Erkennt der Mensch die Würde,
sucht er Würde, so verehrt er sie,
auch außer sich.
(Riemer 1803 – 1814 Johann Wolfgang v. Goethe)
Ra ta ta
Als der Zug steht, zögert eine alte Frau mit Kopftuch einzusteigen, schaut in die Fenster, geht zurück. Sie wählt einen anderen Waggon aus, steigt ein und setzt sich in eine Viererbucht.
Es stürmen noch einige Jugendliche ins Abteil. „Geschafft“, keucht einer. Ihre Wangen glühen und leuchtendblaue Strickschals hängen lose um ihre Schultern. Einer streckt seinen Arm mit einer halbleeren Bierflasche in die Luft. „Yeah, das war gaule, wie die gespielt haben“, ruft er. Und die anderen jubeln zustimmend. Sie bilden einen Pulk an der Stange auf der Mittelfläche des Abteils.
Unter dem alltäglichen Ra Ta Ta der Bahngleise verlässt der Zug den Bahnhof, lässt die kupferfarbenen Dachgiebel zu einem grauen Punkt verschmelzen.
Aus der Reisetasche zieht die Alte ein Buch. Andere Fahrgäste schauen mit hängenden Lidern vor sich hin, ruckeln und schwingen ihre Oberkörper im Rhythmus des Zuges. Es ist Samstag.
Auf dieser Strecke fahren sehr viele ausländische Bürger der Stadt mit, das hörte die Alte von der Kranken die sie besuchte, und dass es solche und solche Ausländer gibt, sie solle umsichtig sein, hatte man ihr geraten.
Bevor sie zu lesen beginnt, schaut sie auf die Schwarzhaarige gegenüber, dann auf das Kind im Buggy.
„ Ist es ein Junge? Dass der hier so ruhig schläft bei dem Lärm?“
Die junge Türkin nickt bestätigend.
„ Ich fahre ein Paar Tage fort, um einer Kranken zu helfen.“
„Oh, das ist schrecklich, wenn jemand krank ist,“ erwidert sie.
„Wie heißt der Junge?“ Fragt die Alte weiter.
„Murat.“
“Sie sprechen einwandfrei Deutsch, aber Sie sind doch nicht von hier?“, schwätzt sie weiter.
Frau Süleyman zögert. Was will diese geschwätzige Alte von ihr?
„Schule“, erwiderte sie knapp.
Sollte sie erzählen, dass sie in Deutschland geblieben ist, als ihre Eltern zurück in die Türkei gingen? Dass sie bei ihren Tanten aufgewachsen ist, bis sie sich eine eigene Wohnung finanzieren konnte?
Sie war gut, so dass sie nach der Schule sogar eine Ausbildungsstelle bekam und später die Anstellung. Geld welches sie erübrigen konnte, schickte sie den Eltern ans Meer, damit Vater das Haus weiterbauen konnte. Am Meer, wo sie als Fremde angesehen wird. Dort, wo unzählige Freunde leben, oder Verwandte, die auf Geldanweisungen aus Deutschland hoffen.
Am Meer, wo sie gerne gelebt hatte, ist sie mit den Jahren eine Fremde geworden. Auch waren manche Verhaltensweisen ihrer Landsleute für sie, als moderne Europäerin, nicht mehr akzeptabel.
Ahmed, dem sie als Kind zugesprochen worden war – auch seinetwegen hatte sie Deutschland nicht wieder verlassen. Entweder du kommst und lebst mit mir hier, dann heirate ich dich, oder es wird nichts mit dem Tausch von Ziegen und Schafen, so schrieb sie ihm per Brief. Ich habe mich für Deutschland entschieden. Ich habe hier eine Arbeit, Wohnung und meine Freunde.
Wie es von den Vätern bestimmt worden war, heirateten sie. Wie es von ihr bestimmt worden war, kam Ahmed nach Deutschland, um mit ihr in Deutschland zu hochzeiten und zu leben.
Unmerklich seufzt Süleyman, streicht sich über die Wange und wendet den Blick auf Murat. Er soll anders aufwachsen als seine Onkel und Großväter. Unversehens spricht sie aus, obwohl die Alte schon in ihrem Roman versunken ist:
„Hier haben Frauen mehr Möglichkeiten.“
Dann fällt sie wieder ins Schweigen und kaut auf ihren Lippen. Frei war ich, bis er kam. Und dann war der Tag da, wo Ahmed sie zum ersten Mal schlug und manches Weitere geschah genau so, wie sie es von den Tanten erzählt bekam. So will sie Murat nicht aufziehen, als Pascha. Und sie wird ihre Kinder nicht schlagen.
„Nein!“
„Was meinen Sie Frau Süleyman?“ Die Alte schaut erstaunt hoch.
„Ach nichts, war nur ein Gedanke“, antwortet sie.
Seit Murats Geburt ist jedoch alles anders. Ständig fühlt sie sich erschöpft. Die Tanten und Kusinen kommen schon am Morgen in ihre Wohnung und belagern die Wohnstube. Sie trinken endlos Tee und sie muss bedienen. Ahmed lässt nicht zu, dass sie ohne Kopftuch auf die Straße geht. Wenn sie ihre deutschen Bekannten grüßt, ohne dass er diese kennt, erhält sie Schläge.
Schimmernde braune Augen schauen die neugierige Alte an. Kann man ihr so etwas erzählen? Sie versteht sich ja selbst nicht mehr, wie sich alles wieder veränderte, wie sie in die alten Gebräuche zurückfiel.
Die türkischen Alten stehlen ihr die Zeit und machen sie müde. Viel müder, als es ein anstrengender Arbeitstag in der Praxis je gemacht hatte. Und überall mischen sie sich ein. Tu dies, tu das und genau so, und: Du hast Deinem Mann zu gehorchen. Nein, wenn schon die Heimat verloren war, so wollte sie doch das Leben in Deutschland so leben, wie es ihr beliebte.
Die S-Bahn rattert monoton und im Abteil herrscht die Ruhe müder Menschen, bis zur nächsten Station.
Türen werden aufgerissen, Frauen mit prallen Kunststofftüten steigen ein und zwei Männer in blanken Anzügen. Ihre Gesichtszüge wirken dunkel in der weißen Haut, und ihre Schnauzer stehen betont darin wie schwarze Hüte. Das Alter ist kaum auszumachen, denn sie sind von schmalgliedrigem Wuchs und mittlerer Statur.
Nachdem die Unruhe durch die Zusteigenden vorbei ist, und Frau Süleyman nicht sehr gesprächig ist, wendet sich die Alte weiter ihrem Roman zu.
Verstohlen, um das Gähnen zu verbergen, legt Süleyman die Hand vor den Mund, denkt an das Ra Ta Ta in ihrem Herzen, dem sie nur schwer entkommen kann.
Wie von Ferne dringen in ihr Bewusstsein Laute aus ihrer Heimat ins Ohr.
Dann ist sie hellwach, und ihre kleine flache Stirnfalte vertieft sich.
Die Knöpfe des Mantels spannen an den Knopflöchern, als sie sich im Waggon umschaut und sieht, und hört, was am anderen Ende los ist. Die anderen Mitfahrer nehmen keine Notiz davon – sie verstehen diese Worte nicht.
Die angeheiterten Blauschals schwanken im Rhythmus der Bahn und kichern nach stumpfen Bemerkungen und kleinen Rempeleien in sich hinein.
Frau Süleyman verlässt ihren Platz. „Bitte, lassen Sie mich durch,“ sagt sie. „Bitte, lassen sie mich durch,“ wiederholt sie mit gepresster Stimme. Sie drängt durch die Ansammlung der Fahrgäste, die schläfrig zurückweichen. „Ist noch keine Haltestelle,“ tuschelt eine der Sitzenden.
Aufgestört, hält die Alte den Buggy fest, steht auf, reckt den Hals und sieht, wie sich die türkisch wirkenden Männer über einen Fahrgast beugen und ihn belästigen. Dann schiebt sie den Roman in die Reisetasche, zippt den Reißer zu und wirft einen Blick auf das Kind und dann der Türkin hinterher.
Ein grauhaariger Mann kauert, seine Mütze in die Stirn geschoben, auf dem letzten Ecksitzplatz, und die Männer mit Schnauzer zerren ihn an den Armen hoch. Begleitet von fremden Worten, werfen sie ihn dann - rumms - wieder in den Sitz. Als wäre er ein schwerer Sack, lässt der Grauhaarige es scheinbar mit sich geschehen, murmelt unverständlich, „Lot mi to freeden“, und schiebt seine Mütze zurecht.
Süleyman wirft die Arme hoch: „Warum tut denn niemand was?“
Sie drängt durch die engstehenden Menschen, stampft auf, erhebt ihre Stimme in der für die meisten Deutschen unverständlichen türkischen Sprache.
Aber auch: „Lasst ihn los. Lasst ihn sofort los.“ Die Männer schlagen nun auf den Grauhaarigen ein, wie nach einem kläffenden Hund. Nur wenige Passagiere weichen zurück und verfolgen das sich bietende Schauspiel.
Die Alte Frau kraust die Brauen. „Da bin ich hilflos!“, jammert sie. Hier kann ich nicht helfen. Und wenn die ein Messer haben, wie immer in der Zeitung steht - besser nicht eingreifen, denkt sie doch an die Worte der Bekannten.
Der Grauhaarige hält den Arm ungelenk über sich. Er ist sturzbetrunken.
Süleyman schimpft und wettert deutsch und türkisch durcheinander, zieht einem der Männer am Ärmel und zerrt ihn bis zur Ausgangstür. Sie gibt dem Angreifer auf türkisch Anweisung, dort stehen zu bleiben.
Dieser gehorcht verdattert.
Der Arbeiter an der Türklinke spannt seine Ellenbogen und sieht ihn drohend an.
Ein Mantelknopf klickert durch das Abteil und mit wehendem Mantel und tiefer Stirnfurche jachtet Süleyman wie ein Tiger zu dem zweiten Angreifer. Dieser greift ihr schmerzhaft an die Oberarme, sprudelt in türkischer Sprache Worte entgegen. Süleyman verzieht das Gesicht. „Klatsch.“ Sie schlägt dem Mann, der ganz offenbar die türkische Sprache versteht, ins Gesicht.
Seine Verwirrung nutzt sie, um ihn zu packen, zerrt ihn ebenfalls vor die Schiebetür des Waggons. „Warum hilft denn niemand“, ruft Süleyman verzweifelt. Was schaut ihr alle zu?“
Der Zug fährt in die Station ein, doch der angespannte Arbeiter mit der Hand an der Klinke, steht wie ein Wächter an der Tür.
Die Fahrgäste murmeln hier und dort. „Lasst sie doch in Ruhe, lasst sie doch alle in Ruhe.“
„Das geht schief.“
Die Fußball-Fans sind inzwischen mit wachen Augen im Geschehen. Einer von ihnen, spielt mit einem kleinen Taschenmesser, lässt es erst an seinen Fingern schaukeln und dann in der Faust aufschnappen.
Erschrocken und in Deckung gehend, weichen die nahen Fahrgäste zurück. Der Junge wird angefaucht: „Leg das weg. Bist du wahnsinnig!“
Die Alte sagt:: „Bleibt ruhig – nicht einmischen, dann wird es nur schlimmer“, und schaut sich nach der Notbremse um. „Wir verstehen doch nicht, um was es geht."
Süleyman fährt mit den Händen durchs Haar, zetert: „Ein Mensch ist ein Mensch, egal woher er kommt, wie er geht oder steht oder lebt. Kein Mensch ist selbst gut genug, um gegen einen anderen Gewalt auszuüben!“ Auch auf türkisch schwallt sie noch einiges hinterher.
Der Arbeiter an der Ausgangstür öffnet diese, als der Zug vollends steht und Süleyman stößt die Landsleute durch die Türöffnung auf den Bahnsteig. „Geht mir aus den Augen“, sagt sie noch auf deutsch. Ich schäme mich für euch.“
Sie eilt zum Buggy, und einer der Blauschals reicht ihr mit niedergeschlagenen Augen einen abgerissenen Knopf zurück.
Die Alte schweigt und atmet unruhig. Ihr klappt das Kinn herunter.
Als sie der Türkin den Buggys an die Hand gibt, streicht sie ihr über die Hand.
Süleyman lächelt kurz zurück.
„Sie hatten nicht das Recht auf ihn einzuprügeln. Ich vertrage das nicht.
Es hätte Papa sein können.“
Ihre Stimme kippt.
Hastig nimmt sie Murat auf und presst ihn an sich.
*
diese Erzählung besteht aus eigenem Erleben des U-Bahnfahrens, einer Zeitungsnotiz und dem Gespräch mit Frau Süleymann (Name geändert)
Da das Thema Ausländer immer Mal wieder eines ist, und die Zivilcourage die diese Frau zeigte eher selten ans Tageslicht kommt, dachte ich ich zeige sie hier mal vor. Ich schrieb sie 2002
sucht er Würde, so verehrt er sie,
auch außer sich.
(Riemer 1803 – 1814 Johann Wolfgang v. Goethe)
Ra ta ta
Als der Zug steht, zögert eine alte Frau mit Kopftuch einzusteigen, schaut in die Fenster, geht zurück. Sie wählt einen anderen Waggon aus, steigt ein und setzt sich in eine Viererbucht.
Es stürmen noch einige Jugendliche ins Abteil. „Geschafft“, keucht einer. Ihre Wangen glühen und leuchtendblaue Strickschals hängen lose um ihre Schultern. Einer streckt seinen Arm mit einer halbleeren Bierflasche in die Luft. „Yeah, das war gaule, wie die gespielt haben“, ruft er. Und die anderen jubeln zustimmend. Sie bilden einen Pulk an der Stange auf der Mittelfläche des Abteils.
Unter dem alltäglichen Ra Ta Ta der Bahngleise verlässt der Zug den Bahnhof, lässt die kupferfarbenen Dachgiebel zu einem grauen Punkt verschmelzen.
Aus der Reisetasche zieht die Alte ein Buch. Andere Fahrgäste schauen mit hängenden Lidern vor sich hin, ruckeln und schwingen ihre Oberkörper im Rhythmus des Zuges. Es ist Samstag.
Auf dieser Strecke fahren sehr viele ausländische Bürger der Stadt mit, das hörte die Alte von der Kranken die sie besuchte, und dass es solche und solche Ausländer gibt, sie solle umsichtig sein, hatte man ihr geraten.
Bevor sie zu lesen beginnt, schaut sie auf die Schwarzhaarige gegenüber, dann auf das Kind im Buggy.
„ Ist es ein Junge? Dass der hier so ruhig schläft bei dem Lärm?“
Die junge Türkin nickt bestätigend.
„ Ich fahre ein Paar Tage fort, um einer Kranken zu helfen.“
„Oh, das ist schrecklich, wenn jemand krank ist,“ erwidert sie.
„Wie heißt der Junge?“ Fragt die Alte weiter.
„Murat.“
“Sie sprechen einwandfrei Deutsch, aber Sie sind doch nicht von hier?“, schwätzt sie weiter.
Frau Süleyman zögert. Was will diese geschwätzige Alte von ihr?
„Schule“, erwiderte sie knapp.
Sollte sie erzählen, dass sie in Deutschland geblieben ist, als ihre Eltern zurück in die Türkei gingen? Dass sie bei ihren Tanten aufgewachsen ist, bis sie sich eine eigene Wohnung finanzieren konnte?
Sie war gut, so dass sie nach der Schule sogar eine Ausbildungsstelle bekam und später die Anstellung. Geld welches sie erübrigen konnte, schickte sie den Eltern ans Meer, damit Vater das Haus weiterbauen konnte. Am Meer, wo sie als Fremde angesehen wird. Dort, wo unzählige Freunde leben, oder Verwandte, die auf Geldanweisungen aus Deutschland hoffen.
Am Meer, wo sie gerne gelebt hatte, ist sie mit den Jahren eine Fremde geworden. Auch waren manche Verhaltensweisen ihrer Landsleute für sie, als moderne Europäerin, nicht mehr akzeptabel.
Ahmed, dem sie als Kind zugesprochen worden war – auch seinetwegen hatte sie Deutschland nicht wieder verlassen. Entweder du kommst und lebst mit mir hier, dann heirate ich dich, oder es wird nichts mit dem Tausch von Ziegen und Schafen, so schrieb sie ihm per Brief. Ich habe mich für Deutschland entschieden. Ich habe hier eine Arbeit, Wohnung und meine Freunde.
Wie es von den Vätern bestimmt worden war, heirateten sie. Wie es von ihr bestimmt worden war, kam Ahmed nach Deutschland, um mit ihr in Deutschland zu hochzeiten und zu leben.
Unmerklich seufzt Süleyman, streicht sich über die Wange und wendet den Blick auf Murat. Er soll anders aufwachsen als seine Onkel und Großväter. Unversehens spricht sie aus, obwohl die Alte schon in ihrem Roman versunken ist:
„Hier haben Frauen mehr Möglichkeiten.“
Dann fällt sie wieder ins Schweigen und kaut auf ihren Lippen. Frei war ich, bis er kam. Und dann war der Tag da, wo Ahmed sie zum ersten Mal schlug und manches Weitere geschah genau so, wie sie es von den Tanten erzählt bekam. So will sie Murat nicht aufziehen, als Pascha. Und sie wird ihre Kinder nicht schlagen.
„Nein!“
„Was meinen Sie Frau Süleyman?“ Die Alte schaut erstaunt hoch.
„Ach nichts, war nur ein Gedanke“, antwortet sie.
Seit Murats Geburt ist jedoch alles anders. Ständig fühlt sie sich erschöpft. Die Tanten und Kusinen kommen schon am Morgen in ihre Wohnung und belagern die Wohnstube. Sie trinken endlos Tee und sie muss bedienen. Ahmed lässt nicht zu, dass sie ohne Kopftuch auf die Straße geht. Wenn sie ihre deutschen Bekannten grüßt, ohne dass er diese kennt, erhält sie Schläge.
Schimmernde braune Augen schauen die neugierige Alte an. Kann man ihr so etwas erzählen? Sie versteht sich ja selbst nicht mehr, wie sich alles wieder veränderte, wie sie in die alten Gebräuche zurückfiel.
Die türkischen Alten stehlen ihr die Zeit und machen sie müde. Viel müder, als es ein anstrengender Arbeitstag in der Praxis je gemacht hatte. Und überall mischen sie sich ein. Tu dies, tu das und genau so, und: Du hast Deinem Mann zu gehorchen. Nein, wenn schon die Heimat verloren war, so wollte sie doch das Leben in Deutschland so leben, wie es ihr beliebte.
Die S-Bahn rattert monoton und im Abteil herrscht die Ruhe müder Menschen, bis zur nächsten Station.
Türen werden aufgerissen, Frauen mit prallen Kunststofftüten steigen ein und zwei Männer in blanken Anzügen. Ihre Gesichtszüge wirken dunkel in der weißen Haut, und ihre Schnauzer stehen betont darin wie schwarze Hüte. Das Alter ist kaum auszumachen, denn sie sind von schmalgliedrigem Wuchs und mittlerer Statur.
Nachdem die Unruhe durch die Zusteigenden vorbei ist, und Frau Süleyman nicht sehr gesprächig ist, wendet sich die Alte weiter ihrem Roman zu.
Verstohlen, um das Gähnen zu verbergen, legt Süleyman die Hand vor den Mund, denkt an das Ra Ta Ta in ihrem Herzen, dem sie nur schwer entkommen kann.
Wie von Ferne dringen in ihr Bewusstsein Laute aus ihrer Heimat ins Ohr.
Dann ist sie hellwach, und ihre kleine flache Stirnfalte vertieft sich.
Die Knöpfe des Mantels spannen an den Knopflöchern, als sie sich im Waggon umschaut und sieht, und hört, was am anderen Ende los ist. Die anderen Mitfahrer nehmen keine Notiz davon – sie verstehen diese Worte nicht.
Die angeheiterten Blauschals schwanken im Rhythmus der Bahn und kichern nach stumpfen Bemerkungen und kleinen Rempeleien in sich hinein.
Frau Süleyman verlässt ihren Platz. „Bitte, lassen Sie mich durch,“ sagt sie. „Bitte, lassen sie mich durch,“ wiederholt sie mit gepresster Stimme. Sie drängt durch die Ansammlung der Fahrgäste, die schläfrig zurückweichen. „Ist noch keine Haltestelle,“ tuschelt eine der Sitzenden.
Aufgestört, hält die Alte den Buggy fest, steht auf, reckt den Hals und sieht, wie sich die türkisch wirkenden Männer über einen Fahrgast beugen und ihn belästigen. Dann schiebt sie den Roman in die Reisetasche, zippt den Reißer zu und wirft einen Blick auf das Kind und dann der Türkin hinterher.
Ein grauhaariger Mann kauert, seine Mütze in die Stirn geschoben, auf dem letzten Ecksitzplatz, und die Männer mit Schnauzer zerren ihn an den Armen hoch. Begleitet von fremden Worten, werfen sie ihn dann - rumms - wieder in den Sitz. Als wäre er ein schwerer Sack, lässt der Grauhaarige es scheinbar mit sich geschehen, murmelt unverständlich, „Lot mi to freeden“, und schiebt seine Mütze zurecht.
Süleyman wirft die Arme hoch: „Warum tut denn niemand was?“
Sie drängt durch die engstehenden Menschen, stampft auf, erhebt ihre Stimme in der für die meisten Deutschen unverständlichen türkischen Sprache.
Aber auch: „Lasst ihn los. Lasst ihn sofort los.“ Die Männer schlagen nun auf den Grauhaarigen ein, wie nach einem kläffenden Hund. Nur wenige Passagiere weichen zurück und verfolgen das sich bietende Schauspiel.
Die Alte Frau kraust die Brauen. „Da bin ich hilflos!“, jammert sie. Hier kann ich nicht helfen. Und wenn die ein Messer haben, wie immer in der Zeitung steht - besser nicht eingreifen, denkt sie doch an die Worte der Bekannten.
Der Grauhaarige hält den Arm ungelenk über sich. Er ist sturzbetrunken.
Süleyman schimpft und wettert deutsch und türkisch durcheinander, zieht einem der Männer am Ärmel und zerrt ihn bis zur Ausgangstür. Sie gibt dem Angreifer auf türkisch Anweisung, dort stehen zu bleiben.
Dieser gehorcht verdattert.
Der Arbeiter an der Türklinke spannt seine Ellenbogen und sieht ihn drohend an.
Ein Mantelknopf klickert durch das Abteil und mit wehendem Mantel und tiefer Stirnfurche jachtet Süleyman wie ein Tiger zu dem zweiten Angreifer. Dieser greift ihr schmerzhaft an die Oberarme, sprudelt in türkischer Sprache Worte entgegen. Süleyman verzieht das Gesicht. „Klatsch.“ Sie schlägt dem Mann, der ganz offenbar die türkische Sprache versteht, ins Gesicht.
Seine Verwirrung nutzt sie, um ihn zu packen, zerrt ihn ebenfalls vor die Schiebetür des Waggons. „Warum hilft denn niemand“, ruft Süleyman verzweifelt. Was schaut ihr alle zu?“
Der Zug fährt in die Station ein, doch der angespannte Arbeiter mit der Hand an der Klinke, steht wie ein Wächter an der Tür.
Die Fahrgäste murmeln hier und dort. „Lasst sie doch in Ruhe, lasst sie doch alle in Ruhe.“
„Das geht schief.“
Die Fußball-Fans sind inzwischen mit wachen Augen im Geschehen. Einer von ihnen, spielt mit einem kleinen Taschenmesser, lässt es erst an seinen Fingern schaukeln und dann in der Faust aufschnappen.
Erschrocken und in Deckung gehend, weichen die nahen Fahrgäste zurück. Der Junge wird angefaucht: „Leg das weg. Bist du wahnsinnig!“
Die Alte sagt:: „Bleibt ruhig – nicht einmischen, dann wird es nur schlimmer“, und schaut sich nach der Notbremse um. „Wir verstehen doch nicht, um was es geht."
Süleyman fährt mit den Händen durchs Haar, zetert: „Ein Mensch ist ein Mensch, egal woher er kommt, wie er geht oder steht oder lebt. Kein Mensch ist selbst gut genug, um gegen einen anderen Gewalt auszuüben!“ Auch auf türkisch schwallt sie noch einiges hinterher.
Der Arbeiter an der Ausgangstür öffnet diese, als der Zug vollends steht und Süleyman stößt die Landsleute durch die Türöffnung auf den Bahnsteig. „Geht mir aus den Augen“, sagt sie noch auf deutsch. Ich schäme mich für euch.“
Sie eilt zum Buggy, und einer der Blauschals reicht ihr mit niedergeschlagenen Augen einen abgerissenen Knopf zurück.
Die Alte schweigt und atmet unruhig. Ihr klappt das Kinn herunter.
Als sie der Türkin den Buggys an die Hand gibt, streicht sie ihr über die Hand.
Süleyman lächelt kurz zurück.
„Sie hatten nicht das Recht auf ihn einzuprügeln. Ich vertrage das nicht.
Es hätte Papa sein können.“
Ihre Stimme kippt.
Hastig nimmt sie Murat auf und presst ihn an sich.
*
diese Erzählung besteht aus eigenem Erleben des U-Bahnfahrens, einer Zeitungsnotiz und dem Gespräch mit Frau Süleymann (Name geändert)
Da das Thema Ausländer immer Mal wieder eines ist, und die Zivilcourage die diese Frau zeigte eher selten ans Tageslicht kommt, dachte ich ich zeige sie hier mal vor. Ich schrieb sie 2002