Quintett mit Damen

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Quintett mit Damen

Vorwort:
Hier wird eine Geschichte erzählt, deren Anfänge noch nicht von der Hektik des Internet- Zeitalters erfasst waren. Demgemäß habe ich nur wenig am behäbigen Schreibstil meiner früheren Aufzeichnungen geändert. Andernfalls wäre viel „Atmosphärisches“ verloren gegangen.


Als ich – irgendwann im Sommer 1991 - gestresst vom Dienst nach Hause kam, lag zu meiner Entspannung schon das Lokalblättchen auf dem Wohnzimmertisch. Beim Durchblättern stach mir gleich eine Notiz in die Augen.
Vier Musikanten waren von ihrer Pianistin verlassen worden. Das war doch was für mich! Ich machte meine Frau darauf aufmerksam. Sie war in keiner Weise überrascht, als wollte sie sagen: Dacht’ ich mir’s doch, dass Du da anbeißt.
Ich hängte mich gleich ans Telefon. Alles Weitere verlief wie programmiert. Meine Aufnahmeprüfung bestand ich mühelos. Auch Geschmacksfragen waren kein Thema. Drei der Herren lagen völlig auf meiner Linie: Schlager aus der guten alten Zeit, dankbare Vortragsstücke und typische Kaffeehausmusik (in punkto Technik nicht strapaziös und doch publikumswirksam). Dass der Vierte im Bunde, unser Maestro, mit dieser Richtung nicht ganz einverstanden war, sollte sich bald herausstellen. Er tendierte eher zu Höherem, aber in Anbetracht der von uns anderen nicht zu erbringenden technischen Fertigkeiten, fand er sich mit dem geringeren Niveau ab.

Inzwischen sind wir nun schon 5 Jahre zusammen. Kinder wie die Zeit vergeht!

Unser Maestro hat die achtzig bereits erheblich überschritten und sich dennoch eine beachtliche „Virtuosität“ erhalten. Er spielte die erste der ersten Geigen. Die übrigen Mitstreiter, der Peter, der Sigi und der Theo, haben immerhin die Mitsiebziger hinter sich.
Auch sie spielen meist die 1, Geige, aber wenn es in die höheren Lagen geht, überlassen sie das doch lieber dem großen Meister. Oft ist die Vorlage nur einstimmig. Dann muss der große Meister einspringen und eine zweite Stimme improvisieren.
Die passt manchmal nicht so ganz zu der vom Klavierspieler bevorzugten Harmonie, aber das sind Feinheiten, über die man hinwegsehen kann.
Ich bin mit meinen 65 Jahren gewissermaßen das Nesthäkchen. Mir kann in meine Pianistenrolle so leicht keiner reinreden. Leichtsinnigerweise habe ich neulich aber dem Maestro meine schwächste Stelle verraten: Ich kann keine Triolen auf Achtel spielen, was ich bedaure.

Meist treffen wir uns Dienstagnachmittag in einem extra für uns reservierten Gemeinderaum der evangelischen Kirche, für den der Theo die Schlüsselgewalt hat. Zu Zeiten erhöhter konfessioneller Aktivitäten (Weihnachten, Ostern usw.) kann es allerdings passieren, dass man uns woanders unterbringt. Dann muss das Klavier, Gott sei Dank ein Leichtbaumodell, durch die Flure geschoben werden.

Ich hatte in der Überschrift noch Damen versprochen. Da wäre also die Ida (gehört zum Sigi), die Frieda (gehört zum Peter), und dann sind da noch Theos Hanna und die Meinige. Nur der Maestro ist solo. Er ist schon lange Witwer und wäscht seine Socken selbst – mit kaltem Wasser. Weil ihm warmes zu teuer ist, wie der Sigi kürzlich bemerkte. Der Maestro müsste wirklich nicht so knauserig sein. Als ehemaliger Justizbeamter im gehobenen Dienst, könnte er sich durchaus eine Haushaltshilfe leisten – aber nein, er will nicht.

Während wir üben, vergnügen sich die Damen mit Strick- und Häkelnadeln. Dabei entstehen zum Teil wahre Kunstwerke, die uns Männern echte Hochachtung abnötigen. Neben der Fabrikation von gehäkelten Schmetterlingen, Blümchen und wundersamen abstrakten Gebilden beschäftigen sich die Damen mit der Verzierung von Tischdecken und –deckchen. Wenn wir unsere Instrumente allzu lange quälen, weil unser Häuptling es so will, ergreifen die Damen gelegentlich die Flucht und machen einen Spaziergang ins Umland.

Normalerweise beginnen wir mit unseren Übungen so um 15 Uhr. Anfänglich bereitete mir diese Zeit Kopfzerbrechen, weil ich noch im aktiven Berufsleben stand. Immerhin gestattete mir die segensreiche Einrichtung der jetzt überall verbreiteten Gleitzeit, dass ich die Firma wenigstens um 15 Uhr verlassen durfte, ohne jemandem Rechenschaft schuldig zu sein. Natürlich musste es ja so kommen, dass mein Chef gleich in den ersten Wochen dienstags 15.15 Uhr etwas von mir wollte. Mich als sonst doch so dienstbeflissenen Menschen nicht anzutreffen, löste bei ihm einige Verwunderung aus. Ich habe ihn noch eine Weile im Unklaren gelassen.

Wenn wir etwa eine Stunde geübt haben, hören wir am Klappern der Kaffeetassen, dass uns die Damen eine Pause empfehlen. Diese fällt meist ziemlich lang aus, und weil der gemütliche Teil der Veranstaltung einen breiteren Raum einnimmt, will ich dem hier Rechnung tragen und ausführlich berichten, was die Kollegen und die Damen zur allgemeinen Unterhaltung beisteuern.
Wenn sonst unser Maestro die erste aller ersten Geigen spielt – hier ist der Sigi eindeutig tonangebend. Genauer gesagt, kommen wir anderen kaum zu Wort. Und wenn wir meinen, eben mal etwas loswerden zu können, hat schon seine Ida die Initiative ergriffen. Dennoch, ich muss es zugeben, was der Sigi von sich gibt, ist schon „große Klasse“. Wir könnten ihm stundenlang zuhören, auch wenn uns inzwischen vieles sehr bekannt vorkommt. Ich legte ihm mehrfach nahe, er solle seine Erlebnisse als ehemaliger Gerichtsvollzieher und jetziger Oberaufseher seiner Mietparteien einmal zu Papier bringen, und zwar genauso, wie er sie uns drastisch-bildhaft erzählt. Weil er es aber leider nicht tut, will ich versuchen, ein paar Kostproben seiner Milieuschilderungen zu vermitteln.
Zuerst lasse ich den Gerichtsvollzieher zu Wort kommen:

„Also die Leute, bei denen ich tätig werden musste, die waren schnell zu finden. Das war schon am Geruch im Treppenhaus zu erkennen. Und am Kindergeschrei. Wennde da reinkommst, merkste gleich, dass dort gar nichts zu holen ist. Und wennde da wirklich mal ‚nen Teppich gepfändet hast – beim zweiten Mal ist bestimmt nichts mehr übrig, was man denen noch abnehmen könnte. Inzwischen ist der Mann durchgebrannt, und die Frau sitzt alleine da mit ihren heulenden Sprösslingen. Dabei vergisste fast deinen Auftrag und lässt statt Kuckuck am Ende noch ‚ne Tüte Bonbons für die Gören da“.

Ja Sigi, altes Raubein, ein gutes Herz haste doch.

Nun die Stimme des Wohnungsvermieters:

Ihr liebe Leut’, da machste was mit. Wohnt da doch so ein Depp, dem der Dreck von der Pelle platzt – ganze drei Kubikmeter Wasser verbraucht der im Jahr. Aber ist mir immer noch lieber als die übrige Bagage. Den Deppen kann ich wenigstens als Hilfsklempner gebrauchen. Bei den andern hörste manchmal den ganzen Tag das Wasser rauschen. Die holen dann irgendwelche teuren Handwerker, und hinterher funktioniert die Lokusspülung immer noch nicht. Dann darf ich wieder ran und das Pfuschwerk auseinandernehmen (Sigi, gib’s zu, du machst das doch gern. Du kannst gar nicht anders).
Und dann die aufgetakelte Alte im ersten Stock. Bei der ist dauernd Remmidemmi. Neulich hatse wieder mal ‚nen Kerl rausgeschmissen, drei Stunden später steht er wieder vor der Tür, da hatsen wieder reingelassen; und wer da jetzt ein- und ausgeht, weiß kein Aas (aber die Ida wird schon dahinterkommen).
Und dann das Theater mit der Treppenreinigung! Einer versteckt sich immer hinter dem anderen. Ich bin doch nicht denen ihr Hannepampel. Ein Zirkus ist das – eieijei“.
Sigi, nu hör auf zu mosern, meint die Frieda, nu spielt mal wieder ein bisschen weiter. Doch die Frieda hat ihre Rechnung ohne den Herrn Pfarrer gemacht, der jetzt den Kopf zur Tür reinsteckt und den Kaffee riecht. Ein Stück von Idas hervorragendem Streuselkuchen ist auch noch für ihn da.
Ach der Herr Pfarrer hat auch seinen Ärger. Die Heizung des Gotteshauses hat wieder ihre Tücken (jawohl, das haben wir ebenfalls festgestellt – darum werden wir gleich „Zieht euch warm an“ intonieren). Die Konfirmanden von heute sind überhaupt das Letzte! Die sind alle vom Atheismus infiziert. Manchmal fragt man sich, was die hier wollen. Der Herr Pfarrer beklagt sich bitter. Ich aber frage mich, ob er wirklich ein so treuer Gottesdiener ist. Er sieht eher aus wie ein Filou. Doch sympathisch ist er mir, der alte Spitzbube!
Wir unterliegen fast der Versuchung, uns über die Frau Organistin zu beklagen, die uns überdeutlich spüren lässt, dass wir sie bei ihren Präludien, Toccatten und anderen Intensivübungen nebenan außerordentlich stören. In Wahrheit passt ihr unsere ganze Richtung nicht. Man merkt es an ihrem Spiel. Wenn sie besonders geladen ist, zieht sie alle zur Verfügung stehenden Register, damit sie uns übertönt, oder anders ausgedrückt, dass sie nicht von unsern Schlagern erschlagen wird. Doch was können wir dafür, wenn sie unsere Übungszeiten ignoriert.
Aber das Wohlwollen des Pfarrers wollen wir uns nicht verscherzen, und so halten wir besser die Klappe und nehmen die Organistin in Kauf. Wir werden uns schon aneinander gewöhnen.

Der Pfarrer sieht zur Uhr und stellt fest, dass er noch seines Amtes walten muss, trinkt seinen Kaffee aus und verlässt dankend das Lokal. Es ist schon ziemlich spät geworden, aber ca. eine Stunde haben wir noch.
Die ersten Takte sind gerade verklungen, da tönt unser Oberhaupt: „So geht das nicht, ihr zählt ja nicht! Und überhaupt – was macht ihr bloß mit „denne punktierte Note!“ Nun wird’s kritisch. Wenn unsern Boss sein sonst recht gepflegtes Hochdeutsch verlässt, dann ist er ernsthaft böse. Sigi rollt mit den Augen, auch der Theo und der Peter wirken betreten.
Also gleich noch mal das Ganze. Ich spiele ein bisschen lauter, um die Sünden der Mitstreiter zu überdecken. Ich habe Erfolg damit. ER hat’s ausnahmsweise nicht gemerkt. Einige Male habe ich mir nämlich schon (berechtigte) Vorhaltungen anhören müssen, ich würde Schlampereien vertuschen helfen. Darauf hieß es unerbittlich: Die Geigen alleine …
Ja, unser Maestro hat schon was auf dem Kasten und erzieherisches Talent dazu.

Einmal überraschte uns der große Meister mit einem nicht ungefährlichen Geniestreich:
Sigi und Ida fuhren immer bei ihm vor, um ihn zu unseren Übungsstunden abzuholen. Sonst stand er doch schon an der Straße? Klingeln führte zu nichts. Sigi und Ida warteten noch ein Weilchen …
Mit unguten Gefühlen begannen wir die Probe als Quartett. Zwanzig Minuten später traf der Maestro ein. Er hatte den Termin verschwitzt und sich bei seinem Sohn in der Nachbarschaft aufgehalten und gerade noch den wegfahrenden Sigi mit seinem grasgrünen VW vom Fenster aus gesehen. Da hat sich doch der alte Knabe auf sein fast schon stillgelegtes Mofa geschwungen und sich in den dichten Berufsverkehr gewagt – und das mit einem notdürftig befestigten Geigenkasten und Notenständer! Es war geradezu ein Wunder, dass er heil bei uns ankam.
Um seine sichere Heimkehr waren wir zwar auch besorgt, aber zu vorgerückter Stunde war wenigstens der Berufsverkehr vorbei. Vorsorglich ließ ihn Sigi vorausfahren und nahm Geigenkasten und Notenständer im Auto mit.

Und wieder mal Dienstagnachmittag. Diesmal war die Frieda mit Kuchenbacken dran. Sie steht mit Kuchenpaket und ihrem Peter vor der Eingangstür und kann nicht rein. Heute ist ein ungewöhnlich heißer Herbsttag, und wenn sie so eingezwängt in dem winzigen Straßenfloh gesessen haben, dann sind sie halt groggy, die beiden. Einen Vorteil hat ja so eine kleine Nuckelpinne: Sie passt in jede Parklücke, was Peters begrenzten Fahrkünsten sehr entgegen kommt.
Der Theo erlöst uns von der Warterei und schließt die Tür auf. Heute müssen wir in den Keller, weil in unserm Übungsraum ein Mieterverein tagt. Der im Keller abgestellte Flügel ist der letzte Heuler; man hat ihn wohl seit zwanzig Jahren nicht mehr gestimmt. Aber das macht nichts; heute habe ich mein Keyboard dabei. Heute ist Generalprobe angesagt für eine Feier des Odenwaldvereins (im Vereinsheim gibt’s kein Klavier). Ich montiere mein Instrument, die Mitstreiter packen gemütlich ihre Geigen aus. Peters Notenständer klemmt. Eh’ wir heute so zu Potte kommen!
Da kann ich noch schnell unsern Boss mit ein paar schrägen Takten auf dem schäbigen Flügel ärgern. Ich ernte missbilligende Blicke, die ich aber zurückgebe, weil er seine Noten zu den Capri-Fischern nicht findet. Der Theo kann ihm mit einer Dublette aushelfen – dafür fehlen dem Theo die Tulpen aus Amsterdam.
Es geht ans Stimmen der Geigen. Der Maestro tönt: zu hoch – zu tief! Die Stimmung ist gereizt. Die Damen feixen, weil wir wieder so gar nicht wendig sind. Ich habe zu allem Überfluss auf meinem Keyboard ein Flötenregister eingestellt, das unserm Obermeister und auch meiner Gattin schmerzhaft in den Ohren klingt. Dann doch besser wieder auf Saxophon umschalten!

Allmählich müssen wir über die Hauptjahresfeier der vereinigten Jahrgänge 1915-1917 nachdenken, die wir mit unserm preiswerten Orchester ausgestalten dürfen. Sigi, lästere nicht! Dafür bekommen wir auch keine Gage. Sei zufrieden mit der Flasche Sekt, die uns die Frau Vereinsvorsitzende mit lieblichen Worten überreichen wird. Ach, wir sind ja so bescheiden geworden. Man braucht uns ja sowieso nur noch 3-4 Mal im Jahr.
Da greift man besser auf „klubinterne“ Hochzeiten zurück, aber eigentlich haben wir die schon weitgehend hinter uns. Ein zweites Mal geht das bei Sigi und Peter nicht, und ehe wir beim Theo und seiner Hanna aufspielen können, ist es noch zu lange hin. Die beiden haben zu spät geheiratet. Und bei Nesthäkchens ist noch gar nicht dran zu denken.

An dieser Stelle möchte ich dem Sigi für einen einträglichen Spezialeinsatz danken, den er uns anlässlich einer Fete von quietschfidelen Uralt- Kriegsveteranen vermittelt hat (Sigi war Schatzmeister bei dem Verein; als ehemals aktiver Unteroffizier hat er früher Rekruten gescheucht).
Es war ein erhebendes Gefühl, die preußisch-pommerschen Kavalleristen mit ihren Damen nach meiner Pfeife bzw. meinem Keyboard tanzen zu lassen.

Ansonsten ist bei uns für persönliches Geltungsbedürfnis „kein Raum“. Das habe ich deutlich zu spüren bekommen, als ich an einem unserer Übungstage ein paar alte Tangos und Foxtrotts als Pausenfüller zum Besten gab. Meine Mitstreiter straften mich mit Nichtbeachtung. Man könnte das auch übertriebene Vereinsdisziplin nennen. So wie es aussah, haben mir die Damen gern zugehört.
Vielleicht hat die ablehnende Haltung der Kollegen einen einfachen, psychologisch verständlichen Hintergrund: Sie haben mit ihren im Prinzip einstimmigen Instrumenten wenig Chancen für eine wirkungsvolle Selbstdarstellung. Wer hört schon gern Solo-Geige! Ausnahmen bestätigen zwar die Regel, aber da muss einer schon Helmut (wie der Zacharias) oder Niccolo (wie der Paganini) heißen. Heißt hier jemand Helmut? Jawoll – unser Oberhäuptling.
Günstiger sieht die Sache aus, wenn sich zwei als Duo zur Schau stellen (bzw. sich gegenseitig die Schau stehlen) – wenn also etwa der Maestro mit mir die „Vineta-Glocken“ zu Gehör bringt.

In den Sommermonaten legen wir meist eine längere Pause ein. Aus den Augen verlieren wir uns trotzdem nicht. Wenn ich mit der Meinigen einkaufen gehe, läuft uns ständig die Hanna oder der Peter über den Weg. Hin und wieder begegnet uns auch die Frieda. Einmal haben wir ihr einen gehörigen Schreck eingejagt. An einem Sonntag kamen wir an ihrem Grundstück vorbei, als sie in gärtnerische Tätigkeit vertieft war. Sie hat uns für Zeugen Jehovas gehalten, die sie kurz zuvor schon mal belästigt hatten. Der Peter hat davon nichts mitbekommen. Der fiedelte gerade in seinem Zimmer etwas aus unserm Standardprogramm. Es hörte sich zwar ein wenig verbissen an, aber ernsthaft: Üben darf sich gar nicht anders anhören.
Auf einmal erklangen ganz andere Töne: Peter sang. War das nicht eine Arie aus Mozarts Figaro? Kein Wunder, denn es war noch gar nicht lange her, da war er ausübender Figaro in seinem Geschäft in der Hauptstraße. Nun hat sein Sohn das Geschäft übernommen. Wenn aber jemand vom Personal krank ist, springt der Vater ein, obwohl er das wegen seines Beinleidens gar nicht mehr dürfte.

Was spielen wir bloß zur Weihnachtsfeier in der „Clara“. Wir wollen nicht immer nur Feierliches anbieten. Ein bisschen was Flottes schadet bestimmt nicht. Wie wär’s z.B. mit einer Schneeballschlacht mit der Conny Froboess? (Pack die Badehose ein – und das nicht nur zur Sommerzeit …).
Als wir mitten im Üben sind für das große Fest, unterläuft dem Maestro ein Schaltfehler: Er vergisst eine Wiederholung. Zeichen der Schadenfreude bei den Mitwirkenden! Doch dann läuft alles glatt. Ja, wir sind schon gut, wenn wir wollen.
Unsere Damen mahnen die obligatorische Kaffeepause an. Sigi hat’s heute ein bisschen im Hals – eine Chance für die andern, mit eigenen Redebeiträgen zum Zuge zu kommen.
Der Theo, noch immer aktiver Schuhmacher und Hobbyimker, erzählt von seinen Bienen. Übrigens hatte es sich herumgesprochen, dass ausgerechnet er Opfer einer Wespe geworden war. Die Folgen hatten ihn sogar eine Weile am Geige üben gehindert. War das etwa eine Ausrede?
Nun kramt der Theo unglücklicherweise wieder alte Kriegserinnerungen hervor. Und doch machen mich diese stets betroffen. Auch die anderen drei Kollegen haben viel Schlimmes erlebt. Was habe ich doch für ein Glück gehabt, dass ich (um Haaresbreite) daran vorbeigekommen bin, auf dem Felde der Ehre Leib und Leben einzusetzen.

Der Theo erzählt immer noch von seinen Kriegserlebnissen in Russland, aber dann greift seine Hanna ein, als es allzu schaurig wird. Sie möchte das alles verdrängen. Will noch jemand Kaffee?, fragt sie. Und die Frieda offeriert dem Häuptling das dritte Stück Obstkuchen. Für ein paar Sekunden ist Stille im Saal. Aber dann gibt die Hanna ein paar ihrer umwerfenden, nicht immer salonfähigen Witze zum Besten. Das ist eine wohltuende Unterbrechung. Dann wird über die diversen Gaststätten im Odenwald und deren reichhaltige Angebote diskutiert, wie z.B. Schnitzel – so groß wie’n Klodeckel, wie uns Sigi weismachen will.
Kopfzerbrechen bereiten mir stets die Insidergespräche über „gemeinsame“ Bekannte, denen ich einfach nicht richtig folgen kann. Als Zugereistem sind mir die Leut’ aus der mittleren Hasegass oder Lammertsgass wirklich kein Begriff. Damit ich bei diesen Themen nicht immer wie Piksieben daneben sitze, werde ich in Zukunft besonders gut zuhören. Momentan fühle ich mich bei solchen Gesprächen noch gänzlich im Abseits.
Der Peter erhebt sich vom Kaffeetisch, und auch wir anderen meinen, dass wir noch ein bisschen was tun sollten. Vorher zückt der Peter noch seine Blechschachtel und schmeißt eine Lage: Er reicht seine altbewährten Pulmoll- Hustenpastillen herum.

Nun fangen wir aber gleich an! Zur Entspannung kommen ein paar anspruchslose Volksliedchen dran. Denkste – von wegen anspruchslos! Auch hier überwacht der große Meister unerbittlich die richtige Bogenführung. Ihr haltet ja wieder die halben Noten nicht richtig aus! Die Achtel müsst ihr natürlich spitz spielen! Ihr macht das immer so: (Nun führt er mit Leichenbittermiene die falsche Spielweise vor). Und so ist’s richtig: (Mit entspanntem Gesichtsausdruck wird uns leicht und locker ein Paradestückchen serviert). Erst mal können vor Lachen! Der Theo hat wohl immer noch mit den Folgen des Wespenstichs zu kämpfen. Seine vom Schuhe besohlen strapazierten Finger sind sowieso nicht so flink. Und Peter, der alte Sangesbruder, kann es nicht lassen, je nach Stimmungslage eigene Akzente zu setzen. Der Maestro schimpft: Die erste Taktnote wird betont und nicht die zweite oder dritte! Es sei denn, der Komponist hätte ausdrücklich Synkopen vorgeschrieben. Im Übrigen sind wir keine Solisten (die beinah tun und lassen können, was sie wollen), sondern ein durchdisziplinierter (bzw. zu disziplinierender) Haufen. Hast du das noch nicht begriffen, Peter?
Zu allem Überfluss habe auch ich was zu meckern – zur Unterstützung des Maestro: Einer kriegt die Kurve nicht, und das vorgeschriebene Cis hörte sich viel eher nach C an. Der Sigi registriert mein Stirnrunzeln und bemerkt völlig richtig, dass ich eigentlich gar nicht mitreden könne. Schließlich würden einem Klavierspieler die Töne fix und fertig geliefert, während der arme Geiger die Töne erst „machen“ muss. Wo er recht hat, hat er recht, der Sigi..

Es geht auf halb sieben. Die Helden werden müde.
Wie lange werden die Helden überhaupt noch zusammenkommen? Fast jeden plagen schon diverse Zipperlein. Mal ist’s die Pumpe oder die Puste, mal sind’s die Venen, oder es drückt was anderes. Am schlimmsten ist wohl, dass man nicht mehr essen und trinken darf, was einem schmeckt (z.B. der tägliche Schoppen Wein oder die tägliche Tafel Schokolade) Alles bloß wegen des dämlichen Cholesterin- oder Zuckerspiegels! Uns Männern, als Angehörigen des eigentlichen schwachen Geschlechts, fällt der Verzicht besonders schwer – abgesehen von einer rühmlichen Ausnahme, unserm Häuptling. Der wird bestimmt 100 Jahre alt. Bei seiner spartanischen Lebensweise und seinem Hang zur Sparsamkeit (Sigi, verkneif dir den „Geizkragen“) kann es gar nicht anders sein.
Die Damen sind vernünftiger. Ich sehe es schon kommen: Sie gründen einen Verein der fröhlichen Witwen, obwohl – so ganz sind unsere Damen auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ohne den Onkel Doktor läuft selbst bei ihnen nicht mehr allzu viel.

Nun ist es aber schon viertel vor sieben. Jetzt müssen wir wirklich einpacken. Die Damen werden schon unruhig.
Na denn bis nächsten Dienstag!
Aber nein, der muss leider ausfallen. Der Sigi will (muss) nach Aachen zu seiner Verwandtschaft, die mal wieder seine handwerklichen Fähigkeiten schamlos ausnutzen möchte. Und Peter und Frieda sind zu einer feucht-fröhlichen Festlichkeit eingeladen. Da hat eine Restveranstaltung mit 3 Figuren wirklich keinen Sinn.
Auch gut, dann wird es eben eine Veranstaltung für 2 Personen. Da kann ich endlich dem Maestro und mir eine Freude bereiten. Er wollte schon lange mal mit mir gute klassische Musik machen. Wir werden uns mal Schuberts Sonatinen oder Beethovens Romanzen vornehmen (wenn meine Fähigkeiten dafür ausreichten, würde ich unserm alten Pfennigfuchser zum Schluss ja zu gern noch „Die Wut über den verlorenen Groschen“ vorspielen …).

Übernächsten Dienstag treffen wir uns bestimmt alle wieder - mit neuem Schwung. Wir sollten uns überhaupt mal was Neues einfallen lassen. Den „Schneewalzer“ kann ich schon nicht mehr riechen!
Vor Schnapsideen sollten wir uns allerdings hüten. Wer hatte damals bloß den verwegenen Einfall, uns ehrwürdige Senioren zur Ausgestaltung eines Kindernachmittags heranzuziehen? Die Lausegören hätten sich ohne uns sicher besser amüsiert.


5 Jahre später:

Sigi und Ida haben sich für immer verabschiedet. Zuerst ging die Ida. „Sie hat sich aus dem Staub gemacht“, bemerkte Sigi scheinbar hartherzig. Wie tief erschüttert er war, wusste jeder. Die undankbare Verwandtschaft, für die er so oft die Kohlen aus dem Feuer geholt hatte, schob ihn in ein Altersheim ab. Dort fand er niemanden, mit dem er sich vernünftig unterhalten konnte. Wut und Ärger verschlimmerten seinen Allgemeinzustand schnell, und dann war’s mit ihm zu Ende. Nur wenig verstarb Figaro-Peter. Der Maestro wohnt in einem Seniorenheim, wo er es besser getroffen hat als Sigi. Sein Sohn sieht auch immer mal nach dem Rechten. Der Theo besohlt immer noch (!) Schuhe, aber seine Bienenstöcke wird er demnächst verkaufen. Die Geige hat er an den Nagel gehängt. Hanna und Frieda haben durch ihre Kontaktfreudigkeit dafür gesorgt, dass sie nicht einsam sind.

Doch es gibt immer noch ein Quintett mit Damen, und auch die Übungsstätte ist noch dieselbe. Die Damen häkeln und stricken nicht – sie musizieren. Sie heißen Renate (61 J. - Lehrerin, musisches Multitalent), Gretel (85 J. - musizierte in grauer Vorzeit mit dem Maestro) und Roswitha (70 J. - Frau eines Organisten; vor Jahrzehnten meine Mitarbeiterin, als ich noch Chemiker war). Renate und Gretel spielen Geige. Gretel singt auch gern und inbrünstig. Roswitha streicht oder zupft das Cello – eine echte Bereicherung. Unser Star ist der Erich (81 J.). Er war mal Konzertgeiger in einem besseren Kurorchester. Er vollbringt die tollsten Kunststückchen auf der E-Saite. Er hat gewissermaßen die Nachfolge des Maestro angetreten, allerdings mit dem Unterschied, dass er uns nicht schikaniert Ich, der Klavierspieler, bin der Einzige, der von der alten Garde übrig geblieben ist. Einen Chef haben wir nicht, dafür aber einen Namen. Wir nennen uns „Die Piano-Streichlinge“. Die Ansage bei unsern nicht eben häufigen Auftritten hat Renate übernommen, und ich bin weiter zuständig für die Beschaffung von Notenmaterial. Im alten Verein wurde fleißiger geübt als im neuen, doch die „Neulinge“ haben das nicht so nötig, weil sie sowieso halbe Profis sind.
Die Gemütlichkeit bei Kaffee und Kuchen haben wir abgeschafft, zu Gunsten der Effizienz unseres Schaffens. Es ist eigentlich alles ganz anders geworden. Wir kommen wirklich gern zusammen, aber mich beschleicht doch ein bisschen Wehmut, wenn ich an unsern alten Verein denke.
Gelegentlich schaue ich noch beim Theo am Marktplatz vorbei und erzähle ihm von unserer neuen Truppe. Auch den Maestro muss ich mal wieder besuchen. Wer weiß, wie lange ich ihn noch antreffe …

2008

Erichs 85. Geburtstag haben wir mit großem Aufgebot und Pomp gefeiert. Erichs Neffen richteten das Fest aus – in einem Nobelhotel. Die Stadtkapelle spielte auf, unter anderem intonierte sie „Alte Kameraden“. Eine Nichte von Erich gab mehrere Gesangseinlagen, ein noch sehr junger Trompeter gab sein Bestes. Ein bei der Stadt bestellter Fotograf lief von einem Saalende zum andern, um das Geschehen und die Atmosphäre per Videofilm einzufangen. Erich hielt, wenn auch schon mit etwas brüchiger Stimme, eine flammende Ansprache, in der er auch den von der Stadt entsandten Honoratioren seine Ehrerbietung zollte, u.a. dem Herrn Oberst X und dem Herrn Ersten Stadtrat. Die Honoratioren würdigten ihrerseits in salbungsvollen Reden die Verdienste des Jubilars. Der fühlte sich ganz in seinem Element.
Und dann setzte sich Erich bescheiden zu uns, und das Quintett bestritt den Rest der Feier. Erich und der Pianist glänzten noch mit der Sondereinlage „Bei mir bist du schön“.
Das Publikum zeigte allmählich Ermüdungserscheinungen, und wir packten unsere Siebensachen. Eine rundum gelungene Veranstaltung.
Natürlich hatten auch die Neffen Ansprachen gehalten, die mir allerdings etwas zu glatt vorkamen. Ich hatte das Gefühl, dass der pompöse Rahmen der Feier (insgesamt waren circa vierzig Personen anwesend) auch mit dem Lebensstil der Neffen zu tun hatte, die führende Posten in der Wirtschaft bekleiden. Sicher hat sich Erich gern feiern lassen, aber er selbst ist materiell anspruchslos. Nur seine kleine Geigensammlung und sein Notenschatz sind ihm heilig. Wenn man ihm auf der Straße begegnet, vermittelt er den Eindruck eines feinen, distinguierten alten Herren, der nicht mehr so recht in die Zeit passt. Ich mag Erich sehr und ich freue mich immer, wenn er seine Lieblingsfloskel „Sagenhaft!“ von sich gibt. Auch sein eleganter Strohhut steht ihm gut.
Um dem „ganzen Erich“ gerecht zu werden, müsste ich auch auf sein sehr bewegtes Leben in jüngeren Jahren eingehen. Aber das hat er in seinen Memoiren eindrucksvoll dargelegt. Leider sind diese nie über seine Heimat hinaus bekannt geworden. Hier nur die wichtigsten Stationen seiner Vita: Soldat an Ost- und Westfront, danach Sportlehrer und Buchhändler. Sogar als Detektiv hat er sich betätigt. Immer aber war er leidenschaftlicher Musikant, der auch viele interessante Begegnungen mit Komponisten und Interpreten der leichten Muse hatte.

2013

Ich bin in der Gegenwart angekommen. Das Quintett ist zu einem Terzett zusammengeschrumpft. Hanna, Frieda, Gretel, Theo, Erich und der Maestro sind verstorben. Nun kommen Renate und ich bei Roswitha zusammen. Mit der Besetzung Geige, Cello und Klavier könnten wir uns immer noch „Die Piano-Streichlinge“ nennen, aber an öffentliche Auftritte ist nicht mehr zu denken. Wir kommen zusammen aus Spaß an der Freud’. Nun gibt’s auch wieder Kaffee und Kuchen. Wenn wir uns gestärkt haben, geht’s hinauf ins Musikzimmer, in dem zwei Flügel stehen. Roswithas Mann gibt hin und wieder noch Klavierstunden.
Doch wir spüren, dass es auch für uns bald heißen wird:
Es war einmal ...
 
Hallo Eberhard,

ich habe deine Geschichte mit musikalischem Interesse und Schmunzeln gelesen. Da hast du ja mehr als 20 Jahre Quintettgeschichte geschrieben. Ich wäre ja auch lieber Musiker geblieben, aber leider bin ich seit einem Verkehrsunfall anno 87 mit anschließendem Hörsturz schwerbehindert. So muss ich mich aufs Reimen beschränken und Singen im Kirchenchor beschränken (Dafür reicht's noch)

Liebe Grüße
Friedhelm
 
Hallo Friedhelm,

Ich bin mir bewusst, dass meine Geschichte sicher nicht allzu viele anspricht. Darum hatte ich erst vor, sie beim Forum Tagebuch einzustellen. Umso mehr hat mich Deine Rückmeldung erfreut. Ein paar persönliche Worte folgen gleich in meinem Kommentar zu Deinem "Schüttelgebet".
LG Eberhard
 



 
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