar gibt es Kräfte, die darauf aus sind, die Entwicklung der Menschheit zu stören und sie in eine falsche Richtung zu steuern.“
Im Laufe des Gespräches waren wir durch den nächtliche Park gestreift und näherten uns einer Bank, auf der jemand lag und schlief, offenbar ein Obdachloser. Dr. Z. steuerte auf die Bank zu und blieb vor ihr stehen.
„Guten Abend, Franz,“ sagte er. „Steh lieber auf, du wirst dich erkälten.“
Der Obdachlose richtete sich auf und blinzelte uns aus verquollenen Augen an. Er war von kleinem Wuchs, trug einen struppigen roten Bart und einen abgewetzten alten Wintermantel, obwohl es Juni war. Was er unter dem Mantel trug, war schwer auszumachen.
„Darf ich bekanntmachen,“ sagte Dr. Z. respektvoll. „Das ist Franz Heiland, der bedeutendste lebende Dichter dieses Landes. Und das ist Angelus, der Dichter des ‚Menetekel‘. Meine Frau kennst du ja. Warum nimmst du dir kein Zimmer, Franz? Die Nächte sind noch kalt.“
„Ich schätze Ihre Gedichte sehr, Herr Angelus“ sagte der angesprochene. „Mein Kompliment. Für ein Zimmer fehlen mir leider im Augenblick die Mittel. Aber wir sollten vielleicht etwas trinken gehen. Gleich hier in der Nähe ist ein Lokal, das anständig ist und nicht teuer. Sie haben dort einen sehr guten italienischen Rotwein.“
Der Dichter griff nach einem Bündel, das er neben der Bank deponiert hatte und erhob sich.
„Was hast du denn in dem Bündel?“ fragte Dr. Z. „Einen Kohlkopf?“
Der Dichter Franz Heiland schüttelte sein struppiges Haupt und blickte ehrfürchtig auf das Bündel.
„Nein. Es ist der Kopf Eduard von Hartlepps.“
„Wie, was? Sein Kopf? Was für ein Kopf?“ riefen wir erstaunt durcheinander.
„Sie kennen sicher Eduard von Hartlepp,“ sagte der Dichter. Wir bejahten.
„Er war ein begnadeter Schriftsteller, ein wunderbarer Mensch und mein bester Freund,“ fuhr Franz Heiland fort.
„Leider starb er kürzlich in Italien. Es war aber sein Wunsch, daß sein Kopf hier in der Heimat beigesetzt würde. Einem Freund gelang es, sich Zugang zu dem Leichnam zu verschaffen und den Kopf abzuschneiden. Er hat ihn mir heute gebracht, mit der Bitte, ihn würdevoll zu bestatten. Gleich morgen werde ich die Freunde aufsuchen und sie zu einer schlichten Zeremonie versammeln.“
Wir umstanden staunend den Dichter mit dem Bündel. Ich bat um die Erlaubnis, es berühren zu dürfen. Die anderen folgten mir. Es war wie ein Ritual. Der Kopf des Künstlers und Freundes stiftete einen Bund zwischen uns. Meine Hand suchte ihre und fand sie. Dr. Z. legte eine Hand auf meine Schulter und die andere auf die von Franz Heiland. So standen wir eine Weile. Ich spürte, wie eine Kraft von mir Besitz ergriff, die über mein gewohntes selbst hinausreichte. Eine wahrhaft kosmische Kraft, die so alt war wie das Weltall und die ewig fortdauern würde. Keiner sprach, doch ich wußte, die anderen empfanden das gleiche.
Schließlich lösten wir uns voneinander und gingen in das Lokal, das Franz Heiland erwähnt hatte. Ich hielt weiterhin ihre Hand. Sie ließ es geschehen.
Die Restauration erwies sich als eine Spelunke, die ich alleine sicher nie betreten hätte. An den Tischen sah man allerlei menschliches Strandgut. Franz Heiland war hier wohlbekannt und wurde von allen freundlich begrüßt. Unseres ungewöhnlichen Handgepäcks eingedenk, setzten wir uns in eine etwas entlegene, ruhige Ecke. Die Wirtin brachte den gerühmten italienischen Rotwein in Karaffen und wir beschlossen zu bleiben.
Wir tranken auf das Wohl Eduard von Hartlepps. Dr. Z. war davon überzeugt, daß dessen harmonische Schwingungen auf uns übergegangen waren. Sein ätherischer Leib war gewiß nicht fern und stellt eine Verbindung her zu der positiven Energie der Allseele.
Dr. Z. erzählte dann von dunklen Kräften, die von Beginn der Schöpfung an da waren, ja eine Voraussetzung derselben gewesen wären, denn die Zweiteilung ist ein Grundprinzip aller Entwicklung. Ohne Dunkelheit kein Licht, ohne die Kräfte des Bösen als ihre Gegenspieler könnten auch die positiven Kräfte nichts bewirken. Zur Zeit lebten wir in einer Phase des Umbruchs und die negativen Kräfte sähen eine Chance, die Oberhand zu gewinnen, auch wenn das im Schöpfungsplan nicht vorgesehen war.
Der Dichter Franz Heiland hatte dazu eine bemerkenswerte Theorie. Er stand in regem geistigen Austausch mit führenden Wissenschaftlern, Astronomen und Astrologen. Sie alle bestätigten auf Grund von Beobachtungen und neuesten Forschungsergebnissen, daß die Erde einen Zwillingsplaneten habe. Dieser befindet sich der Erde gegenüber, auf der gleichen Umlaufbahn. Dazwischen liegt die Sonne. Deswegen blieb uns unser Geschwistergestirn bislang verborgen.
Alle Meßdaten, die über diesen Doppelgänger der Erde gewonnen werden konnten, seine Größe, Gewicht, Dichte, Alter, chemische Zusammensetzung und dergleichen betreffend, waren mit denen der Erde identisch. Die Astronomen sagten, daß ohne dieses Gleichgewicht die Erde ihre Umlaufbahn verlassen und in das Weltall hinausgeschleudert würde.
Es ist nun naheliegend zu vermuten, daß auf dieser zweiten Erde sich das Leben ebenso wie auf unserer entwickelt hat, daß darauf eine Menschheit existiert, deren Geschichte der unseren gleicht.
Theologisch ergibt sich aus dieser Annahme ein schwerwiegendes Problem. Christus erwählte für seine Erlösungsmission, für Kreuzigung und Auferstehung, unseren Planeten. Es ist unwahrscheinlich, daß er sich auf dem Doppelgängerplaneten noch einmal kreuzigen ließ. Franz Heiland hatte darüber mit dem Papst korrespondiert, der seine Meinung teilte und bestätigte.
An dieser Stelle seines Berichtes begann der Dichter unter seinem Mantel zu suchen. Er beförderte verschiedene zusammengeknüllte Zeitungsränder zutage, die mit Gedichten beschrieben waren. Schließlich fand er ein zerknittertes Stück Papier, das er auf dem mit Weinflecken bedeckten Wirtshaustisch zu glätten versuchte. Tatsächlich konnte man das Wappen des Pontifex mit der Tiara und den gekreuzten Schlüsseln erkennen. Auch die verehrungswürdige Unterschrift ihrer Heiligkeit war unzweifelhaft sichtbar. Der Rest des Briefes war allerdings unleserlich geworden. Jedoch der Dichter kannte seinen Inhalt auswendig. Er zitierte ganze Passagen, die die Sorge des Pontifex über das Seelenheil der von Rom so weit entfernt lebenden Wesen und die gewaltige missionarische Aufgabe und Herausforderung, die der katholischen Kirche daraus erwuchs, zum Ausdruck brachten.
Franz Heiland äußerte die Hypothese, daß die Mächte des Bösen sich diesen, noch nicht durch Jesus Christus erlösten Planeten zu ihrem Sitz auserwählt und dort ein gottfernes Regime errichtet hatten. Doch damit nicht genug. Über unbekannte, wahrscheinlich ätherische Kanäle versuchten sie von dort aus, ihre verhängnisvolle Herrschaft auf unseren Planeten auszudehnen, verderbliche Einflüsse und Schwingungen, aber auch ganz reale Wesen, Gespenster und Dämonen in unsere Welt einzuschleusen, mit dem Ziel, hier das gleiche Reich der Finsternis wie auf jenem unglücklichen Planeten zu errichten.
Der Zeitpunkt dafür war günstig. Alte Werte und Kulturformen wurden brüchig und verloren an Geltung, neue schienen noch nicht gefunden. Unsere von der Antike überkommene Kultur, die auf der Souveränität des Individuums beruht, war verschlissen und kraftlos geworden, das Bedürfnis, in größeren Körperschaften aufzugehen, allgemein. Neue, kollektive Identitäten entstanden, an deren Spitze sich dämonische Wesen stellten. Sie würden die Völker in Katastrophen von bislang unvorstellbaren Ausmaßen reißen und den Boden bereiten für die Herrschaft des Antichrist.
Inzwischen hatte sich das Lokal mit verwegen aussehenden Leuten gefüllt, fremdländischen Wanderarbeitern dem Anschein nach. Sie traten streitsüchtig auf und waren wohl auf eine Schlägerei aus, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Nach den Schimpfworten flogen die Fäuste, Stuhlbeine wurden geschwungen.
Franz Heiland, der die Sanftmut selbst war, stand auf und begab sich zu den Streithähnen um zu schlichten. Er wurde von einem Hünen am Mantel gepackt und in die Höhe gehoben, zum Gelächter der betrunkenen Fremden. Plötzlich ertönte ein gellender Schrei, der das Blut in den Adern aller Anwesenden gerinnen ließ. Die Wirtin hatte ihn ausgestoßen. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen und vor Entsetzen gesträubten Haaren vor sich auf den Fußboden.
Dort lag in einer Rotweinlache ein menschlicher Kopf. Es war, daran gab es keinen Zweifel, der Kopf des Schriftstellers Eduard von Hartlepp, der ein Stammgast dieses Lokals gewesen war.

Meine Erinnerungen an die weiteren Ereignisse jener Nacht sind verworren und lückenhaft. Ich verließ das Lokal mit anderen, in Panik flüchtenden Gästen. Schließlich fand ich mich auf einer Wiese liegend, über mir der im frühen Morgenlicht verblassende Sternenhimmel. Ich mußte geschlafen haben. Kälte und Feuchtigkeit ließen mich schaudern und ich erhob mich mühsam. Obwohl meine Glieder schmerzten, war ich glücklich. Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt. Ich atmete tief die kühle Luft ein, roch den Duft von Gräsern und Morgentau. Ich hätte singen und tanzen mögen. Die ganze Schöpfung war ein Wunder von Anbeginn an, das wurde mir deutlich. Warum sah das niemand? Die Welt war voller wunderbarer Dinge. Jeder Grashalm, jedes Blatt war ein solches Wunder.
Und das alles spürte ich, weil ich ihre Hand gehalten hatte, weil ich ihr nahe sein konnte.
Ich eilte zurück in die Pension, in der ich nun wohnte, und verschlief das Frühstück.

Zu Mittag klopfte es an meine Tür. Es war Dr. Z. Er sagte, er arbeite an der Konstruktion eines Apparates, mit dem man negative ätherische Schwingungen auflösen und positive erzeugen könne. Damit wäre es theoretisch möglich, das soziale Leben und damit den Lauf der Geschichte positiv zu beeinflussen. Er lud mich ein, zu ihm hinüber zu kommen und einen Blick auf seine Zeichnungen und Notizen zu werfen.
Er führte mich in sein Arbeitszimmer, das von einem großen Schreibtisch dominiert wurde, der mit Büchern und Papieren bedeckt war.
Ich betrachtete eine Skizze, auf der mehrere größere Halbkugeln zu sehen waren, die auf Ständern oder Füßen standen. Eine Halbkugel war zur Mitte gerichtet, eine nach unten offen. Eine andere sollte offenbar an der Wand befestigt werden, als wolle sie die ganze Szenerie überwachen. Eine Art Drahtgestell oder Gerüst befand sich zwischen den auf den Ständern befestigten Halbkugeln, daran befand sich eine kleinere Vollkugel.
Es war schwer zu sagen, welche Zwecke mit diesen Vorrichtungen beabsichtigt waren. Der zentrale Apparat schien mir etwas wie ein Kondensator zur Sammlung von aus dem Kosmos einströmenden Strahlen und Wirkungen zu sein, vielleicht auch ein Transformator von diesen.
Dr. Z. erklärte, daß er für die Apparatur verschiedene Metalle verwenden würde: Antimon, Kupfer, Nickel und Uran, außerdem einen noch unbekannten Stoff. Die hohle Halbkugel an der Wand sollte aus Kupfer sein. Die innere Seite war dem Zentralapparat zugewandt.
Ein anderer Apparat stellte eine Art Meßinstrument dar.
Dr. Z. sagte dazu, daß durch die Kenntnis ineinanderklingender Schwingungen und durch die Entwicklung neuer Fähigkeiten Kräfte auftreten werden, die heute noch nicht nutzbar gemacht werden können oder noch völlig unbekannt sind, in der Zukunft aber zu jenen sozialen Folgen führen würden, welche die Grundlagen der neuen Gesellschaft ausmachten: Das Fehlen von Kriegen und Unterdrückung, das Zusammenleben aller Geschöpfe in Liebe und Harmonie, allgemeiner Wohlstand und Freiheit von materiellen Zwängen.
Ich fragte Dr. Z., wann er mit seinen Erkenntnissen und Konstruktionen an die Öffentlichkeit gehen werde und man mit dem Bau eines derartigen Apparates beginnen könne.
Dr. Z. erwiderte, daß seine theoretischen Erkenntnisse kein Geheimnis seien, sie seien publiziert und einer geistigen Elite bekannt. Das Saatkorn sei in die Erde gesenkt, nun müsse die Pflanze sprießen und wachsen.
Für seine Apparatur sei die Zeit noch nicht gekommen. Nicht nur von der technischen Seite her – er verwies als Beispiel auf das noch zu findende Element – sondern auch unter moralischem Aspekt.
„Wenn meine Erfindung in die falschen Hände fällt,“ sagte er sorgenvoll, „könnte sie auch verhängnisvolle Wirkungen haben. Ebenso, wie man mit ihr positive und harmonisierende Schwingungen erzeugen kann, könnte man auch negative, zerstörerische und unheilvolle Kräfte entfesseln. Mißbräuchlich und in großem Stil angewandt, würde unserer Zivilisation durch die Anwendung dieser Energien schwerer Schaden, wenn nicht gar Vernichtung drohen.“
„Und wann könnte Ihrer Meinung nach die Menschheit die nötige moralische und technische Reife besitzen?“ fragte ich.
Dr. Z. zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht in zwanzig Jahren, vielleicht in fünfzig. Das ist im Augenblick schwer abzuschätzen. Sie wissen ja selber, in was für einem desolaten Zustand sich unsere Welt gegenwärtig befindet.“
Er räumte seine Pläne und Aufzeichnungen in ein Schreibtischschublade, die er sorgfältig verschloß.
Als ich nach meiner Post sah, fand ich einen Brief des Ehepaares Haslinger vor. Sie entschuldigten sich für die unkomfortable Unterkunft, die sie mir vermittelt hatten. Man hätte ihnen versichert, der Platz wäre für einen Dichter ideal. Zum Ausgleich luden sie mich in ihre Villa am Rande der Stadt, in einem ausgedehnten Park ein. Sie erwarteten mich zum nächsten Wochenende. Ich würde dort die Möglichkeit haben, interessante Persönlichkeiten des geistigen und künstlerischen Lebens zu treffen. Im übrigen wäre es ihnen eine Ehre, mich als Gast zu beherbergen. Ich könnte so lange bleiben, wie ich wollte und bei ihnen völlig ungestört und sorgenfrei wohnen und schreiben. Ihr Haus, einschließlich des Personals, stünde zu meiner Verfügung.
Sie würden zu einer vereinbarten Zeit eine Limousine mit ihrem Chauffeur zu mir schicken, um mich abzuholen.
Ich telephonierte zunächst mit meinem Verleger und fragte ihn nach seiner Meinung zu dem Angebot. Er gratulierte mir und riet mir dringend, anzunehmen. Ich wäre damit viele Sorgen los und hätte mit einem Schlag Kontakt zu den führenden Kräften des geistigen Lebens dieser Stadt und dieses Landes.
Dann sprach ich mit ihr und Dr. Z. Sie waren beunruhigt.
Dr. Z. war der Ansicht, ich könne die Einladung nicht gut abschlagen, aber ich solle sehr vorsichtig sein.
„Sehen Sie sich genau um, seien Sie auf der Hut. Und bleiben Sie nicht länger als eine Woche, höchstens vierzehn Tage. Beobachten Sie alles genau. Und bleiben Sie mit uns in Kontakt.“
„Ich mache mir Sorgen um Sie, Angelus,“ sagte sie und blickte mich traurig an, als müßten wir wieder für lange Zeit Abschied nehmen.

Zur vereinbarten Zeit, zehn Uhr an einem Sonntagvormittag, stand die Limousine der Haslingers vor der Tür der Pension. Der Chauffeur öffnete mir die Tür zum Fond des Wagens und nahm mir meinen Koffer ab, den er respektvoll im Gepäckraum deponierte. Ich ließ mich mit einem unguten Gefühl in die weichen Polster sinken und wir fuhren los.
Der kraftvoll surrende Motor des eleganten Wagens brachte uns schnell aus der Stadt hinaus. Wir durchfuhren Vororte, kamen an Wäldern und Feldern vorbei und durchquerten Dörfer. In einem Dorf, durch das wir kamen, saßen einheitlich gekleidete Menschen apathisch auf Bänken und Stühlen vor den Häusern und starrten ausdruckslos vor sich hin. Der Chauffeur erläuterte, daß in diesem Dorf ausschließlich Patienten einer psychiatrischen Anstalt lebten.
Bald darauf bog der Chauffeur von der Chaussee ab und fuhr in einen Seitenweg hinein, der vor einem großen schmiedeeisernen Tor endete. Das Tor öffnete sich selbsttätig und wir fuhren in einen dicht mit Bäumen bestandenen Park hinein. Schließlich hielt die Limousine vor einer im neugotischen Stil erbauten Villa, mit zinnenbewehrten Mauern und einem Turm. Der Chauffeur öffnete mir die Wagentür. Ich stieg eine massive steinerne Treppe hinauf zum Portal. Der Chauffeur folgte mir mit meinem Koffer und läutete. Ein Dienstmädchen mit weißer Schürze öffnete und begrüßte mich. Ich würde schon erwartet. Ich trat ein.
Die Halle war überraschend groß. An der mit dunklem Holz getäfelten Decke hing ein großer radförmiger Kronleuchter. Eine Treppe führte in die oberen Räume. Eine Flügeltür öffnete sich und das Ehepaar Haslinger trat ein. Sie begrüßten mich so herzlich, wie es ihnen möglich war. Frau Haslinger war bemüht, sich den Anschein eines Lächelns zu geben, ohne ihre Gesichtszüge verziehen zu müssen, ihr Ehemann wirkte etwas sauertöpfisch mit seiner grauen Ausstrahlung.
Sie erwarteten mich in etwa einer Stunde zum Mittagessen. Es würde außer mir noch ein zweiter Gast anwesend sein. In der Zwischenzeit wurde ich von dem Dienstmädchen in mein Zimmer geleitet, das sich in der oberen Etage befand.

Meine Unterbringung war komfortabel. Ich verfügte über ein geräumiges Wohn- und Arbeitszimmer mit Blick auf den Park, ein daran anschließendes Schlafgemach und ein eigenes Badezimmer. An den Wänden waren Bücherregale und Schränke mit einer guten Handbibliothek, die Lexika, Atlanten, Wörterbücher und Klassikereditionen, aber auch eine Auswahl moderner Literatur umfaßte. Es gab im Haus natürlich auch eine richtige Bibliothek, die mir zur Benutzung offen stand. Der Schreibtisch war ausreichend mit Papier und Schreibgerät versehen. An jede Bequemlichkeit war gedacht, sogar eine kleine Bar war vorhanden.
Ich richtete mich häuslich ein, nahm ein Bad und setzte mich an den Schreibtisch. Mein Blick konnte, durch die hohen Fenster hindurch, über die Bäume des Parks schweifen.
Ich fühlte mich unbehaglich und verärgert, wie jemand, dem man allzu offensichtlich eine Falle stellt. Ich beschloß, nicht länger als drei Tage zu bleiben. Und ich hatte Sehnsucht nach ihr. Ihre Nähe fehlte mir. Ich würde gerne in einem noch so bescheidenen Zimmer wohnen, wenn ich nur sie in der Nachbarschaft wüßte.
Es wurde an die Tür geklopft und ich wurde zum Essen gebeten.
Ich folgte dem Dienstmädchen die Treppe hinunter in die Halle. Sie öffnete mir die Flügeltür und ich betrat einen elegant möblierten Raum, in dessen Mitte eine Tafel festlich gedeckt war. An der Stirnseite, in einer Nische, befand sich ein großer Spiegel in einem reich mit Ornamenten und Symbolen verzierten goldenen Rahmen.
Der zweite Gast war schon anwesend. Er saß in einem Ledersessel und blätterte in einem alten Buch. Bei meinem Eintreten erhob er sich höflich.
Er war nicht groß und schlank, seine silberweißen Haare deuteten auf ein vorgeschrittenes Alter hin. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig und harmonisch, seine Haut braun und glatt. Er trug einen perfekt geschneiderten Anzug aus feinstem Stoff. Man spürte eine enorme geistige Intensität, gepaart mit Liebenswürdigkeit. Das war ein Mensch, der andere zu bezaubern wußte.
Ich stellte mich mit meinem bürgerlichen Namen und meinem Dichternamen vor, unentschlossen, welcher hier angebracht war. Mein Gegenüber lächelte.
„Auch ich habe viele Namen,“ sagte er. „Nennen Sie mich Germain, so nannte mich Voltaire.“
Während ich noch über diese merkwürdige Antwort nachgrübelte, öffnete sich die Tür und unsere Gastgeber traten ein. Wir plauderten ein wenig bei einem Aperitif, dann baten sie zu Tisch. Mit Erstaunen stellte ich fest, daß nur für drei Personen gedeckt war.
„Unser Gast ißt andere Speisen als wir,“ sagte Frau Haslinger, auf Herrn Germain deutend.
„Dennoch ist er so liebenswürdig, uns Gesellschaft zu leisten.“
„Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an?“ fragte ich.
„Ich gehöre in der Tat verschiedenen, auch religiösen, Gemeinschaften an“, sagte Herr Germain, „zuvorderst denen der Freimaurer und der Rosenkreuzer. Doch hat das eigentlich nichts mit meinen Eßgewohnheiten zu tun. Die haben sich im Laufe eines der Erkenntnis gewidmeten Lebens aus Einsicht, Erfahrung und Gewohnheit herausgebildet. Es hängt wohl auch damit zusammen, daß ich Chemiker bin.“
„Unser Gast ist zu bescheiden,“ sagte Frau Haslinger. „In Wahrheit ist er nicht nur Chemiker, sondern mit ebenso großem Ruhm Dichter, Musiker, Schriftsteller, Arzt, Physiker, Mechaniker und Diplomat. Allerdings hat er auf dem chemischen oder alchemistischen Gebiet die spektakulärsten Erfolge erzielt. Man sagt, es sei ihm gelungen, Blei in Gold umzuwandeln.“
„Das ist zutreffend,“ sagte Herr Germain. „Allerdings halte ich dieses Experiment für weniger interessant. Vielmehr ergab ich mich lieber der Beobachtung der Bildung von Kristallen, ihrer Auflösung und Verbrennung. Diese Vorgänge riefen religiöse Empfindungen in mir wach und führten mich zu Erkenntnissen über den Zusammenhang aller Kräfte im Mikro- und im Makrokosmos.“
Er zitierte:
„Den wachsamen Blick auf die Natur gerichtet,
erkannte ich Wesen und Ende der Einheit.
Ich sah im Erze das goldene Licht,
ich erfasste den Stoff und entdeckte den Keim“.
„Wie erstaunlich!“ rief Frau Haslinger aus.
„Hatten Sie übrigens eine gute Reise, Herr Germain?“ fragte Herr Haslinger.
„Es war sehr beeindruckend,“ erwiderte der Gast. „Ein unvergeßliches Erlebnis. Die Geschwindigkeit, mit der wir durch den Raum jagten, lässt sich mit nichts anderem vergleichen. In einem Augenblick hatte ich die Sicht auf die unten liegenden Ebenen vollkommen verloren. Die Erde erschien mir nur noch wie eine verschwommene Wolke. Man hatte mich zu riesiger Höhe emporgehoben. Eine ganze Weile zog ich durch die Wolken dahin. Ich sah Himmelskörper sich um mich herum drehen und Erdkugeln zu meinen Füßen versinken“.
Zu jenem Zeitpunkt hielt ich hielt seine Worte für die eines inspirierten Dichters, der in etwas schwärmerischer Weise eine Reise mit einem Flugzeug beschreibt.
„Was meinten Sie eigentlich, als Sie sagten, Voltaire habe Sie Germain genannt,“ erkühnte ich mich zu fragen.
„Ich habe diese Welt besucht vor der atlantischen Katastrophe, die ihr die Sintflut nennt. Ich lehrte Salomo die Weisheit, diskutierte mit Sokrates und besuchte Pythagoras. Ich habe kein Alter,“ sagte Herr Germain lächelnd.
„Nein, im Ernst, mein Freund,“ fuhr er fort, „als geistiger Mensch lebt man nicht nur in der Gegenwart. Man steht mit den bedeutenden Persönlichkeiten der Vergangenheit zuweilen auf vertrauterem Fuße als mit seinen Zeitgenossen. Die zeitlichen Relationen heben sich auf und manchmal vergesse ich ganz, in welcher Zeit ich mich eigentlich befinde. Ich bitte um Entschuldigung für diesen lapsus linguae.“
Seine Erklärung klang seltsam, aber ich konnte sie akzeptieren. Doch lächelten jetzt alle am Tisch so sonderbar, daß ich mich unbehaglich fühlte.
„Darf man fragen, ob Ihre Mission von Erfolg gekrönt war?“ wandte sich Herr Haslinger erneut an den geheimnisvollen Gast.
„Sie war überaus erfolgreich, das darf ich wohl sagen,“ erwiderte dieser. „Nicht nur, daß ich das fragliche Element zweifelsfrei identifizieren, isolieren und analysieren konnte. Ich sehe mich auch in der Lage, es unter den heute üblichen Bedingungen jederzeit in einem beliebigen chemischen Labor herzustellen.“
Herr und Frau Haslinger blickten sich vielsagend an.
Nach dem Essen ging ich ein wenig ins Freie. Die Villa stand inmitten eines ausgedehnten Parks, der von einer Mauer umgeben war. Nach einem nachdenklichen Spaziergang trank ich den Kaffee in meinem Zimmer. Die Zeit bis zum Abendessen vertrieb ich mir mit Lesen.
Das Abendmahl nahm ich allein zu mir. Die Haslingers waren ausgegangen und der geheimnisvolle zweite Gast beteiligte sich nicht an der Mahlzeit. Nach dem Essen und dem guten Wein ging ich in mein Zimmer und spürte, wie mich Müdigkeit überkam. Ich legte mich auf das Bett und schlief sofort ein.
Es war mitten in der Nacht, als ich erwachte. Der Mond schien durch die hohen Fenster und erleuchtete das Zimmer. Ich stand auf, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen. Als ob ein sanfter, aber stetiger Sog mich erfaßt hätte. Ich ging zur Tür, öffnete sie, und trat hinaus auf den von gedämpftem Licht schwach erleuchteten Gang. Dem sanften Sog folgend ging ich zur Treppe und hinunter in die Halle. Dort zog es mich zur Flügeltür und dem angrenzenden Raum, in dem wir gespeist hatten. Auch dieser Raum war vom Mondlicht erleuchtet. Immer noch dem sanften Sog folgend, ging ich in Richtung des großen Spiegels. Als ich davor stand, erschrak ich. In dem Siegel sah ich das hinter mir liegende Zimmer und sonst – nichts. Ich sah nicht mein eigenes Spiegelbild.
Was hatte das zu bedeuten? Ich wußte von der Existenz eines Ätherleibes, der nicht materieller Natur war, aber wenn ich in meinem Ätherleib wandelte, wo war dann mein physischer Körper?
Es war mir nicht vergönnt, lange darüber nachzudenken. Die beharrliche Kraft zog mich zu dem Spiegel. Ich berührte ihn, tauchte in ihn ein und hatte ihn plötzlich durchquert.
Der Sog, der mich bis hierher sanft geführt hatte, gewann augenblicklich die Stärke eines Tornados und riß mich in die Höhe. Ich sah unter mir die Villa und den Park entschwinden. Wolkenfetzen flogen an mir vorbei. Dann sah ich die von Wolken umhüllte blaue Erde unter mir. Sie entfernte sich rasend schnell. Sterne umtanzten mich und ich umkreiste die Sonne. Dann sah ich die Erde – war es die Erde? – wieder aus der Ferne auftauchen. Sie raste näher, ich fiel auf sie herab, fiel durch Wolkenfelder, fiel unaufhaltsam. Mir schwanden die Sinne.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich über mir die Metallfedern eines Bettgestells und eine Matratze. Ich lag auf der unteren Etage eines metallenen Doppelstockbettes in einem engen, schmalen Raum. Die Wände waren mit grauer Ölfarbe gestrichen. Das Licht fiel durch ein hochgelegenes Fenster, das vergittert war und vor dem sich eine Sichtblende befand. Es gab eine Toilette und ein Waschbecken. Ein grobes rechteckiges Brett und ein kleineres, die wohl als Tisch und Stuhl dienen sollten, waren an der Wand befestigt und hochgeklappt. An der dem Fenster gegenüber befindlichen Schmalseite gewahrte ich eine eisenbeschlagene Tür mit einem runden Guckloch in Augenhöhe.
Ich begriff, daß ich mich in einer Gefängniszelle befand. Ich setzte mich auf und sah mich um. Irgendetwas war aus den Fugen geraten. War es der Raum, war es die Zeit, war es das Universum? Wo war Gott in diesem ganzen Durcheinander?
Dann hörte ich schwere Riegel krachen, ein Schlüssel rasselte im Schloß. Die Tür wurde aufgerissen und ein Uniformierter erschien. Er bedeutete mir, mitzukommen. Ich trat hinaus.
Ich befand mich auf dem Umlauf einer Galerie. In der Mitte war ein tiefer Schacht, über den ein Metallnetz gespannt war. Über mir und unter mir waren ähnliche Galerien. Alle Geräusche hallten und alles war in ein gleichmäßiges graues Licht getaucht.
Ich ging mit dem Uniformierten eine eiserne Treppe hinunter, dann durch eine seitliche Tür in einen Korridor. Dort wurde mir bedeutet, mich auf eine Bank zu setzen. Nachdem ich eine Weile gesessen hatte, immer noch leicht benommen und ohne Verständnis für das, was mit mir geschah, wurde ich in ein Zimmer geführt. Hinter einer Barriere saß eine grau gekleidete Frau mittleren Alters an einem Schreibtisch.
Sie bewegte keinen Gesichtsmuskel. Das erinnerte mich an Frau Haslinger.
Sie fragte mich, wer ich wäre und ob ich eine Einreisegenehmigung hätte.
Ich nannte meinen Namen und sagte, ich wüßte weder wo ich sei, noch, was mit mir geschehen wäre.
„Sie haben unbefugt eine interplanetare Transitstrecke benutzt und befinden sich jetzt auf der Erde. Auf der einzig legitimen, rechtmäßigen Erde, nicht auf dem systembedingt verkommenen Gegenstück, das bei Ihnen anmaßend als Erde bezeichnet wird. Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie sich des Verstoßes gegen das Transitgesetz schuldig gemacht haben, und was das für Sie für Folgen haben kann?“
Ich schwieg verwirrt. Die Beamtin hatte ein Formular in ihre Schreibmaschine gespannt und zu tippen begonnen.
„Welches ist Ihr Herkunftsland?“ fragte sie.
Ich nannte mein schwer geprüftes Heimatland.
Die Beamtin blickte von ihrem Formular auf und sah mich zum erstenmal richtig an.
„Das verändert natürlich Ihre Situation. Dann kommen Sie ja aus der Exklave Alpha. Immerhin hätten Sie einen Pass bei sich führen müssen.“
Sie zog das Formular aus der Schreibmaschine, warf es in den Papierkorb, spannte ein anderes ein und begann erneut zu tippen.
„Ich stelle Ihnen eine Kurzaufenthaltsgenehmigung aus. Nach deren Ablauf müssen Sie die Erde wieder verlassen. Da Sie zum erstenmal hier sind, werde ich Sie einer Besuchergruppe zuteilen.“
Nachdem sie alle Angaben zu meiner Person eingetragen hatte, mußte ich wieder im Gang Platz nehmen. Nach einer Weile kam eine untersetzte jüngere Frau mit aschblondem gelockten Haar, ebenfalls in Grau gekleidet, um mich abzuholen. Wir gingen durch verschiedene Gänge, durch schwere Türen, die von Uniformierten aufgeschlossen wurden. Zum Schluß durchquerten wir eine Schleuse und traten auf einen Hof, den wir überquerten.
Sie brachte mich zu einer Gruppe von scheu herumstehenden Menschen, die, wie sich herausstellte, Landsleute von mir waren. Es handelte sich um mittlere Funktionäre aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens: Parteichargen, Wirtschaftsfunktionäre, Verwaltungsangestellte, Kulturschaffende. Ich hielt mich abseits und versuchte, meine Identität als Abtrünniger und Emigrant zu verheimlichen.
Wir stiegen alle in einen bereitstehenden Bus. Die junge, untersetzte Frau nahm vorne neben dem Fahrer Platz. Sie begrüßte uns über ein Mikrophon, das sie in der Hand hielt. Sie sei für diesen Tag unsere Reisebegleiterin, ihre Identitätsnummer sei 64 49 B 28. Wie wir sicher wüßten, gäbe es keine Namen auf der Erde. Der Einfachheit halber könnten wir B 28 zu ihr sagen. Der Bus fuhr langsam an, ein Tor öffnete sich und wir fuhren hinaus. Alle sahen gespannt aus den Fenstern.
Zunächst war nicht viel zu sehen. Graue, uninteressante Häuser, öde Straßen. Es gab keine Reklame, kaum Verkehr, wenig Passanten. Vor einem Laden stand eine lange Schlange von trist aussehenden Menschen. Mein Vordermann flüsterte seinem Nachbarn zu, daß dies einer der wenigen Orte sei, wo zeitweilig alkoholische Getränke verkauft würden.
Der Bus setzte unbeirrt seine Fahrt fort und in der Ferne wurde ein riesiger Turm sichtbar. Meine Mitreisenden stießen sich an und machten sich gegenseitig darauf aufmerksam. Je näher wir kamen, um so riesiger ragte der Turm empor und um so mehr schien er alles um sich herum zu beherrschen.
B 28, unsere Reiseleiterin, erläuterte, daß der Turm einer von mehr als einem Dutzend auf dem Planeten wäre. Er ragte nicht nur mehrere hundert Meter hoch in den Himmel, sondern reichte genauso tief in die Erde. Er beherbergte Werkhallen, Forschungslabors, Erholungseinrichtungen, Wohnungen, Kindergärten, Schulen, Hörsäle, Hospitäler, Kinos und Theater. Die Menschen, die hier lebten, brauchten den Turm nie zu verlassen. Sie kannten keine Not und keine Sorgen.
„Was Sie heute als unsere Gegenwart erleben, ist Ihre Zukunft,“ sagte B 28. „Sie werden ihre Pioniere und Schöpfer sein. Prägen Sie sich das Gesehene gut ein, damit Sie wissen, wofür Sie auf Ihrem Planeten kämpfen. Es ist der von den Fesseln von Not und Ausbeutung befreite Mensch, dessen schöpferische Möglichkeiten nahezu unbegrenzt sind.“
Der Bus hatte eine Hochstraße erreicht, auf der zahlreiche Transportfahrzeuge zum Turm unterwegs waren, beladen mit Rohstoffen und Lebensmitteln. Auf einer tiefer gelegenen Ebene waren Güterzüge zu sehen, die ebenfalls zum Turm fuhren oder von ihm kamen. Auf Kanälen schwammen Lastkähne, der Turm verfügte auch über einen großen Binnenhafen. Auf dem Dach befand sich ein Flugplatz, unentwegt starteten und landeten dort Flugzeuge.
Der Bus fuhr eine Auffahrt hinauf in eine große Halle. Wir stiegen aus, durchquerten eine Sperre und stiegen in einen Fahrstuhl von der Größe eines Eisenbahnwagens. Wie in einem Flugzeug befanden sich darin Sitze, auf denen wir Platz nahmen. Wir mußten uns anschnallen, dann ging es mit großer Geschwindigkeit in die Tiefe. B 28 erklärte, daß wir jetzt Produktionsanlagen besichtigen würden, die sich unter der Erde befanden.
Nachdem der Fahrstuhl zum Halten gekommen war, führte sie uns in einen großen, von künstlichem Licht taghell erleuchteten Saal. Es herrschte eine erstaunliche Ruhe, man hörte nur gelegentlich blubbernde oder piepende Geräusche. Große Behälter und Pressen waren durch Rohre und Schläuche miteinander verbunden. Arbeiter in silbergrauen Schutzanzügen und mit Plastikhelmen auf den Köpfen liefen umher, überwachten Meßgeräte oder drehten hier und dort an Rädern.
Ein Ingenieur erschien und erläuterte uns die Produktionsvorgänge. Aus einem polymeren Grundstoff wurden hier die mannigfaltigsten Artikel hergestellt. Unentwegt verließen Paletten mit den fertigen Produkten die Werkhalle. Es waren Plastikmöbel, Plastikgeschirr, Plastikautokarossen, Plastikblumen, Plastikspielzeug. Alles wurde in den Farben Eierschale oder Hellblau gefertigt.
„Die Eigenschaften unserer chemisch produzierten Materialien übertreffen die der natürlichen Stoffe bei weitem,“ sagte der Ingenieur. „Sie widerstehen Korrosion und Gewalteinwirkung, sie sind leicht zu säubern und nahezu unverwüstlich.“
Zur Demonstration nahm er eine mit Blumen gefüllte Vase, hielt sie mit ausgestrecktem Arm von sich und ließ sie auf den Boden fallen. Anstatt zu zerbrechen, schnellte sie wieder empor und der Ingenieur fing sie mühelos auf. Dann drehte er die Vase mit der Öffnung nach unten, ohne daß die Blumen herausfielen oder Wasser auslief. Anschließend stellte er die Vase wieder auf den Tisch, wo sie stand, als wäre nichts passiert. Bewunderndes Gemurmel wurde unter den Zuschauern laut.
Wir fuhren daraufhin in eine andere Etage. Unsere Führerin sagte, uns erwarte nun eine besondere Attraktion, etwas, was man nicht jeder Besuchergruppe bieten könne. Wir hätten die Gelegenheit, in ein Filmstudio hineinzuschauen, wo gerade einer der sehr populären Liebesfilme gedreht würde. Es wäre aber erforderlich, daß wir uns ganz ruhig verhielten, um die Dreharbeiten nicht zu stören.
Sie öffnete eine gepolsterte Tür und wir betraten mit angehaltenem Atem das Studio. Wir schlichen uns vorwärts, bis wir einen Blick auf das Set erhaschen konnten. Die Dekoration stellte das Innere einer Wohnung dar und war in Eierschale und Hellblau gehalten. Auf dem hellblauen Sofa saßen eine sorgfältig frisierte junge Frau in einem hellblauen Kleid und ein ebenfalls sorgfältig frisierter und rasierter Mann in einem eierschalenfarbenen Anzug. Sie hielten einander an den Händen und sahen sich mit leuchtenden Augen an. Die Kamera surrte, es wurde gerade eine Einstellung gedreht..
„Ich bin so froh, daß du dich zu diesem weiterführenden Studium entschlossen hast, ohne deine Arbeit zu unterbrechen,“ sagte der Mann zärtlich.
„Ich weiß ja auch, daß unser kleiner 8467 F 97 im Kindersegment gut aufgehoben ist,“ erwiderte sie.
„Weißt du was?“ fuhr er fort. „Am Sonntag besuchen wir ihn und gehen mit ihm in den Plastikzoo.“
„O, das wird wunderbar,“ sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich bin ja so glücklich.“
Auf ein Zeichen unserer Begleiterin gingen wir auf Zehenspitzen wieder hinaus. Sie wischte sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Da entsteht wieder ein Film, der die Herzen unserer Menschen bewegen wird,“ sagte sie, als wir das Studio verlassen hatten.
Wir gingen in den Fahrstuhl zurück, setzten uns auf unsere Plätze und schnallten uns an. Unsere Reiseleiterin sagte, wir würden nun einen größeren Höhenunterschied zurücklegen. Sie empfahl uns, ab und an zu schlucken, um den Druckunterschied auszugleichen.
Wir fuhren eine längere Zeit mit beträchtlicher Geschwindigkeit nach oben. Man konnte die Aufwärtsbewegung nur spüren, zu sehen war nichts. Schließlich hielt der Fahrstuhl und die Tür öffnete sich. Helles Tageslicht und frische Luft strömten uns entgegen. Wir gingen hinaus und standen auf einer geräumigen Aussichtsplattform. Der Wind zauste an Haaren und Kleidern.
Wir blickten ins Land und sahen unter uns ein Netz von Straßen und Schienen. Im Mittelpunkt des Netzes war der Turm, wie eine große Spinne. Alle Wege führten zu ihm.
Aus dieser Höhe unterschied man keine einzelnen Gebäude mehr, sondern sah nur noch Segmente, eingerahmt von Straßen, Eisenbahnlinien und Kanälen. Große Areale wurden von qualmenden Fabriken eingenommen. Die grauen Vororte mit ihren tristen Behausungen dehnten sich bis zum Horizont.
Direkt neben uns sahen wir den Flugplatz mit Landeflächen für Helikopter und Rollbahnen für die großen Transportflugzeuge.
Dahinter sah ich auf einer Betonplattform eine gigantische Apparatur. Sie bestand aus großen metallenen Halbkugeln und glich dem Entwurf, den ich bei Dr. Z gesehen hatte.
Unsere Begleiterin erklärte uns, daß mit dieser Apparatur , von deren Art es noch mehrere gäbe, spezielle Ätherschwingungen erzeugt würden. Mit ihrer Hilfe würden die Transitverbindungen zu unserem Heimatplaneten hergestellt. Man könne mit diesen Schwingungen aber auch auf die Entwicklung im gesamten Universum einwirken. Die Vorgänge auf unserem Planeten würden durch sie schon gezielt beeinflußt.
Revolutionen und Unruhen, fuhr die neue Kassandra fort, Massenhysterien, verbunden mit dem Erscheinen charismatischer Führer, Kriege und Verbrechen bisher ungekannten Ausmaßes, die fabrikmäßig betriebene Ermordung von Millionen von Menschen, neue Waffen und Vernichtungsmittel, Bomben, die über beliebige Entfernungen mit einem Schlag Hunderttausende Menschen töten konnten, die Zerstörung der natürlichen Umwelt – all diese Verhängnisse würden die irdische Zivilisation heimsuchen, sie zermürben und schwächen und die Voraussetzungen schaffen für eine neue Zivilisation, wie sie auf diesem Planeten, auf dem wir uns befänden, schon Wirklichkeit sei.
Mich erfaßte ein Schauder. Ich hatte genug gehört und gesehen. Ich wußte nun, was meine Aufgabe war. Ich mußte zurückkehren und Dr. Z. und die Regierungen der westlichen Demokratien davon überzeugen, nunmehr alle Anstrengungen zu unternehmen, um Dr. Z.‘s Konstruktion zu realisieren und schleunigst so viele jener Apparate wie möglich zu bauen und in Betrieb zu setzen, um die schädlichen Ätherschwingungen, mit denen uns unser Zwillingsplanet überschwemmte, außer Kraft zu setzen.
Mit einem Wort, ich mußte die Menschheit retten. Ich konnte nur beten und hoffen, daß es dafür noch nicht zu spät war.
Unsre Führerin verkündete, daß unsere Besichtigungstour nun zu Ende ginge.
„Ich würde Ihnen mit Vergnügen noch mehr von unserem Leben zeigen, aber Ihre Besuchszeit ist erschöpft. Sie werden jetzt in den Bus zurückkehren, der Sie zu Ihrem Terminal bringen wird.“
Ein Sprecher der Gruppe trat vor und bedankte sich im Namen aller für das wundervolle Erlebnis.
„Es wird uns beflügeln in unserem Kampf, eine ebensolche herrliche Ordnung in unserer Welt zu errichten,“ schloß er nicht ohne innere Bewegung. Alle applaudierten.
Dann stiegen wir wieder in den Fahrstuhl, der uns nach unten brachte. Mit dem Bus fuhren wir zurück. Die Straßen sahen öde und trostlos aus. Vor den wenigen Geschäften standen Schlangen von mürrisch blickenden, grau gekleideten Menschen. Sie gehörten zu dem Teil der Population, der nicht im Turm wohnte und arbeitete.
Der Bus hielt vor einem großen, düsteren Gebäude. Ein Tor öffnete sich und wir fuhren in einen geräumigen Innenhof. Die Reisegruppe stieg aus und begab sich zu einer Schleuse. Als ich mich anschließen wollte, hielt mich unsere Begleiterin zurück.
„Sie müssen einen anderen Übergang benutzen,“ sagte sie. „Sie können nur auf dem Transitweg zurückkehren, auf dem Sie hergekommen sind. Sonst finden Sie Ihren physischen Leib nicht wieder und lösen sich nach einiger Zeit im Äther auf.“
Sie führte mich wieder durch Gänge, die an den Seiten mit grauer Ölfarbe gestrichen waren, zu einem Raum, in dem ein Wachtposten hinter einem Schalter saß. Ich übergab ihm mein Visum und er fragte, ob ich zollpflichtige Gegenstände bei mir hätte, oder etwa solche, deren Ausfuhr verboten sei.
Ich verneinte. Er warf einen prüfenden Blick auf mich. Da ich keinerlei Gepäck bei mir hatte, ließ er mich ohne weitere Kontrolle passieren.
Ich betrat daraufhin einen weiteren, schmalen Raum, der völlig leer war. Lediglich an seiner Stirnseite befand sich ein großer Spiegel. Dieser hatte die Form des Spiegels im Hause der Haslingers, nur fehlte ihm der reich verzierte Rahmen. Ich spürte wieder jenen eigentümlichen Sog. Ich trat näher. Erneut schauderte ich über das Fehlen meines Spiegelbildes. Ich berührte das Glas zunächst vorsichtig mit der ausgestreckten Hand und schritt dann entschlossen hinein. Sofort wurde ich von einem Wirbel erfaßt, der mich in die Höhe riß. Wieder sausten Wolkenfetzen an mir vorbei. Die falsche Erde entschwand unter mir. Sonne und Sterne umtanzten mich. Dann sah ich unseren Heimatplaneten in der Ferne auftauchen. Ich raste mit ungeheurer Geschwindigkeit auf ihn zu, stürzte auf ihn hinab und verlor das Bewußtsein.

Als ich zu mir kam, war alles um mich herum hell. Es war Tag, vielleicht Vormittag. Ich lag wieder in einem Bett, diesmal allerdings in einem Krankenzimmer. Alles war weiß gestrichen, die Wände, ein Schrank, die Heizkörper. Neben mir befand sich ein weißer Nachttisch. Dann war da noch ein weiteres Bett, in dem jemand lag. Ich richtete mich auf und sah hinüber.
Mein Zimmergenosse schien zu schlafen. Seine Hände waren mit Ledermanschetten festgeschnallt. Neben seinem Bett stand ein Metallständer mit einer Glasflasche, von der ein Schlauch in die Beuge seines rechten Armes führte. Offenbar bekam er eine Infusion.
Ich erkannte ihn sofort wieder. Es war der geheimnisvolle zweite Gast des Ehepaares Haslinger, der sich Germain genannt hatte.
Immer noch etwas benommen, stand ich auf und ging zu ihm. Ich beugte mich über ihn und sprach ihn leise an.
„Herr Germain!“
Er schlug die Augen auf und blickte mir ins Gesicht. Mich erkennend, lächelte er.
„Guten Tag, Herr Angelus. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise.“
„Ich danke für die Nachfrage,“ antwortete ich etwas verwirrt. „Ich habe alles gut überstanden. Nur am Ende wurde ich jedesmal ohnmächtig und wußte nicht, was mit mir geschah.“
„Das kann einem schon passieren, wenn man über eine weniger robuste Konstitution verfügt,“ sagte Herr Germain, immer noch lächelnd. „Aber jetzt sind Sie ja wohlbehalten wieder daheim. Lassen Sie sich aber von einem Freund einen guten Rat geben. Reden Sie zu niemandem von dieser Reise. Es muß Ihr Geheimnis bleiben. Ansonsten wird es Ihnen übel ergehen.“
„Und was ist mit Ihnen?“ fragte ich. „Warum liegen Sie hier und warum hat man Sie festgebunden?“
„Ach, machen Sie sich nur meinetwegen keine Sorgen,“ sagte Herr Germain leise, fast flüsternd. „Man wird mich schon wieder losbinden. Aber erzählen Sie, wie ist es Ihnen auf der anderen Seite ergangen?“
Ich erzählte so kurz wie möglich, was ich auf unserem Zwillingsplaneten erlebt hatte. Danach schwiegen wir für einen Moment.
„Es ist leider wahr,“ sagte mein Zimmergenosse schließlich nachdenklich. „Alle die Übel, die Ihre Führerin nannte, werden der Bevölkerung unseres Planeten nicht erspart bleiben. Aber dennoch werden die Mächte der Finsternis ihr Ziel, die Herrschaft über die Menschheit zu gewinnen, nicht erreichen, denn auch die Kräfte des Lichtes sind nicht untätig. Die entscheidenden Kämpfe finden in dem für uns unsichtbaren Ätherraum statt, und jedem dunklen Engel stellt sich eine Lichtgestalt entgegen. Dennoch wird die Zahl der Opfer groß sein.“
„Die Schöpfung,“ fuhr er fort, und schien die Fesseln an seinen Händen ganz vergessen zu haben, „vollzog sich von Anbeginn mit Hilfe zweier großer Kräfte, die beide Werkzeuge Gottes sind. Ich will sie nicht gut und böse nennen, denn das sind menschliche Begriffe, die die Natur nicht kennt. Nennen wir sie hell und dunkel. Sie werden im Ätherbereich verkörpert durch Brahman oder Christus auf der einen und durch Ahriman oder Satan auf der anderen Seite. Der letztere wird auch Antichrist genannt. Diese beiden liegen miteinander ständig im Kampf und bewirken dadurch den Fortgang der Schöpfung. Wenn einer von beiden siegt, bedeutet das das Ende dieses Schöpfungszyklus und eine neue Schöpfung müßte durch Gott erfolgen. Natürlich glauben wir als Christen, daß am Ende Christus siegen und Satan unterliegen wird.
Offenbar hat Ahriman die Herrschaft auf jenem Gegenstück der Erde erlangt und schickt nun seine Dämonen auf unsere Seite hinüber, um auch unseren Planeten seinem Reich einzuverleiben. Man muß gewärtig sein, daß wir von seinen Kreaturen umzingelt sind. Darum nochmals mein Rat: Kein Wort über Ihren Ausflug.“
Er lehnte sich zurück und schloß die Augen, mir damit zu verstehen gebend, daß er das Gespräch für beendet hielt.
Bald darauf erschien ein hünenhafter Pfleger. Als er mich wach fand, fragte er nach meinem Befinden, maß Puls, Temperatur und Blutdruck und trug alles sorgfältig in ein Krankenblatt ein. Dann entfernte er die Infusionsnadel aus dem Arm meines Mitpatienten, löste dessen lederne Fesseln und fuhr das Gestell mit der leeren Glasflasche hinaus.
Kurze Zeit später kam er wieder und forderte mich auf, ihm zu folgen. Er führte mich in ein Behandlungszimmer, in dem eine noch junge, brünette Ärztin hinter einem Schreibtisch saß. Sie begrüßte mich freundlich, reichte mir die Hand und bat mich, Platz zu nehmen.
Sie sagte, ich befinde mich in einer psychiatrischen Heilanstalt, da ich vergangene Nacht in einem Zustand geistiger Verwirrung von der Polizei ganz in der Nähe aufgegriffen und hierher gebracht worden sei.
Ich nannte meinen Namen und meine Adresse und gab an, meine letzte Erinnerung wäre, Gast im Hause einer Familie Haslinger gewesen zu sein. Der Warnung meines rätselhaften Bekannten eingedenk, erwähnte ich nichts von meiner interplanetaren Reise.
Die junge Ärztin stellte mir noch einige Fragen, meine Gesundheit und frühere Erkrankungen betreffend, die ich alle zufriedenstellend und erschöpfend beantworten konnte. Sie sagte, man werde mich noch einige Tage zur Beobachtung da behalten und dann könnte ich voraussichtlich wieder nach Hause gehen. Ob man jemanden benachrichtigen solle.
Ich nannte Namen und Telephonnummer meines Verlegers, die sich die Medizinerin notierte.
Dann fragte ich sie nach meinem Zimmergenossen, warum er hier sei und warum man ihn gefesselt hatte.
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah mich lächelnd an.
„Kennen Sie ihn?“ fragte sie.
„Ich traf ihn im Hause der Haslingers.“
„Und ist Ihnen nichts an ihm aufgefallen?“
„Ein wenig sonderbar schien er mir schon zu sein,“ gab ich zu.
„Er leidet unter Schizophrenie,“ sagte sie, immer noch leicht lächelnd. „Wir müssen ihn zuweilen anschnallen, wenn er einen seiner Schübe bekommt. Dann ist er eine Gefahr für sich und andere. Aber Sie können unbesorgt sein. Seinen letzten Schub hat er gerade erst gehabt und der nächste braucht seine Zeit, um sich aufzubauen. Wir haben ihn unter ständiger Beobachtung. Wie hat er sich Ihnen denn bei ihrer ersten Begegnung vorgestellt?“
„Er sagte, ich könne ihn mit Germain anreden. So habe ihn Voltaire genannt.“
„Das ist typisch für ihn. Er bildet sich ein, der Graf von Saint Germain zu sei, ein legendenumwobener portugiesischer Abenteurer aus dem 18. Jahrhundert. Er behauptet es nie direkt, aber er macht ständig Andeutungen, die in diese Richtung weisen sollen. Wie bei Ihnen die beiläufige Erwähnung Voltaires. Der historische Saint Germain war tatsächlich mit Voltaire bekannt und stand mit ihm in Briefwechsel. Er soll Voltaire die Stunde seines Todes genannt und für das zwanzigste Jahrhundert bewegte Bilder und Flugmaschinen vorausgesagt haben.
Es ist erstaunlich, wie die Figur des Grafen, der angeblich ein Zeitreisender sein soll, immer wieder die Phantasie der Menschen, und gerade vieler Schizophrener, beschäftigt. Ihr Bekannter, der tatsächlich Rakoczy heißt und aus Siebenbürgen stammt, kann froh sein, daß er augenblicklich der einzige Saint Germain unter unseren Patienten ist. Wir hatten schon mehrere, wie übrigens auch der wirkliche Saint Germain zu seinen Lebzeiten und auch nach seinem Tod zahlreiche Doppelgänger hatte. Aber mit Sicherheit ist dieser der überzeugendste von allen, das muß ich zugeben. Er ist kein Dummkopf, wir haben ihn getestet. Sein geschichtliches Detailwissen ist erstaunlich und verblüfft sogar versierte Historiker.
Der historische Saint Germain sprach fließend Französisch, ohne eine Spur von Akzent, ebenso Englisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch. Wir haben unseren Patienten von Sprachexperten examinieren lassen. Er konnte sich in allen diesen Sprachen fließend verständigen, außerdem kennt er die alten Sprachen sowie Russisch und Japanisch.
Sie haben sicher bemerkt, daß wir ihm Infusionen geben. Damit bekommt er Nährstoffe verabreicht und ein Beruhigungsmittel. Er weigert sich, unser Essen zu sich zu nehmen. Auch das ist Teil der Legenden um Saint Germain. Niemand soll ihn je essen gesehen haben. Unser Patient nimmt nur von ihm selbst zubereitete Tees und Körnernahrung heimlich zu sich.“
Sie versprach, meinen Verleger anzurufen, sowie im Hause Haslinger, um meine persönlichen Sachen bringen zu lassen. Dann reichte sie mir freundlich lächelnd die Hand und wünschte mir bis zu meiner Entlassung noch einen erholsamen Aufenthalt. Zu meiner Zerstreuung empfahl sie mir die Nutzung der Anstaltsbibliothek. Ich befolgte ihren Rat und holte mir einige Bücher, mit denen ich mich auf mein Zimmer begab, um mich in ihre Lektüre zu vertiefen.
Es konnte noch nicht allzu viel Zeit vergangen sein, als sich die Tür des Krankenzimmers erneut öffnete und der hünenhafte Pfleger hereinkam. Er verkündete mir, ich habe Besuch erhalten. Ein Herr und eine Dame warteten auf mich im Besucherzimmer.
Mein Herz machte einen freudigen Sprung. Ich dachte sofort an sie und Dr. Z. Ich folgte dem Pfleger und betrat erwartungsvoll den spärlich möblierten Raum. Doch ich wurde enttäuscht. Denn dort begrüßten mich nicht sie und Dr. Z., sondern Herr und Frau Haslinger.
Als der Pfleger den Raum verlassen hatte, bekundeten sie mir ihre Sympathie und versprachen jede ihnen mögliche Unterstützung. Sie ließen keinen Zweifel daran, daß sie wußten, wohin ich in jener Nacht durch ihren Spiegel gelangt war.
„Wir konnten leider nicht verhindern, daß man Sie hierher brachte. Sie müssen nach Ihrer Rückkehr in einer Art Trance das Haus und den Park verlassen haben. So etwas kann leicht passieren, wenn der ätherische Körper von dem physischen getrennt war.
Aber seien Sie unbesorgt, wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen. Sie können uns vertrauen. Wir sind Ihre Freunde. Berichten Sie uns, was Sie in jener Welt gesehen haben. Die Menschheit braucht Ihr Zeugnis. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um etwas zu unternehmen.“
Ich zögerte. Ich dachte an die Warnung meines Zimmergenossen. Doch dann vergegenwärtigte ich mir, was auf dem Spiel stand, überwand meine Bedenken und gab einen knappen Bericht meiner Erlebnisse.
Die Haslingers hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu, nickten von Zeit zu Zeit wie bestätigend mit dem Kopf und warfen sich bedeutsame Blicke zu. Ich schloß mit einem eindringlichen Appell.
„Bitte benachrichtigen Sie umgehend Dr. Z. und sagen Sie ihm, er solle alles vorbereiten, um mit dem Bau der Apparatur, die er entworfen hat, zu beginnen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Auf dem Gegenplaneten sind schon mehrere dieser Anlagen in Betrieb und senden negative Ätherschwingungen zu uns herüber.“
Herr und Frau Haslinger nickten mit ernsten Mienen.
„Seien Sie versichert, daß wir alles erforderliche unternehmen werden. Unser Freund Saint Germain hat die Beschaffenheit des noch fehlenden Stoffes erkundet, so daß mit dem Bau eines Prototyps jener Apparatur unverzüglich begonnen werden kann. Wir haben erste diskrete Kontakte mit Regierungsstellen aufgenommen, um sicher zu gehen, daß der Angelegenheit von staatlicher Seite die nötige Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteil wird. Ihr sehr interessanter Bericht wird, wenn Sie erst einmal hier herausgekommen sind, der Sache den nötigen Nachdruck verleihen.“
Wir verabschiedeten uns mit Wärme. Mit dem beruhigenden Gefühl, daß die Dinge in der rechten Bahn waren und am Ende doch noch alles gut würde, vertiefte ich mich wieder in meine Lektüre. Nach einer Weile kam der hünenhafte Pfleger mit einem stämmigen Kollegen herein. Sie gingen zielstrebig auf mich zu, sagten, ich solle mich nicht aufregen, es geschehe alles nur zu meinem Besten und schnallten meine Arme und Beine mit ebensolchen ledernen Manschetten fest, wie ich sie schon bei meinem Bettnachbarn gesehen hatte. Meiner Proteste nicht achtend, gaben sie mir eine intravenöse Injektion und verließen das Zimmer.
Ich hatte das Gefühl, daß die Welt in Watte versank. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Stimme Saint Germains: „Ich habe Sie gewarnt ...“

Seitdem ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Doch was ist schon ein Vierteljahrhundert im Zeitplan der Schöpfung? Mein Haar ist grau geworden, doch im Innern habe ich mich wenig verändert.
Ich habe mit Saint Germain noch oft über jene Ereignisse gesprochen und habe eingesehen, daß es ein großer Fehler von mir war, dem Ehepaar Haslinger zu vertrauen. Wie ich später erfuhr, waren sie die Haupteigentümer der psychiatrischen Anstalt und des dazugehörigen Dorfes, die unter dem Namen „Haslingersche Heilstätten“ bekannt waren. In dem Dorf, durch das ich seinerzeit in der Limousine auf dem Weg in die Villa der Haslingers gefahren war, lebten die harmloseren Patienten relativ frei, allerdings meist unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Nach zwei Jahren, als ich es aufgegeben hatte, gegen mein Schicksal zu rebellieren, wurde ich selber ein Bewohner dieser vorbildlichen und modernen Einrichtung. Ich saß tagsüber auf einer Bank vor meinem Häuschen und beobachtete die vorbeifahrenden Automobile oder gelegentlichen Wanderer, die uns arme Narren neugierig beäugten, als wären wir Tiere im Zoo.
Saint Germain verließ uns bald. Er verabschiedete sich zuvor von mir und sagte, er werde sich für mehrere Jahre in den Himalaja zurückziehen und dort spirituelle Energien sammeln. Dann wolle er wieder unter die Menschen zurückkehren und für eine weitere Zeitspanne zu ihrem Wohle tätig sein. Er wünschte mir Glück und versicherte, daß wir uns wiedersehen würden. Er nannte mir auch Ort und Zeit unserer Begegnung, doch vergaß ich diese später. Am nächsten Tag war er nicht mehr da, es hieß, er sei gestorben. Allerdings gab es weder eine Beerdigung noch hatte irgendjemand seinen Leichnam gesehen.
Allmählich gewöhnte ich mich an das Leben in den Heilstätten und wurde ein Musterpatient. Ich gewann bis zu einem gewissen Grad das Vertrauen des Pflegepersonals. Man übertrug mir verantwortungsvolle Aufgaben wie das Ausgeben von Essenportionen und das Verteilen von Nachtwäsche. Ich wußte, daß das alles nicht von Dauer sein würde und wartete auf die Zeichen des Unheils und der angekündigten Katastrophen. Und diese ließen nicht auf sich warten.
Ich war inzwischen einer der Bewohner des Dorfes, saß auf meiner Bank und beobachtete das Geschehen auf der Straße. Militärkolonnen fuhren vorbei, die Soldaten johlten, winkten zu uns hinüber und machten allerlei anzügliche Gesten. Später wurden sie immer schweigsamer und mancher blickte mit Neid auf uns. Dann erfüllte ein unheilvolles Dröhnen die Luft. Hoch oben flogen große Bomberformationen in Richtung auf die Stadt. Nachts war der Himmel vom roten Widerschein gigantischer Feuersbrünste erhellt. Flüchtlingstrecks zogen durch das Dorf. Die Menschen hatten verstörte, verzweifelte Gesichter, ihre Habe hatten sie auf Pferdewagen geladen oder sie trugen sie in Rucksäcken und Bündeln bei sich.
Immer häufiger heulten auch bei uns die Sirenen und wir wurden in den Heizungskeller der Anstalt getrieben. Dort saßen wir beisammen, Pfleger und Patienten, und hörten angstvoll auf die entfernten Detonationen. Zuweilen vibrierten die Kellerwände, das Licht flackerte und Putz rieselte von der Decke. Dann sagte jemand: „Das war schon ganz in der Nähe.“
Eines Nachts gingen wieder die Sirenen. Zugleich ertönten auch schon die ersten Einschläge. Die Erde schien zu beben. Alle rannten durcheinander, jeder, ob Pfleger oder Patient, dachte nur noch daran, sich selber in Sicherheit zu bringen. Anstatt den anderen in den Keller zu folgen, rannte ich so schnell ich konnte in die entgegengesetzte Richtung, in ein nahes Wäldchen. Um mich herum heulte und krachte es, aber ich lief atemlos immer weiter und versteckte mich im Gehölz.
Am nächsten Morgen sah ich mich vorsichtig um. Die Anstalt war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Brandgeruch erfüllte die Luft. Auf der Straße waren Flüchtlinge unterwegs, Menschen mit leerem Blick, die ihre Habe und ihre Heimat verloren hatten. Manche hatten nichts gerettet als das nackte Leben. So wie ich. Ich schloß mich ihnen an.
Neben mir ging eine Frau mit einem Kind, einem etwa fünf Jahre alten Mädchen. Sie trug einen großen Koffer. Darin befand sich alles, was sie gerettet hatte. Ich erbot mich, den Koffer zu tragen. Sie blickte mich kurz und prüfend an, dann nickte sie. Der Koffer war schwer, wer weiß, wie weit sie ihn schon geschleppt hatte. Ich fühlte mich stark und voller Zuversicht.
Die Mächte der Finsternis werden ihr Ziel nicht erreichen, hatte Saint Germain gesagt. Jedem dunklen Engel stellt sich eine Lichtgestalt entgegen.
Irgendwann war ich mir abhanden gekommen. Unbekannte Kräfte hatten mich von meinem Wesen abgezogen und mir selbst entfremdet. Aber es ist noch nicht zu spät.
Ich werde noch einmal ganz von vorne beginnen.
 

Morgana

Mitglied
Hallo Stefan,

sorry das meine Antwort so lange gedauert hat, ich hatte sie Dir ja schon angekündigt.
Du beschwörst mit dieser Geschichte ein beklemmendes und doch faszinierendes Bild. Ich kann mir nicht helfen, die Sprache die Du verwendest erinnert mich an alte Klassiker. Sicherlich könnte man hier und dort noch einige Kleinigkeiten verbessern, das könnte man wohl aber an jedem Werk das je geschrieben wurden. Insgesamt eine runde Sache. Wenn auch das Ende etwas hastig geschrieben ist. Daran würde ich vielleicht noch ein wenig arbeiten.
Wenn Du Wert auf genaueres Eingehen auf die Kritikpunkte legst, dann würde ich das lieber in einer Email erledigen, weil das Werk ja doch recht lang ist und es hier auf der Leselupe sonst wohl zu unübersichtlich wird.
Alles in allem ist die Geschichte sehr gut erzählt und man kommt nicht ins gähnen. Ständig fragte ich mich was dieser Dichter noch so alles erlebt, man spürte genau, das die Haslingers falsche Fuffziger sind, Prima gemacht.

Blessed be

Morgana
 



 
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