Publikumsjoker

ikaros

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Das Scheinwerferlicht trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Doch zweifellos: der Lautsprecher hat soeben meinen Namen ausgesprochen und der Applaus des Publikums dröhnt in meinen Ohren wie ein Hubschraubermotor.
Ein Tusch, Lichtblitze zucken und mit einem unwirklichen Körpergefühl erhebe ich mich und gehe den vorgeschriebenen Weg hinauf zu Günther Jauch, der mir lächelnd die Hand reicht und mit höflicher Geste auf den einzigen noch freien Platz deutet. Mein Herz rast im Sechzehnteltakt und unterschwellig wünsche ich mir, ich hätte die Sterbedaten von Morrison, Hendrix, Joplin, Lennon und Cobain nicht binnen fünf Sekunden in die richtige Reihenfolge gebracht.
Vor mir leuchtet das Display auf, das Lichtgewitter verebbt, der Applaus erstirbt und die Spannung steigt. Ich versuche, bei unserem Einführungsgespräch nicht in die Kameras zu schauen und antworte mechanisch und mit trockener Stimme auf Günther Jauchs Fragen.
„Sie sind bereit?“ sagt er schließlich. Ich nicke lächelnd und nehme einen Schluck Wasser. Aus Erfahrung weiß ich, dass die 50-Euro-Frage ziemlich idiotensicher ist.
„Was war zuerst da?“ fragt Günther mit stoischer Miene. „War das vielleicht A: das Huhn..? oder B: das Ei..? war es C: keines von beiden..? oder D: beide gleichzeitig..?“
Ich glaube, ich habe nicht richtig gehört.
Er wiederholt die Frage noch einmal. Ganz langsam, bedeutungs-schwer und unmissverständlich.
Mir bricht der eiskalte Schweiß aus und wenn ich mich bewegen könnte, würde ich aufstehen und gehen. Was für eine schwachsinnige Frage! Seit Äonen wird über dieses Thema ergebnislos diskutiert, philosophiert und meditiert; und jetzt soll ich, ausgerechnet ich, vor einem Millionenpublikum für lächerliche 50 € die richtige Antwort liefern? Himmel! Wenn ich das gewusst hätte..!
Durch einen Wust von Gedanken, die wie wild gewordene Bienen durch meinen Kopf rasen, höre ich Günther Jauchs Stimme: „Sie zögern..?“
„Ich schwanke…“ bringe ich unsicher hervor.
„Hmm…“ sagt er, danach entsteht eine längere Pause.
Nach fieberhaftem Hin und Her kommt mir die rettende Idee: „Ich ehh… ich glaube, ich würde gerne den Fifty-Fifty-Joker…“ stottere ich und möchte am liebsten vor Scham im Boden versinken.
„Den Fifty-Fifty-Joker.“ Rein rhetorisch wiederholt Günther Jauch meine Worte. Ich nicke blass.
„O.k!“ sagt er und auf dem Display verschwinden die Antworten C und D.
Ich beiße mir auf die Lippe und weiche den Blicken der Kameras aus. Das hätte ich mir denken müssen! Logisch: was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei..?
Ich tue so als würde ich angestrengt nachdenken und fixiere einen gelben Pullover im schwach erkennbaren Publikum.
„A oder B?“ fragt Günther Jauch mit einem leisen Anflug von Ungeduld.
„Naja…“ versuche ich zu retten, was zu retten ist und erkläre so überzeugend wie möglich: „Vielleicht… sollte ich das Publikum befragen…“
Günther seufzt.
„O.k!“ sagt er und beugt sich ein wenig nach vorne. „O.k., warum nicht? Fragen wir das Publikum…“
In der Halle wird es für einen Moment drückend still.
„Also“, sagt Günther, „was war zuerst da, liebes Publikum, das Huhn oder das Ei?“
Obwohl ich kaum glauben kann, was um mich herum passiert, habe ich in diesem Moment die starke Hoffnung, dass das Publikum beantworten wird, was noch keiner zuvor beantwortet hat. Um die Spannung ertragen zu können, halte ich die Luft an und zähle innerlich im Zwanzigerbereich: fünfundzwanzig… sechsundzwanzig… siebenund…
Pong! Auf dem Display erscheint die ernüchternde Statistik: 49% für Huhn, 51% für Ei. Danke schön, liebes Publikum..!
Was jetzt? Ich wünsche mir sehnlich, dass der absurde Frage-und-Antwort-Zirkus bald vorbei ist und die Scheinwerfer- und Kameraaugen jemand anderen aufs Korn nehmen. Es ist tatsächlich kaum noch auszuhalten!
„Tja,“ sagt Günther Jauch, „kein wirklich eindeutiges Ergebnis… Sie tun sich schwer…“
Ich schlucke resigniert und krame in meinem Kopf nach einer guten Idee, den Schaden auf ein Minimum zu begrenzen. Was kaum mehr möglich ist, obwohl: ich habe noch einen Trumpf auf der Hand, einen zarten Hoffnungsschimmer. Und das ist Mike!
„Ich könnte vielleicht…“ stammle ich, „vielleicht könnte ich ja noch… jemanden anrufen…“
„Sie möchten demnach… auch noch den Telefonjoker setzen?“ bemerkt Günther Jauch Stirn runzelnd.
„Wenn das geht… ich meine… warum nicht?“ Mittlerweile ist mir alles egal.
Günther sieht mich an als hätte ich meine Schwester an die Al Quaida verkauft und bringt ein hölzernes Lächeln zustande.
„Kein Problem!“ sagt er. „Wie Sie wünschen…“
„Mike ist ein guter Freund von mir… er weiß bestimmt und… er hat mir schon oft geholfen!“
Mike erscheint plötzlich im strahlenden Glanz des Erlösers vor meinen Augen.
„O.k.“ sagt Günther Jauch und fingert nach seinem Telefon. „O.k!“
Nach schier endloser Zeit meldet sich tatsächlich Mike am anderen Ende der Leitung. Günther Jauch verwickelt ihn in ein nettes Gespräch, erläutert ihm meine peinliche Zwangslage und gibt ihm irgendwie zu verstehen, dass er, Mike, die letzte Tankstelle vor meinem Millionen-Gewinn darstellt.
Danach gibt er das Gespräch an mich weiter und ich frage Mike ohne lange zu fackeln: „Huhn oder Ei?“
Neunundzwanzig… achtundzwanzig… siebenundzwanzig…
„Nun“, sagt Mike endlich, „aus dem Bauch heraus… tippe ich auf Ei!“
Die Spannung nach seinen Worten liegt im maximalen Stark-strombereich. Einundzwanzig… zwanzig… neunzehn…
„Aber vom Kopf, ja..? vom Kopf tippe ich auf Huhn..!“ So Mike.
Dreizehn… zwölf… elf…
„Bist du sicher?“ frage ich.
„Also… wenn du mich fragst…“ windet sich Mike wie unter den Tentakeln eines Riesenkraken. „Wenn du mich fragst… ja!“
Drei… zwei… eins… das war’s!
Zu spät erkenne ich, dass Mike’ s Antwort keine wirkliche Antwort war. Kopf oder Bauch? Huhn oder Ei? Es spielt keine Rolle! Ich grinse wie eine trächtige Kuh, die aufs Glatteis geführt worden ist.
Die Kamera hat mich fixiert und verfolgt meine Niederlage mit gleichgültigem Blick. Peinliches Resümee meines ersten Fernsehauftritts: bei der 50-Euro-Frage schon alle Joker verbraten und noch immer keinen blassen Schimmer!
Günther Jauch schaut mir noch einmal tief in die Augen. Der Countdown läuft.
„Huhn oder Ei?“ fragt er mich. So eindringlich, als ob es um das Fortbestehen des Universums ginge.
Mein Herz rast.
„Huhn oder Ei?“ brüllt es wie ein Löwe in meinem Kopf. „HUHN ODER EI..? HUHN ODER EI..???“
„Ich weiß es nicht!!!“ schreie ich.
Keuchend und in Schweiß gebadet werfe ich die Bettdecke zur Seite und atme ein paar Mal tief durch.
 
Herzlich willkommen in der Leselupe und dass Du Deine Geschichte der Meute zum Frass vorwirfst. Nun zum Text.

Der Aufbau ist meiner Meinung nach sehr gut, aber zum Schluss die Pointe versackt total. Irgendwie ist das Ende enttäuschend. Je länger Du die Geschichte zur Pointe aufbaust, desto stärker muss die Pointe sein. Dass er dann "nur aus dem Schlaf aufwacht" ist eine enttäuschende Wendung.

Ich bin mir sicher, Du kannst einen wesentlich stärkeren Schluss finden.

Servus

Marius
 



 
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