Ra ta ta

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Clara

Mitglied
Erkennt der Mensch die Würde,
sucht er Würde, so verehrt er sie,
auch außer sich.
(Riemer 1803 – 1814 Johann Wolfgang v. Goethe)


Ra ta ta

Als der Zug steht, zögert eine alte Frau mit Kopftuch einzusteigen, schaut in die Fenster, geht zurück. Sie wählt einen anderen Waggon aus, steigt ein und setzt sich in eine Viererbucht.
Es stürmen noch einige Jugendliche ins Abteil. „Geschafft“, keucht einer. Ihre Wangen glühen und leuchtendblaue Strickschals hängen lose um ihre Schultern. Einer streckt seinen Arm mit einer halbleeren Bierflasche in die Luft. „Yeah, das war gaule, wie die gespielt haben“, ruft er. Und die anderen jubeln zustimmend. Sie bilden einen Pulk an der Stange auf der Mittelfläche des Abteils.
Unter dem alltäglichen Ra Ta Ta der Bahngleise verlässt der Zug den Bahnhof, lässt die kupferfarbenen Dachgiebel zu einem grauen Punkt verschmelzen.

Aus der Reisetasche zieht die Alte ein Buch. Andere Fahrgäste schauen mit hängenden Lidern vor sich hin, ruckeln und schwingen ihre Oberkörper im Rhythmus des Zuges. Es ist Samstag.
Auf dieser Strecke fahren sehr viele ausländische Bürger der Stadt mit, das hörte die Alte von der Kranken die sie besuchte, und dass es solche und solche Ausländer gibt, sie solle umsichtig sein, hatte man ihr geraten.
Bevor sie zu lesen beginnt, schaut sie auf die Schwarzhaarige gegenüber, dann auf das Kind im Buggy.
„ Ist es ein Junge? Dass der hier so ruhig schläft bei dem Lärm?“
Die junge Türkin nickt bestätigend.
„ Ich fahre ein Paar Tage fort, um einer Kranken zu helfen.“
„Oh, das ist schrecklich, wenn jemand krank ist,“ erwidert sie.
„Wie heißt der Junge?“ Fragt die Alte weiter.
„Murat.“

“Sie sprechen einwandfrei Deutsch, aber Sie sind doch nicht von hier?“, schwätzt sie weiter.
Frau Süleyman zögert. Was will diese geschwätzige Alte von ihr?
„Schule“, erwiderte sie knapp.

Sollte sie erzählen, dass sie in Deutschland geblieben ist, als ihre Eltern zurück in die Türkei gingen? Dass sie bei ihren Tanten aufgewachsen ist, bis sie sich eine eigene Wohnung finanzieren konnte?

Sie war gut, so dass sie nach der Schule sogar eine Ausbildungsstelle bekam und später die Anstellung. Geld welches sie erübrigen konnte, schickte sie den Eltern ans Meer, damit Vater das Haus weiterbauen konnte. Am Meer, wo sie als Fremde angesehen wird. Dort, wo unzählige Freunde leben, oder Verwandte, die auf Geldanweisungen aus Deutschland hoffen.

Am Meer, wo sie gerne gelebt hatte, ist sie mit den Jahren eine Fremde geworden. Auch waren manche Verhaltensweisen ihrer Landsleute für sie, als moderne Europäerin, nicht mehr akzeptabel.
Ahmed, dem sie als Kind zugesprochen worden war – auch seinetwegen hatte sie Deutschland nicht wieder verlassen. Entweder du kommst und lebst mit mir hier, dann heirate ich dich, oder es wird nichts mit dem Tausch von Ziegen und Schafen, so schrieb sie ihm per Brief. Ich habe mich für Deutschland entschieden. Ich habe hier eine Arbeit, Wohnung und meine Freunde.
Wie es von den Vätern bestimmt worden war, heirateten sie. Wie es von ihr bestimmt worden war, kam Ahmed nach Deutschland, um mit ihr in Deutschland zu hochzeiten und zu leben.

Unmerklich seufzt Süleyman, streicht sich über die Wange und wendet den Blick auf Murat. Er soll anders aufwachsen als seine Onkel und Großväter. Unversehens spricht sie aus, obwohl die Alte schon in ihrem Roman versunken ist:
„Hier haben Frauen mehr Möglichkeiten.“
Dann fällt sie wieder ins Schweigen und kaut auf ihren Lippen. Frei war ich, bis er kam. Und dann war der Tag da, wo Ahmed sie zum ersten Mal schlug und manches Weitere geschah genau so, wie sie es von den Tanten erzählt bekam. So will sie Murat nicht aufziehen, als Pascha. Und sie wird ihre Kinder nicht schlagen.
„Nein!“

„Was meinen Sie Frau Süleyman?“ Die Alte schaut erstaunt hoch.
„Ach nichts, war nur ein Gedanke“, antwortet sie.
Seit Murats Geburt ist jedoch alles anders. Ständig fühlt sie sich erschöpft. Die Tanten und Kusinen kommen schon am Morgen in ihre Wohnung und belagern die Wohnstube. Sie trinken endlos Tee und sie muss bedienen. Ahmed lässt nicht zu, dass sie ohne Kopftuch auf die Straße geht. Wenn sie ihre deutschen Bekannten grüßt, ohne dass er diese kennt, erhält sie Schläge.
Schimmernde braune Augen schauen die neugierige Alte an. Kann man ihr so etwas erzählen? Sie versteht sich ja selbst nicht mehr, wie sich alles wieder veränderte, wie sie in die alten Gebräuche zurückfiel.
Die türkischen Alten stehlen ihr die Zeit und machen sie müde. Viel müder, als es ein anstrengender Arbeitstag in der Praxis je gemacht hatte. Und überall mischen sie sich ein. Tu dies, tu das und genau so, und: Du hast Deinem Mann zu gehorchen. Nein, wenn schon die Heimat verloren war, so wollte sie doch das Leben in Deutschland so leben, wie es ihr beliebte.

Die S-Bahn rattert monoton und im Abteil herrscht die Ruhe müder Menschen, bis zur nächsten Station.

Türen werden aufgerissen, Frauen mit prallen Kunststofftüten steigen ein und zwei Männer in blanken Anzügen. Ihre Gesichtszüge wirken dunkel in der weißen Haut, und ihre Schnauzer stehen betont darin wie schwarze Hüte. Das Alter ist kaum auszumachen, denn sie sind von schmalgliedrigem Wuchs und mittlerer Statur.
Nachdem die Unruhe durch die Zusteigenden vorbei ist, und Frau Süleyman nicht sehr gesprächig ist, wendet sich die Alte weiter ihrem Roman zu.

Verstohlen, um das Gähnen zu verbergen, legt Süleyman die Hand vor den Mund, denkt an das Ra Ta Ta in ihrem Herzen, dem sie nur schwer entkommen kann.
Wie von Ferne dringen in ihr Bewusstsein Laute aus ihrer Heimat ins Ohr.
Dann ist sie hellwach, und ihre kleine flache Stirnfalte vertieft sich.
Die Knöpfe des Mantels spannen an den Knopflöchern, als sie sich im Waggon umschaut und sieht, und hört, was am anderen Ende los ist. Die anderen Mitfahrer nehmen keine Notiz davon – sie verstehen diese Worte nicht.

Die angeheiterten Blauschals schwanken im Rhythmus der Bahn und kichern nach stumpfen Bemerkungen und kleinen Rempeleien in sich hinein.

Frau Süleyman verlässt ihren Platz. „Bitte, lassen Sie mich durch,“ sagt sie. „Bitte, lassen sie mich durch,“ wiederholt sie mit gepresster Stimme. Sie drängt durch die Ansammlung der Fahrgäste, die schläfrig zurückweichen. „Ist noch keine Haltestelle,“ tuschelt eine der Sitzenden.
Aufgestört, hält die Alte den Buggy fest, steht auf, reckt den Hals und sieht, wie sich die türkisch wirkenden Männer über einen Fahrgast beugen und ihn belästigen. Dann schiebt sie den Roman in die Reisetasche, zippt den Reißer zu und wirft einen Blick auf das Kind und dann der Türkin hinterher.
Ein grauhaariger Mann kauert, seine Mütze in die Stirn geschoben, auf dem letzten Ecksitzplatz, und die Männer mit Schnauzer zerren ihn an den Armen hoch. Begleitet von fremden Worten, werfen sie ihn dann - rumms - wieder in den Sitz. Als wäre er ein schwerer Sack, lässt der Grauhaarige es scheinbar mit sich geschehen, murmelt unverständlich, „Lot mi to freeden“, und schiebt seine Mütze zurecht.
Süleyman wirft die Arme hoch: „Warum tut denn niemand was?“
Sie drängt durch die engstehenden Menschen, stampft auf, erhebt ihre Stimme in der für die meisten Deutschen unverständlichen türkischen Sprache.
Aber auch: „Lasst ihn los. Lasst ihn sofort los.“ Die Männer schlagen nun auf den Grauhaarigen ein, wie nach einem kläffenden Hund. Nur wenige Passagiere weichen zurück und verfolgen das sich bietende Schauspiel.

Die Alte Frau kraust die Brauen. „Da bin ich hilflos!“, jammert sie. Hier kann ich nicht helfen. Und wenn die ein Messer haben, wie immer in der Zeitung steht - besser nicht eingreifen, denkt sie doch an die Worte der Bekannten.

Der Grauhaarige hält den Arm ungelenk über sich. Er ist sturzbetrunken.
Süleyman schimpft und wettert deutsch und türkisch durcheinander, zieht einem der Männer am Ärmel und zerrt ihn bis zur Ausgangstür. Sie gibt dem Angreifer auf türkisch Anweisung, dort stehen zu bleiben.
Dieser gehorcht verdattert.
Der Arbeiter an der Türklinke spannt seine Ellenbogen und sieht ihn drohend an.
Ein Mantelknopf klickert durch das Abteil und mit wehendem Mantel und tiefer Stirnfurche jachtet Süleyman wie ein Tiger zu dem zweiten Angreifer. Dieser greift ihr schmerzhaft an die Oberarme, sprudelt in türkischer Sprache Worte entgegen. Süleyman verzieht das Gesicht. „Klatsch.“ Sie schlägt dem Mann, der ganz offenbar die türkische Sprache versteht, ins Gesicht.
Seine Verwirrung nutzt sie, um ihn zu packen, zerrt ihn ebenfalls vor die Schiebetür des Waggons. „Warum hilft denn niemand“, ruft Süleyman verzweifelt. Was schaut ihr alle zu?“
Der Zug fährt in die Station ein, doch der angespannte Arbeiter mit der Hand an der Klinke, steht wie ein Wächter an der Tür.
Die Fahrgäste murmeln hier und dort. „Lasst sie doch in Ruhe, lasst sie doch alle in Ruhe.“
„Das geht schief.“
Die Fußball-Fans sind inzwischen mit wachen Augen im Geschehen. Einer von ihnen, spielt mit einem kleinen Taschenmesser, lässt es erst an seinen Fingern schaukeln und dann in der Faust aufschnappen.
Erschrocken und in Deckung gehend, weichen die nahen Fahrgäste zurück. Der Junge wird angefaucht: „Leg das weg. Bist du wahnsinnig!“
Die Alte sagt:: „Bleibt ruhig – nicht einmischen, dann wird es nur schlimmer“, und schaut sich nach der Notbremse um. „Wir verstehen doch nicht, um was es geht."

Süleyman fährt mit den Händen durchs Haar, zetert: „Ein Mensch ist ein Mensch, egal woher er kommt, wie er geht oder steht oder lebt. Kein Mensch ist selbst gut genug, um gegen einen anderen Gewalt auszuüben!“ Auch auf türkisch schwallt sie noch einiges hinterher.

Der Arbeiter an der Ausgangstür öffnet diese, als der Zug vollends steht und Süleyman stößt die Landsleute durch die Türöffnung auf den Bahnsteig. „Geht mir aus den Augen“, sagt sie noch auf deutsch. Ich schäme mich für euch.“

Sie eilt zum Buggy, und einer der Blauschals reicht ihr mit niedergeschlagenen Augen einen abgerissenen Knopf zurück.
Die Alte schweigt und atmet unruhig. Ihr klappt das Kinn herunter.
Als sie der Türkin den Buggys an die Hand gibt, streicht sie ihr über die Hand.
Süleyman lächelt kurz zurück.
„Sie hatten nicht das Recht auf ihn einzuprügeln. Ich vertrage das nicht.
Es hätte Papa sein können.“

Ihre Stimme kippt.
Hastig nimmt sie Murat auf und presst ihn an sich.


*
diese Erzählung besteht aus eigenem Erleben des U-Bahnfahrens, einer Zeitungsnotiz und dem Gespräch mit Frau Süleymann (Name geändert)
Da das Thema Ausländer immer Mal wieder eines ist, und die Zivilcourage die diese Frau zeigte eher selten ans Tageslicht kommt, dachte ich ich zeige sie hier mal vor. Ich schrieb sie 2002
 

rothsten

Mitglied
Hallo Clara,

einige Anmerkungen zu Deinem Text:

Das Wort "gaule" kenne ich nicht. Was heisst denn das?

„Wie heißt der Junge?“ [blue](Komma) (f)[/blue]Fragt die Alte [red]weiter[/red].
„Murat.“

“Sie sprechen einwandfrei Deutsch, aber Sie sind doch nicht von hier?“, schwätzt sie [red]weiter[/red].
Streich das erste "weiter".

[blue]Am Meer, wo sie als Fremde [/blue]angesehen wird. Dort, wo unzählige Freunde leben, oder Verwandte, die auf Geldanweisungen aus Deutschland hoffen.

[blue]Am Meer, wo sie [/blue]gerne gelebt hatte, ist sie mit den Jahren eine [blue]Fremde [/blue]geworden.
Fällt Dir was auf? :)

Unmerklich seufzt [blue](Frau)[/blue] Süleyman,
Schimmernde braune Augen schauen die neugierige Alte an.
Augen schauen nicht, schreib: "Sie schaute die neugierige Alte an mit ihren schimmernden braunen Augen." Aber wozu ist die Farbe der Augen wichtig? Ich ließe es wohl ganz und ließe sie nur schauen.

Die Alte ist aber nicht neugierig. Sie hat ja im Buch gelesen. Dieser Smalltalk ist doch normal. Das passt nicht so ganz, finde ich.

Die S-Bahn rattert monoton und im Abteil herrscht die Ruhe müder Menschen, bis zur nächsten Station.
Oben war es noch ein Zug, keine S-Bahn, und in den Zug sind Fussballfans eingestiegen, die sind in aller Regel laut. "Schallallaalaallaaaa..." :)

Das ist widersprüchlich.

Wie von Ferne dringen in ihr Bewusstsein Laute aus ihrer Heimat ins Ohr.
Aus der Ferne dringen Laute. Aber welche Laute sind das? Und warum bleiben sie im Ohr stecken, müssen sie nicht weiter ins Hirn?

Das ist gestelztes Deutsch. Beschreibe lieber die Bilder ihres Kopfkinos. Nimm Deinen Leser mit auf die Reise.

Die Knöpfe des Mantels spannen an den Knopflöchern, als sie sich im Waggon umschaut und sieht, und hört, was am anderen Ende los ist.
Wofür sind die Knöpfe wichtig? Klar, man darf die Szenerie schon beschreiben, um Atmosphäre zu erzeugen. Die Knöpfe erzeugen aber keine Atmosphäre, sondern Langeweile - jedenfalls bei mir. Es gibt ein paar solcher Sätze, die Deine Geschichte nicht weiterführen; sie stören. Prüfe jedes Bild, ob es die Geschichte trägt, sonst lass es weg. Selbst dann, wenn es schön klingt.

Die angeheiterten Blauschals schwanken im Rhythmus der Bahn und kichern nach stumpfen Bemerkungen und kleinen Rempeleien in sich hinein.
Wieder wach? Was sind stumpfe Bemerkungen?

Spätestens jetzt habe ich völlig den Faden verloren, was in diesem Abteil abgeht. Ist es da ruhig oder wuselig?


Sie drängt durch die [strike]Ansammlung der [/strike]Fahrgäste,
Behördendeutsch: tot, unverständlich, schlecht.


[blue](Frau) [/blue]Süleyman wirft die Arme hoch: „Warum tut denn niemand was?“
Sie drängt durch die engstehenden Menschen, stampft auf, erhebt ihre Stimme in der für die meisten Deutschen unverständlichen türkischen Sprache.
Fremdsprachen sind unverständlich, wenn man sie nicht gerade erlernt hat. Das musst Du nicht betonen. Es heisst nicht umsonst Fremdsprache.

Die "Stimme erheben" ist ebenso totes Beamtendeutsch. Lass sie doch schreien, brüllen oder krakelen; was auch immer, aber nimm ein lebendiges Verb!

wie sich die türkisch wirkenden Männer über einen Fahrgast beugen und ihn belästigen.
Sie sehen höchstens wie Türken aus, wenngleich sich das Aussehen nur schwer an der Nation festmachen lässt. Vorurteil, ick grüß dir, wa! Ich ließe das weg.

Sie beugen sich und belästigen ihn ... und? Ich sehe nichts. Beschreibe die Belästigung!

Begleitet von fremden Worten
Behördendeutsch, die dritte. Siehe oben.

Die [strike]A[/strike][blue]a[/blue]lte Frau kraust die Brauen
Haare krausen sich selbst, und gelockte Brauen habe ich noch nie gesehen. Das Bild hängt schief. ;-)

Der Grauhaarige hält den Arm ungelenk über sich. Er ist sturzbetrunken.
Süleyman schimpft und wettert deutsch und türkisch durcheinander, zieht einem der Männer am Ärmel und zerrt ihn bis zur Ausgangstür. Sie gibt dem Angreifer auf türkisch Anweisung, dort stehen zu bleiben.
Dieser gehorcht verdattert.
Der Arbeiter an der Türklinke spannt seine Ellenbogen und sieht ihn drohend an.
Ein Mantelknopf klickert durch das Abteil und mit wehendem Mantel und tiefer Stirnfurche jachtet Süleyman wie ein Tiger zu dem zweiten Angreifer. Dieser greift ihr schmerzhaft an die Oberarme, sprudelt in türkischer Sprache Worte entgegen.
Hä? Was geht da ab? Sorry, aber ich bin raus, ich raffe die Szene überhaupt nicht. Das ist durcheinander, da sind Türken, dann Männer, dann ein Arbeiter, dann Angreifer...

Und die Frau heisst [blue]FRAU[/blue] Süleyman!

Die Fußball-Fans sind inzwischen mit wachen Augen im Geschehen. Einer von ihnen, spielt mit einem kleinen Taschenmesser, lässt es erst an seinen Fingern schaukeln und dann in der Faust aufschnappen.
Erschrocken und in Deckung gehend, weichen die nahen Fahrgäste zurück. Der Junge wird angefaucht: „Leg das weg. Bist du wahnsinnig!“
Die Alte sagt:: „Bleibt ruhig – nicht einmischen, dann wird es nur schlimmer“, und schaut sich nach der Notbremse um. [blue]„Wir verstehen doch nicht, um was es geht."[/blue]
Sorry, aber ich verstehe auch nicht, worum es geht.

„Sie hatten nicht das Recht auf ihn einzuprügeln. Ich vertrage das nicht.
Es hätte Papa sein können.“
Was für ein Papa?

Das Fazit zu Deinem Text gibts Du selbst:

Da das Thema Ausländer immer Mal wieder eines ist, und die Zivilcourage die diese Frau zeigte eher selten ans Tageslicht kommt, dachte ich ich zeige sie hier mal vor.
Vielleicht wäre eine journalistische Aufbereitung besser gewesen. Du fängst hier aber das Erzählen an, sprichst Dramen an wie Heimatverlust, Zwangsehe und Gewalt gegen Frauen, aber wozu? Was hat das mit der Szene zu tun? Wo ist die Kausalität zwischen Drama und Handlung? Hier liegt eine riesige Erzähllücke vor, die Deinen Text leider deutlich schmälert. Potential wäre da, Dramen gibt es ja genug. Die Umsetzung ist aber misslungen.

Ich schrieb sie 2002.
Zeit genug, der Dame die Würde einer Anrede und Deinem Text wenigstens die Würde der Korrektur leichter Fehler zu schenken.

lg
 

Clara

Mitglied
ich danke dir herzlichst für deine Einwürfe die ich soweit ich das eben überblickte akzeptieren kann und einbinde, oder nicht-behördendeutsches suche


Ich hatte es mir als Stimmung so vorgestellt
Türen auf - Plätze einnehmen- man wird gerüttelt undgeschüttel und dröhntmit seinen eigenen Gedanken so vor sich hin. Abend - der Tat liegthinter einem

Ein Buch dabei zu haben ist gut beilangen Strecken
Zug/S-Bahn steht wieder - die Fussballclique schwärmt herein, es ist erstmal Laut man guckt mal hin und klappt wieder in sich zusammen

dieses ra tata - ist einerseits das Geräusch der Bahn-
das auch immer wieder über gleiche Strecke fahren
aber auch für Frau Süleymann die Wiederholung dessen was sie lernte - wovon sie weg wollte - also dieses ra rata unterbrechen, aussteigen im leben.

Das tat sie dann auch -
der Schläfer , vermutlich zuviel getrunken, wird von den nachkommenden Türken die eben die von mir beschriebene Figur haben, (von damals, jene die hier ankamen - heutige sind draller - das ist wohl wahr) - ich empfinde es so unanagenehm die Menschen in deutsch und türkisch einzuteilen - von daher hatte ich das aussehen gewählt,wobei Frau Süleymann (anderer Name wäre auch gut) keinesweg zierlich und mager aussieht in meiner vorstellung- Weiber ansich nciht.

diese Angreifer sind laut und die Fraus S wird wach im Kopf - hängt also nicht ihren Gedanken nach und lässt sich von der Bahn schaukeln - aber durch die Gedanken und eine gewisse Wut im Bauch, springt sie hoch und zeigt Zivilcourage.
Nun ja, der Knopf - ihr ist was geplatzt - das ist der Vorgang an sich - zeigt am Ende nur dass die Fussballer auch nette Menschen sind - auch wenn sie laut sind und manchmal sehr laut sein können.

Es liegt darin ja auch eine Form von Gegenüberstellung -
Und in einer Bahn -Zug - S-Bahn,U-Bahn sammelt sich alles - ungeachtet von irgendwelchen Vorurteilen.
Eher noch als in einem Geschäft.



Erklärung zur Schreibabsicht :)
 

Clara

Mitglied
das wörtchen Geil als Ausruf von Freude wurde in unserer Familie zu gaule - dann Gaudi- fein,prima
nur so spricht ja niemand...
 

rothsten

Mitglied
Liebe Clara,

Ich hatte es mir als Stimmung so vorgestellt
Wichtig ist allein, was im Text steht. Der Text ist das Mittel, mir Deine Vorstellung nahe zu bringen. Also muss der Text passen, daran führt kein Weg vorbei.

Türen auf - Plätze einnehmen- man wird gerüttelt undgeschüttel und dröhntmit seinen eigenen Gedanken so vor sich hin.
Es rüttelt, es schüttelt, es dröhnt - all das sind lebendige Verben. Warum beschreibst Du die Szene nicht mit diesen Wörtern? DAS wäre lebendig!

Das Hauptproblem bliebe dennoch: die Erzähllücke.

lg
 

Clara

Mitglied
die Lücke?
ich dachte selbst als ich jetzt vorher las, dass da irgendwo ein Bruch ist, aber ich sehe das alles bildlich vor mir

wo ist die Lücke?
der Papa?
der ist natürlich in der Türkei geblieben, den hätte man hier auch zusammenschlagen können

Der Satz entspringt noch den gedachten Gedanken- was ja mit dem Zuhause in der Türkei auch viel zu tun hatte und dem hier leben - und alleine sein, ohne die Ur-Familie.

Dieser Rückschritt auch seit die Person verheiratet war...

Nach dem Zwischenfall spricht sie etwas aus, was zuvor nur gedacht war oder auch gedacht wurde
Leiderbin ich nihct so firm darin, auch so nachzudenken über das Land und Leute
 

rothsten

Mitglied
Nochmal zur Lücke, ich zitiere mich selbst:

Du fängst hier aber das Erzählen an, sprichst Dramen an wie Heimatverlust, Zwangsehe und Gewalt gegen Frauen, aber wozu? Was hat das mit der Szene zu tun? Wo ist die Kausalität zwischen Drama und Handlung?
 

Clara

Mitglied
Ich hatte das so gesehen, dass es ein Blitzlicht auf einen Teil unserer Gesellschaft, des miteinander ist.
Das tägliche fahren mit der Bahn (U-Bahn habe ich nun gewählt)
die verschiedenen Menschen, ein besonderere Vorfall
der auch unsere ausländischen Mitbürger in einem anderen Licht darstellt.
Und, den Gedanken bei diesem rummelfahren, der Frau Süleymann
(kopfpatsch das Frau hatte ich aber wirklich immer vergessen -vermutlich wegen Namenstausch - und Wiederholungen) deren Gedanken, die uns ja auch etwas mitteilen, was wir nicht täglich hören oder gar mitgeteilt bekommen zu erzählen -
Überhaupt mit jemandem Fremden in der U-Bahn zu reden, ich fahre nicht so häufig, ist doch eher ungewöhnlich? oder nicht? nur weil man in einer Bucht von vier Plätzen sitzt?

Vom Meer, das schrieb ich auch zweimal, sollte eigentlich so etwas wie Sehnsucht nach Heimat ausdrücken. die Wiederholung also Sinn machen.

Gestern kam mir auch noch in den Sinn, wie riecht es eigentlich in der U-Bahn?

Und obwohl ich mir das ausdachte, habe ich ziemlich klare Bilder vor Augen, wie sich die Leute und die Gegebenheiten zwischen zwei Ausgängen in dem Waggon verteilen.
Die meisten Menschen sind gesichtslos.

Ja, der Herr Lenz hätte das gewiss geschickter gemacht, ich bin aber nicht er.
Darum bimmselt man ja die Texte hier auf, 264 Klicks und niemand piept- das ist schade.

Und so ausführlich wie du das machtest, das übertraf dann glatt meine Erwartungen und ich sage noch mal danke dafür
Einen Sinn sehe ich aber darin im Text und sei es das ich diese Beobachtungen fixierte.
 

rothsten

Mitglied
Hallo Clara,

ich versuche es ein drittes und definitv letztes Mal:

Und obwohl ich mir das ausdachte, habe ich ziemlich klare Bilder vor Augen, wie sich die Leute und die Gegebenheiten zwischen zwei Ausgängen in dem Waggon verteilen.
Was vor Deinem inneren Auge abläuft, gehört Dir alleine. Das einzig Wichtige ist, was im Text steht. Wir sind keine Gedankenleser, wir sind Texthandwerker. Dein Text spiegelt nicht ansatzweise das wieder, was Du ausdrücken willst. Willst Du schreiben, was Du ausdrücken willst, musst Du lernen, wie das geht. Hierzu habe ich ein paar Tipps gegeben.

Du schiebst mehr Erklärungen nach, als der eigentliche Text lang ist. Kommt Dir das nicht komisch vor? Mir jedenfalls offenbart es alles, was ich über Deinen Text wissen muss.

lg
 

Clara

Mitglied
Erkennt der Mensch die Würde,
sucht er Würde, so verehrt er sie,
auch außer sich.
(Riemer 1803 – 1814 Johann Wolfgang v. Goethe)

leichte ÜA nach rotstehn

Ra ta ta

Als die U-Bahn steht, zögert eine alte Frau mit Kopftuch einzusteigen, schaut in die Fenster, geht zurück. Sie wählt einen anderen Waggon aus, steigt ein und setzt sich in eine Viererbucht.
Es stürmen noch einige Jugendliche ins Abteil. „Geschafft“, keucht einer. Ihre Wangen glühen und leuchtendblaue Strickschals hängen lose um ihre Schultern. Einer streckt seinen Arm mit einer halbleeren Bierflasche in die Luft. „Yeah, das war gaule, wie die gespielt haben“, ruft er. Und die anderen jubeln zustimmend. Sie bilden einen Pulk an der Stange auf der Mittelfläche des Abteils.
Unter dem alltäglichen Ra Ta Ta der Bahngleise verlässt der Zug den Bahnhof, lässt die kupferfarbenen Dachgiebel in der Ferne zu einem grauen Punkt verschmelzen.

Aus der Reisetasche zieht die Alte ein Buch. Andere Fahrgäste schauen mit hängenden Lidern vor sich hin, ruckeln und schwingen ihre Oberkörper im Rhythmus des Zuges. Es ist Samstag.
Auf dieser Strecke fahren sehr viele ausländische Bürger der Stadt mit, das hörte die Alte von der Kranken die sie besuchte, und dass es solche und solche Ausländer gibt, sie solle umsichtig sein, hatte man ihr geraten.
Bevor sie zu lesen beginnt, schaut sie auf die Schwarzhaarige gegenüber, dann auf das Kind im Buggy.
„ Ist es ein Junge? Dass der hier so ruhig schläft bei dem Lärm?“
Die junge Türkin nickt bestätigend.
„ Ich fahre ein Paar Tage fort, um einer Kranken zu helfen.“
„Oh, das ist schrecklich, wenn jemand krank ist,“ erwidert sie.
„Wie heißt der Junge,“ fragt die Alte.
„Murat.“

“Sie sprechen einwandfrei Deutsch, aber Sie sind doch nicht von hier?“, schwätzt sie weiter.
Frau Süleyman zögert. Was will diese geschwätzige Alte von ihr?
„Schule“, erwiderte sie knapp.

Sollte sie erzählen, dass sie in Deutschland geblieben ist, als ihre Eltern zurück in die Türkei gingen? Dass sie bei ihren Tanten aufgewachsen ist, bis sie sich eine eigene Wohnung finanzieren konnte?

Sie war gut, so dass sie nach der Schule sogar eine Ausbildungsstelle bekam und später die Anstellung. Geld welches sie erübrigen konnte, schickte sie den Eltern, damit Vater das Haus weiterbauen konnte. Am Meer, wo sie als Fremde angesehen wird. Dort, wo unzählige Freunde leben, oder Verwandte, die auf Geldanweisungen aus Deutschland hoffen.

Zu Hause, wo sie gerne gelebt hatte, ist sie mit den Jahren eine Fremde geworden. Auch waren manche Verhaltensweisen ihrer Landsleute für sie, als moderne Europäerin, nicht mehr akzeptabel.
Ahmed, dem sie als Kind zugesprochen worden war – auch seinetwegen hatte sie Deutschland nicht wieder verlassen. Entweder du kommst und lebst mit mir hier, dann heirate ich dich, oder es wird nichts mit dem Tausch von Ziegen und Schafen, so schrieb sie ihm per Brief. Ich habe mich für Deutschland entschieden. Ich habe hier eine Arbeit, Wohnung und meine Freunde.
Wie es von den Vätern bestimmt worden war, heirateten sie. Wie es von ihr bestimmt worden war, kam Ahmed nach Deutschland, um mit ihr in Deutschland zu hochzeiten und zu leben.

Unmerklich seufzt Frau Süleyman, streicht sich über die Wange und wendet den Blick auf Murat. Er soll anders aufwachsen als seine Onkel und Großväter. Unversehens spricht sie es aus, obwohl die Alte schon in ihrem Roman versunken ist:
„Hier haben Frauen mehr Möglichkeiten.“
Dann fällt sie wieder ins Schweigen und kaut auf ihren Lippen. Frei war ich, bis er kam. Und dann war der Tag da, wo Ahmed sie zum ersten Mal schlug und manches Weitere geschah genau so, wie sie es von den Tanten erzählt bekam. So will sie Murat nicht aufziehen, als Pascha. Und sie wird ihre Kinder nicht schlagen.
„Nein!“

„Was meinen Sie Frau Süleyman?“ Die Alte schaut erstaunt hoch.
„Ach nichts, war nur ein Gedanke“, antwortet sie.
Seit Murats Geburt ist jedoch alles anders. Ständig fühlt sie sich erschöpft. Die Tanten und Kusinen kommen schon am Morgen in ihre Wohnung und belagern die Wohnstube. Sie trinken endlos Tee und sie muss bedienen. Ahmed lässt nicht zu, dass sie ohne Kopftuch auf die Straße geht. Wenn sie ihre deutschen Bekannten grüßt, ohne dass er diese kennt, erhält sie Schläge.
Schimmernde Augen schauen die neugierige Alte an. Kann man ihr so etwas erzählen? Sie versteht sich ja selbst nicht mehr, wie sich alles wieder veränderte, wie sie in die alten Gebräuche zurückfiel.
Die türkischen Alten stehlen ihr die Zeit und machen sie müde. Viel müder, als es ein anstrengender Arbeitstag in der Praxis je gemacht hatte. Und überall mischen sie sich ein. Tu dies, tu das und genau so, und: Du hast Deinem Mann zu gehorchen. Nein, wenn schon die Heimat verloren war, so wollte sie doch das Leben in Deutschland so leben, wie es ihr beliebte.

Die U-Bahn rattert monoton und im Abteil herrscht die Ruhe müder Menschen, die ihren Gedanken nachhängen, bis zur nächsten Station.

Türen werden aufgerissen, Frauen mit prallen Kunststofftüten steigen ein und zwei Männer in blanken Anzügen. Ihre Gesichtszüge wirken dunkel in der weißen Haut, und ihre Schnauzer stehen betont darin wie schwarze Hüte. Das Alter ist kaum auszumachen, denn sie sind von schmalgliedrigem Wuchs und mittlerer Statur.
Nachdem die Unruhe durch die Zusteigenden vorbei ist, und Frau Süleyman nicht sehr gesprächig ist, wendet sich die Alte wieder ihrem Roman zu.

Verstohlen, um das Gähnen zu verbergen, legt Frau Süleyman die Hand vor den Mund, denkt an das Ra Ta Ta in ihrem Herzen, dem sie nur schwer entkommen kann.
Wie von Ferne dringen in ihr Bewusstsein Laute aus ihrer Heimat ins Ohr.
Dann ist sie hellwach, und ihre kleine flache Stirnfalte vertieft sich.
Die Knöpfe des Mantels spannen an den Knopflöchern, als sie sich im Waggon umschaut und sieht, und hört, was am anderen Ende los ist. Die anderen Mitfahrer nehmen keine Notiz davon – sie dröhnen erschöpft und geschaukelt von der Bahn vor sich hin..

Die angeheiterten Blauschals schwanken im Rhythmus der Bahn und kichern nach stumpfsinnigen Bemerkungen und kleinen Rempeleien in sich hinein.

Frau Süleyman verlässt ihren Platz. „Bitte, lassen Sie mich durch,“ sagt sie. „Bitte, lassen Sie mich durch,“ wiederholt sie mit gepresster Stimme. Sie drängelt sich zwischen Taschen und Mänteln durch das Abteil. „Ist noch keine Haltestelle,“ tuschelt eine der Sitzenden.
Aufgestört, hält die Alte den Buggy fest, steht auf, reckt den Hals und sieht, wie sich die Männer über einen Fahrgast beugen und ihn belästigen. Dann schiebt sie den Roman in die Reisetasche, zippt den Reißer zu und wirft einen Blick auf das Kind und dann der Türkin hinterher.
Ein grauhaariger Mann kauert, seine Mütze in die Stirn geschoben, auf dem letzten Ecksitzplatz, und die Männer mit Schnauzer zerren ihn an den Armen hoch. Begleitet von fremder Sprache, werfen sie ihn dann - rumms - wieder in den Sitz. Als wäre er ein schwerer Sack, lässt der Grauhaarige es scheinbar mit sich geschehen, murmelt unverständlich, „Lot mi to freeden“, und schiebt seine Mütze zurecht.
Frau Süleyman wirft die Arme hoch: „Warum tut denn niemand was?“
Sie drängt durch die engstehenden Menschen, stampft die Füsse auf, erhebt ihre Stimme in türkischer Sprache.
Aber auch: „Lasst ihn los. Lasst ihn sofort los.“ Die Männer schlagen nun auf den Grauhaarigen ein, zerren an seiner Jacke. Nur wenige Passagiere weichen zurück.

Die alte Frau kraust die Brauen zusammen. „Da bin ich hilflos!“, jammert sie. Hier kann ich nicht helfen. Und wenn die ein Messer haben, wie immer in der Zeitung steht - besser nicht eingreifen, denkt sie doch an die Worte der Bekannten.

Der Grauhaarige in der Ecke hält den Arm ungelenk abwehrend über sich. Er ist sturzbetrunken.
Frau Süleyman schreit geradezu und wettert zweisprachig, zieht einem der Männer am Ärmel und zerrt ihn bis zur Ausgangstür. Sie gibt dem Angreifer auf türkisch Anweisung, dort stehen zu bleiben.
Dieser gehorcht verdattert.
Ein anderer Passagier steht an der Türklinke, spannt seine Ellenbogen und sieht ihn drohend an.
Ein Mantelknopf klickert durch das Abteil und mit wehendem Mantel und tiefer Stirnfurche jachtet Frau Süleyman wie ein Tiger zu dem zweiten Angreifer zurück. Dieser greift ihr schmerzhaft an die Oberarme, sprudelt in türkischer Sprache Worte entgegen. Frau Süleyman verzieht das Gesicht. „Klatsch.“ Sie schlägt dem Mann, mit der offenen Hand ins Gesicht.
Seine Verwirrung nutzt sie, um ihn zu packen, zerrt ihn ebenfalls vor die Schiebetür des Waggons. „Warum hilft mir denn niemand“, ruft sie verzweifelt. Was schaut ihr alle zu?“
Der Zug fährt in die Station ein, doch der angespannte Arbeiter mit der Hand an der Klinke, steht wie ein Wächter an der Tür.
Die Fahrgäste murmeln hier und dort. „Lasst sie doch in Ruhe, lasst sie doch alle in Ruhe.“
„Das geht schief.“
Die Fußball-Fans sind inzwischen mit wachen Augen im Geschehen. Einer von ihnen, spielt mit einem kleinen Taschenmesser, lässt es erst an seinen Fingern schaukeln und dann in der Faust aufschnappen.
Erschrocken und in Deckung gehend, weichen die nahen Fahrgäste zurück. Der Junge wird angefaucht: „Leg das weg. Bist du wahnsinnig!“
Die Alte sagt:: „Bleibt ruhig – nicht einmischen, dann wird es nur schlimmer“, und schaut sich nach der Notbremse um. „Habt ihr mitbekommen, um was es geht."

Frau Süleyman fährt mit den Händen durchs Haar, zetert: „Ein Mensch ist ein Mensch, egal woher er kommt, wie er geht oder steht oder lebt. Kein Mensch ist selbst gut genug, um gegen einen anderen Gewalt auszuüben!“ Auch auf türkisch schwallt sie noch einiges hinterher.

Der Arbeiter an der Ausgangstür öffnet diese, als der Zug vollends steht und Frau Süleyman stößt die Landsleute durch die Türöffnung auf den Bahnsteig. „Geht mir aus den Augen“, sagt sie noch auf deutsch. Ich schäme mich für euch.“

Sie eilt zum Buggy, und einer der Blauschals reicht ihr mit niedergeschlagenen Augen einen abgerissenen Knopf zurück.
Die Alte schweigt und atmet unruhig. Ihr klappt das Kinn herunter.
Als sie der Türkin den Buggys an die Hand gibt, streicht sie ihr über die Hand.
Frau Süleyman lächelt kurz zurück.
„Sie hatten nicht das Recht auf ihn einzuprügeln. Ich vertrage das nicht.

Ihre Stimme kippt.
Hastig nimmt sie Murat auf und presst ihn an sich.



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Ra ta ta

Als der Zug steht, zögert eine alte Frau mit Kopftuch einzusteigen, schaut in die Fenster, geht zurück. Sie wählt einen anderen Waggon aus, steigt ein und setzt sich in eine Viererbucht.
Es stürmen noch einige Jugendliche ins Abteil. „Geschafft“, keucht einer. Ihre Wangen glühen und leuchtendblaue Strickschals hängen lose um ihre Schultern. Einer streckt seinen Arm mit einer halbleeren Bierflasche in die Luft. „Yeah, das war gaule, wie die gespielt haben“, ruft er. Und die anderen jubeln zustimmend. Sie bilden einen Pulk an der Stange auf der Mittelfläche des Abteils.
Unter dem alltäglichen Ra Ta Ta der Bahngleise verlässt der Zug den Bahnhof, lässt die kupferfarbenen Dachgiebel zu einem grauen Punkt verschmelzen.

Aus der Reisetasche zieht die Alte ein Buch. Andere Fahrgäste schauen mit hängenden Lidern vor sich hin, ruckeln und schwingen ihre Oberkörper im Rhythmus des Zuges. Es ist Samstag.
Auf dieser Strecke fahren sehr viele ausländische Bürger der Stadt mit, das hörte die Alte von der Kranken die sie besuchte, und dass es solche und solche Ausländer gibt, sie solle umsichtig sein, hatte man ihr geraten.
Bevor sie zu lesen beginnt, schaut sie auf die Schwarzhaarige gegenüber, dann auf das Kind im Buggy.
„ Ist es ein Junge? Dass der hier so ruhig schläft bei dem Lärm?“
Die junge Türkin nickt bestätigend.
„ Ich fahre ein Paar Tage fort, um einer Kranken zu helfen.“
„Oh, das ist schrecklich, wenn jemand krank ist,“ erwidert sie.
„Wie heißt der Junge?“ Fragt die Alte weiter.
„Murat.“

“Sie sprechen einwandfrei Deutsch, aber Sie sind doch nicht von hier?“, schwätzt sie weiter.
Frau Süleyman zögert. Was will diese geschwätzige Alte von ihr?
„Schule“, erwiderte sie knapp.

Sollte sie erzählen, dass sie in Deutschland geblieben ist, als ihre Eltern zurück in die Türkei gingen? Dass sie bei ihren Tanten aufgewachsen ist, bis sie sich eine eigene Wohnung finanzieren konnte?

Sie war gut, so dass sie nach der Schule sogar eine Ausbildungsstelle bekam und später die Anstellung. Geld welches sie erübrigen konnte, schickte sie den Eltern ans Meer, damit Vater das Haus weiterbauen konnte. Am Meer, wo sie als Fremde angesehen wird. Dort, wo unzählige Freunde leben, oder Verwandte, die auf Geldanweisungen aus Deutschland hoffen.

Am Meer, wo sie gerne gelebt hatte, ist sie mit den Jahren eine Fremde geworden. Auch waren manche Verhaltensweisen ihrer Landsleute für sie, als moderne Europäerin, nicht mehr akzeptabel.
Ahmed, dem sie als Kind zugesprochen worden war – auch seinetwegen hatte sie Deutschland nicht wieder verlassen. Entweder du kommst und lebst mit mir hier, dann heirate ich dich, oder es wird nichts mit dem Tausch von Ziegen und Schafen, so schrieb sie ihm per Brief. Ich habe mich für Deutschland entschieden. Ich habe hier eine Arbeit, Wohnung und meine Freunde.
Wie es von den Vätern bestimmt worden war, heirateten sie. Wie es von ihr bestimmt worden war, kam Ahmed nach Deutschland, um mit ihr in Deutschland zu hochzeiten und zu leben.

Unmerklich seufzt Süleyman, streicht sich über die Wange und wendet den Blick auf Murat. Er soll anders aufwachsen als seine Onkel und Großväter. Unversehens spricht sie aus, obwohl die Alte schon in ihrem Roman versunken ist:
„Hier haben Frauen mehr Möglichkeiten.“
Dann fällt sie wieder ins Schweigen und kaut auf ihren Lippen. Frei war ich, bis er kam. Und dann war der Tag da, wo Ahmed sie zum ersten Mal schlug und manches Weitere geschah genau so, wie sie es von den Tanten erzählt bekam. So will sie Murat nicht aufziehen, als Pascha. Und sie wird ihre Kinder nicht schlagen.
„Nein!“

„Was meinen Sie Frau Süleyman?“ Die Alte schaut erstaunt hoch.
„Ach nichts, war nur ein Gedanke“, antwortet sie.
Seit Murats Geburt ist jedoch alles anders. Ständig fühlt sie sich erschöpft. Die Tanten und Kusinen kommen schon am Morgen in ihre Wohnung und belagern die Wohnstube. Sie trinken endlos Tee und sie muss bedienen. Ahmed lässt nicht zu, dass sie ohne Kopftuch auf die Straße geht. Wenn sie ihre deutschen Bekannten grüßt, ohne dass er diese kennt, erhält sie Schläge.
Schimmernde braune Augen schauen die neugierige Alte an. Kann man ihr so etwas erzählen? Sie versteht sich ja selbst nicht mehr, wie sich alles wieder veränderte, wie sie in die alten Gebräuche zurückfiel.
Die türkischen Alten stehlen ihr die Zeit und machen sie müde. Viel müder, als es ein anstrengender Arbeitstag in der Praxis je gemacht hatte. Und überall mischen sie sich ein. Tu dies, tu das und genau so, und: Du hast Deinem Mann zu gehorchen. Nein, wenn schon die Heimat verloren war, so wollte sie doch das Leben in Deutschland so leben, wie es ihr beliebte.

Die S-Bahn rattert monoton und im Abteil herrscht die Ruhe müder Menschen, bis zur nächsten Station.

Türen werden aufgerissen, Frauen mit prallen Kunststofftüten steigen ein und zwei Männer in blanken Anzügen. Ihre Gesichtszüge wirken dunkel in der weißen Haut, und ihre Schnauzer stehen betont darin wie schwarze Hüte. Das Alter ist kaum auszumachen, denn sie sind von schmalgliedrigem Wuchs und mittlerer Statur.
Nachdem die Unruhe durch die Zusteigenden vorbei ist, und Frau Süleyman nicht sehr gesprächig ist, wendet sich die Alte weiter ihrem Roman zu.

Verstohlen, um das Gähnen zu verbergen, legt Süleyman die Hand vor den Mund, denkt an das Ra Ta Ta in ihrem Herzen, dem sie nur schwer entkommen kann.
Wie von Ferne dringen in ihr Bewusstsein Laute aus ihrer Heimat ins Ohr.
Dann ist sie hellwach, und ihre kleine flache Stirnfalte vertieft sich.
Die Knöpfe des Mantels spannen an den Knopflöchern, als sie sich im Waggon umschaut und sieht, und hört, was am anderen Ende los ist. Die anderen Mitfahrer nehmen keine Notiz davon – sie verstehen diese Worte nicht.

Die angeheiterten Blauschals schwanken im Rhythmus der Bahn und kichern nach stumpfen Bemerkungen und kleinen Rempeleien in sich hinein.

Frau Süleyman verlässt ihren Platz. „Bitte, lassen Sie mich durch,“ sagt sie. „Bitte, lassen sie mich durch,“ wiederholt sie mit gepresster Stimme. Sie drängt durch die Ansammlung der Fahrgäste, die schläfrig zurückweichen. „Ist noch keine Haltestelle,“ tuschelt eine der Sitzenden.
Aufgestört, hält die Alte den Buggy fest, steht auf, reckt den Hals und sieht, wie sich die türkisch wirkenden Männer über einen Fahrgast beugen und ihn belästigen. Dann schiebt sie den Roman in die Reisetasche, zippt den Reißer zu und wirft einen Blick auf das Kind und dann der Türkin hinterher.
Ein grauhaariger Mann kauert, seine Mütze in die Stirn geschoben, auf dem letzten Ecksitzplatz, und die Männer mit Schnauzer zerren ihn an den Armen hoch. Begleitet von fremden Worten, werfen sie ihn dann - rumms - wieder in den Sitz. Als wäre er ein schwerer Sack, lässt der Grauhaarige es scheinbar mit sich geschehen, murmelt unverständlich, „Lot mi to freeden“, und schiebt seine Mütze zurecht.
Süleyman wirft die Arme hoch: „Warum tut denn niemand was?“
Sie drängt durch die engstehenden Menschen, stampft auf, erhebt ihre Stimme in der für die meisten Deutschen unverständlichen türkischen Sprache.
Aber auch: „Lasst ihn los. Lasst ihn sofort los.“ Die Männer schlagen nun auf den Grauhaarigen ein, wie nach einem kläffenden Hund. Nur wenige Passagiere weichen zurück und verfolgen das sich bietende Schauspiel.

Die Alte Frau kraust die Brauen. „Da bin ich hilflos!“, jammert sie. Hier kann ich nicht helfen. Und wenn die ein Messer haben, wie immer in der Zeitung steht - besser nicht eingreifen, denkt sie doch an die Worte der Bekannten.

Der Grauhaarige hält den Arm ungelenk über sich. Er ist sturzbetrunken.
Süleyman schimpft und wettert deutsch und türkisch durcheinander, zieht einem der Männer am Ärmel und zerrt ihn bis zur Ausgangstür. Sie gibt dem Angreifer auf türkisch Anweisung, dort stehen zu bleiben.
Dieser gehorcht verdattert.
Der Arbeiter an der Türklinke spannt seine Ellenbogen und sieht ihn drohend an.
Ein Mantelknopf klickert durch das Abteil und mit wehendem Mantel und tiefer Stirnfurche jachtet Süleyman wie ein Tiger zu dem zweiten Angreifer. Dieser greift ihr schmerzhaft an die Oberarme, sprudelt in türkischer Sprache Worte entgegen. Süleyman verzieht das Gesicht. „Klatsch.“ Sie schlägt dem Mann, der ganz offenbar die türkische Sprache versteht, ins Gesicht.
Seine Verwirrung nutzt sie, um ihn zu packen, zerrt ihn ebenfalls vor die Schiebetür des Waggons. „Warum hilft denn niemand“, ruft Süleyman verzweifelt. Was schaut ihr alle zu?“
Der Zug fährt in die Station ein, doch der angespannte Arbeiter mit der Hand an der Klinke, steht wie ein Wächter an der Tür.
Die Fahrgäste murmeln hier und dort. „Lasst sie doch in Ruhe, lasst sie doch alle in Ruhe.“
„Das geht schief.“
Die Fußball-Fans sind inzwischen mit wachen Augen im Geschehen. Einer von ihnen, spielt mit einem kleinen Taschenmesser, lässt es erst an seinen Fingern schaukeln und dann in der Faust aufschnappen.
Erschrocken und in Deckung gehend, weichen die nahen Fahrgäste zurück. Der Junge wird angefaucht: „Leg das weg. Bist du wahnsinnig!“
Die Alte sagt:: „Bleibt ruhig – nicht einmischen, dann wird es nur schlimmer“, und schaut sich nach der Notbremse um. „Wir verstehen doch nicht, um was es geht."

Süleyman fährt mit den Händen durchs Haar, zetert: „Ein Mensch ist ein Mensch, egal woher er kommt, wie er geht oder steht oder lebt. Kein Mensch ist selbst gut genug, um gegen einen anderen Gewalt auszuüben!“ Auch auf türkisch schwallt sie noch einiges hinterher.

Der Arbeiter an der Ausgangstür öffnet diese, als der Zug vollends steht und Süleyman stößt die Landsleute durch die Türöffnung auf den Bahnsteig. „Geht mir aus den Augen“, sagt sie noch auf deutsch. Ich schäme mich für euch.“

Sie eilt zum Buggy, und einer der Blauschals reicht ihr mit niedergeschlagenen Augen einen abgerissenen Knopf zurück.
Die Alte schweigt und atmet unruhig. Ihr klappt das Kinn herunter.
Als sie der Türkin den Buggys an die Hand gibt, streicht sie ihr über die Hand.
Süleyman lächelt kurz zurück.
„Sie hatten nicht das Recht auf ihn einzuprügeln. Ich vertrage das nicht.
Es hätte Papa sein können.“

Ihre Stimme kippt.
Hastig nimmt sie Murat auf und presst ihn an sich.


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diese Erzählung besteht aus eigenem Erleben des U-Bahnfahrens, einer Zeitungsnotiz und dem Gespräch mit Frau Süleymann (Name geändert)
Da das Thema Ausländer immer Mal wieder eines ist, und die Zivilcourage die diese Frau zeigte eher selten ans Tageslicht kommt, dachte ich ich zeige sie hier mal vor. Ich schrieb sie 2002
 
Hallo Clara,

deine Geschichte hat was!
Wenn sie denn richtig ausgearbeitet wäre und verständlicher würde - an manchen Stellen.
Daher möchte ich dem, was rothsten dazu meinte, nichts mehr hinzufügen und würde mich freuen, wenn du sie noch einmal in Angriff nimmst und ihr mehr Leben einhauchst.
Deine Intension habe ich schon verstanden und ich finde deine Idee klasse.

Liebe Grüße,

Tilli
 



 
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