Quicklebendig tot

ibini

Mitglied
Ich wußte gar nicht, wie schnell man tot sein kann. Natürlich hatte ich schon davon gehört. Aber es nie selbst erlebt. Bis zu jenem Augenblick. Ich stieg aus der Straßenbahn … das heißt, ich wollte es. Denn statt herauszuklettern, fiel ich wie ein Baumstamm auf die Straße. Und war hinüber. Die letzte Erinnerung – ein Schrei. Es kann auch eine quietschende Autobremse gewesen sein. Von nun sah ich zwar alles, freilich mit anderen Augen.

Viele Menschen und zwei Hunde standen um mich herum, sich mit guten Ratschlägen überbietend. Jeder hoffte, der andere würde etwas tun. Die Initiative ergriff dann ein Mann in einem vor längerem weißen Kittel. Der suchte unter meinen Augenlidern offenbar nach seinem Honorar. Als er trotz Taschenlampe nichts fand, stellte er fest, was ich eh wußte: der ist hops! Ein schwarzes Auto sammelte mich ein und brachte mich dorthin, wo die Ruhe zu Hause war. Lediglich ein bißchen wärmer hätte es sein müssen, um sich wohl zu fühlen. Nach zwei Tagen änderte sich alles. Die Ruhe wurde noch ruhiger, dafür die Kälte wärmer. Irgendwer packte mich an Händen und Füßen und schmiß mich in eine Holzkiste. Dabei murmelte er was von Trinkgeld. Aus alter Gewohnheit wollte ich in meine Tasche greifen: ich hatte keine! Außerdem war meine Behausung inzwischen bedeckelt.

Minuten später fühlte ich mich wie ein König. Denn ich wurde getragen. Bisher mußte ich immer laufen. Zwar waren es höchstens vierhundert Meter, aber ich genoß es. Das Loch, in dem ich schließlich landete, war nicht gerade komfortabel. Selbst einem Sozialhilfeempfänger steht mehr Wohnfläche zu. Radio? Fernseher? Denkste! Auf meinen Einspruch reagierte kein Schwein. Zuerst dachte ich, na wenigstens frische Luft. Selbst die gönnte man mir nicht. Wurde ich doch mit Erde zugeschaufelt. Die paar Leute, die die Prozedur, ohne sich eine Träne abzuquetschen, verfolgt hatten, wechselten die Miene und nahmen Kurs auf die nächste Kneipe.

Ich lag nach wie vor in der unwirtlichen Kiste. Zum Glück erbarmte sich jemand meiner. Gerne hätte ich mich bei ihm bedankt, aber ich konnte niemanden entdecken. So schwebte ich mit dem Vergelt’s Gott auf der Zunge mutterseelenallein gen Himmel. Im blaurot geblümten Nachthemd. Die Erde wurde zusehends kleiner. Schließlich war sie verschwunden. Mein Raumflug ging weiter. Als ich schon nicht mehr an ein Ende glaubte, landete ich weich vor einer großen Holzpforte. Dort wurde ich von einem Einmann-Empfangskommitee erwartet. Der Mann mit dem grauen Bart und dem überlangen Spazierstock wollte mich vor Freude gleich wieder zurückschicken. Selbstverständlich mit einer angemessenen Aufwandsentschädigung. Ich wäre eine Verwechslung. Während er redete und redete, konnte ich kurz hinter das schwere Holztor schauen. Was ich da sah, gefiel mir weitaus besser als das, was ich kannte. Mein Vorschlag, die Aufwandsentschädigung gegen eine Aufenthaltsgenehmigung einzutauschen, war zwar nicht nach dem Geschmack des Pförtners. Doch er ließ sich mit Hilfe des mitgebrachten Vergelt’s Gott überreden. Seitdem bin ich hier oben – quicklebendig tot!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
prust,

lach, quietsch! mensch, ich grinse immer noch. prima geschichte, kommt in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

selbst von dieser Erde geschieden, hat man schließlich Anspruch auf ein leichenwürdiges Leben! Und ich nehme doch an, in Deiner Sammlung befinde ich mich in bester Gesellschaft. Das Vergelt’s Gott bin ich allerdings inzwischen als kleinen Obolus losgeworden. Ich hoffe aber, daß Dir auch ein ehrfurchtsvoll-weltliches Dankeschön genügt.

Mit himmlischem Gruß
ibini
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

sogar deine antworten sind perlen. ja. in meiner sammlung ist nur das, was ich als angenehm empfinde, also biste bestimmt nicht einsam. ganz lieb grüßt
 
S

Sanne Benz

Gast
Hallo Ibini,
ne gute Idee.

"Viele Menschen standen um mich herum, sich mit guten Ratschlägen überbietend und zwei Hunde, die mich beschnupperten" (?)

Du kannst nicht SEHEN, das sie in eine Kneipe gehen wollen.
"Sie wollen in eine Kneipe gehen.Klasse, ich will mit!" (oder so ähnlich?)

und ich habe echt geschmunzelt..
wenns SO ist..dann hab ich keine Bange.:)
lG
Sanne
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

ich wußte es und bin trotzdem beruhigt! Mein Nachthemd bringe ich vorsichtshalber mit. Es ist zwar nicht geblümt, sondern kariert. Dafür maßgeschneidert. Allerdings für meine doppelt so schwere Großmutter. Im Dunkeln fällt das allerdings kaum auf!

Mit erdnahem Gruß
ibini
 

ibini

Mitglied
Hallo Sanne,

okay, man kann die Hunde noch schnuppern lassen! Dann haben sie wenigstens etwas zu tun. Aber sehen? Sehen kann ich schon, wenn auch mit anderen Augen (wie es in der Geschichte steht)! Das stimmt übrigens mit vielen Beschreibungen von Menschen überein, die, tot gewesen, zum Beispiel bei ihrem eigenen Begräbnis zugeschaut haben. Ich meine, Angst vor dem Tod braucht man nicht zu haben: das Problem ist das Sterben!

Mit Gruß
ibini
 
S

Sanne Benz

Gast
Hallo Ibini,
ja..klar..
Anfangs hatte ich das auch so empfunden, das Du alles SIEHST..(die meisten, die mal tot waren, erzählen ja davon,das sie aus ihrem Körper gingen und alles beobachten konnten)
nachher schlug das bei mir um..weiss auch nicht wieso.Da spürte ich eher mit,wie Du IN der Kiste liegst und so.
Sorry..mein fehler..
Du schwebst also immer noch darüber suzusagen und SIEHST das ja alles.
Kam bestimmt durch die Beschreibung,wie es innen so ist in der Kiste..hm..
ok, mir gefällt sie..auch die Idee ist mal ne andere..und lass doch die Hunde ruhig schnuppern..zumal es sich so liest,als würden sie mit den Menschen versuchen sich zu "überbieten"..
schönen Tag
lG
Sanne
 

ibini

Mitglied
Hallo Sanne,

ob nicht richtig gelesen oder überlesen, ist nun wahrlich nicht ein Wort der Erklärung wert! Aber den zahlreichen Erfahrungsberichten nach könnte es so sein: Man sieht und hört alles, was mit einem bzw. um einen herum geschieht, eigentlich nur mit seiner Hülle. Denn die im Raum schwebende Seele ist man ja selbst, gleichsam als „stiller Beobachter“! Wie anders wäre es zu erklären, daß viele der „wiederauferstandenen“ klinisch Toten (Nahtodeserfahrung) von Dingen wußten, die sie gar nicht wissen konnten? Allerdings, einige Zweifel bleiben immer. Vielleicht sind wir über das wirkliche Geschehen allesamt überrascht, sofern wir es denn je erfahren werden!

Mit Gruß
ibini
 
S

Sanne Benz

Gast
hallo Du,
das ist ja, was ich meine..
Anfangs in Deiner Story war es mir klar..das Du da drüber schwebst..(wie eben in vielen Berichten)
nur später..die Beschreibung als Du in der Kiste lagst..
da hatte ich das total vergessen..
und fühlte so..wie einer, der DARIN liegt...
aber dabei schwebstest DU ja immer noch über allen../m..

Ja,es gibt diese Schilderungen und ich sperre mich auch nicht..dafür sind sie zu präzise..um das es etwas nur "geträumtes" oder so wären..

Ob es ALLEN mal so ergeht..das weiss niemand..ich möchte es eigentlich nicht erbleben..dazuliegen..tot..oder halb..und über mir zu schweben und dann andere..meine Lieben..da leiden zu sehen.
Aber ich glaube, das ist nur dann der Fall, wenn man noch zwischen LEBEN UND TOD...(der Zeitpunkt,wo eben noch nicht entschieden ist,ob Du tot bis/bleibst/oder weiter lebst)hängt.
Dann..erlebt man das..was Du da in der Geschichte beschreibst.

Aber ..alles nur Annahme..:)

Gerade muss ich an "Falko" denken..einem meiner Lieblingssänger..ein Dichter..:(

lG und danke für diese Konversation..
Sanne
 

ibini

Mitglied
Hallo Sanne,

ob es grad „schön“ ist oder nicht, seinen eigenen Tod mit allem Drum und Dran ansehen zu müssen? Ich weiß es nicht. Denn in verschiedenen Berichten wird auch von einer gewissen „Leichtigkeit“, einer Freiheit von rein menschlichen Empfindungen gesprochen. Über eines aber bin ich mir klar: Gefragt werden, ob Du es möchtest, wirst Du nicht! Natürlich ist vieles Spekulation. Allerdings, ob man hundert oder zweihundert Jahre alt wird, sterben müssen wir allemal. Deshalb wäre es falsch, das Thema zu tabuisieren. Man sollte sich zwar nicht gerade lustig darüber machen. Jedoch mit einer Dosis Humor erträgt sich bei allem Ernst auch diese Seite des Lebens besser. Und ich wiederhole mich: Der Tod ist für einen selbst gar nicht das Problem, wie ich meine, sondern (meist) das Sterben. Freilich ist auch das nur eine Annahme, eine Annahme, mit der sich unter Umständen leichter leben läßt.

Mit Gruß
ibini
 



 
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