Raus aus der Klappse

anemone

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„Wollen Sie sie denn wirklich schon entlassen, Professor? Ja, ist sie denn schon geheilt?“ Ungläubig sieht die Therapeutin ihren Arbeitgeber an. „Das allein habe nicht ich zu entscheiden, dazu brauch ich noch ein schriftliches Gutachten. Ich denke, dass uns das in wenigen Tagen vorliegen wird und dann steht einer Entlassung nichts mehr im Wege.“ Professor Weiß räuspert sich, wie es immer so seine Art ist. Die Therapeutin kenn das schon.
Irgendwie färbt das doch auf alle hier ab! – ist ihre wahre Meinung, aber sie würde sich hüten, sie öffentlich kundzutun. Wenn die Leute jahrelang mit diesen Patienten umgegangen sind, nehmen sie ihre Eigenarten an, ob sie das jetzt wahr haben wollen oder nicht.

Es ist zwar nicht so, dass der Professor, nachdem er mit Herrn Suhr gesprochen hat um seinem Tick auf die Spur zu kommen, er jetzt auch ständig mit den Fingern schnipseln und mit dem Kopf schütteln und ab und zu die Laute „Krrr, Krrr“ von sich geben würde, weil er sich für einen Raben hält, nein so ist es nicht. Da hat der Professor sich schon noch unter Kontrolle, aber dieses räuspern hat nicht unbedingt etwas mit einer Erkältung zu tun. Der Professor ist ein Dauer-Räusperer und als solcher den Mitarbeitern und Kollegen wohl bekannt. Man wartet förmlich darauf, auf sein in Abständen immer wieder auftauchendes Räusper-Geräusch.

Nun, in der Sache Betty ist er sich jedoch sicher, sie entlassen zu können, dabei ist Betty längst noch nicht geheilt, wenn auch nicht gemein-gefährlich. Betty spuckt, ja, sie spuckt um sich, wo immer sie sich auch befindet, plötzlich bricht es aus ihr heraus: Sie muss spucken, ob sie will oder nicht.

Lange hatte der Professor versucht zu ergründen, woran das bei ihr liegen kann. In welcher Situation spuckt sie und warum. Es existierten Aufzeichnungen darüber. Die Therapeutin beschäftigte sich lang mit ihr und irgendwann kamen sie zu dem Schluss: Betty mag keine Männer! Sie spuckt nur dann, wenn Männer anwesend sind. Natürlich ist das allein nicht alles: Betty kratzt und beißt auch, doch dabei verletzt sie eher sich selbst, als dass sie jemanden ernsthaft verletzen könnte.

Natürlich sind in dieser Hinsicht die Untersuchungen noch lange nicht abgeschlossen und Betty muss nach wie vor weiter in Behandlung bleiben, doch der Professor ist da zuversichtlich: „Das Problem bekommen wir auch extern in den Griff.“ Um ehrlich zu sein: Warum soll Betty nicht zu Hause spucken? Hier in den Räumen ist es doch reichlich unangenehm, zumal es sich nicht vermeiden läßt Betty von den männlichen Patienten fern zu halten. Das hier ist eine freie Anstalt, jeder kann hier gehen wo er will, den Patienten sind da keine Schranken gesetzt.

Nun würde uns natürlich sehr interessieren, wie Betty selbst über diese Sache denkt. Doch sich in Bettys Denkweise hineinzuversetzen gestaltet sich als äußerst schwierig, es sei denn
man denkt ebenso wie sie. Ich glaube aber kaum, dass wir so einen Gleichgesinnten je finden werden.

Um dieses zu ergründen schmuggeln wir uns als Zuhörer in die nächste Therapiestunde bei Frau Specht ein: Betty befindet sich auf einer Liege und wurde gerade von Frau Specht in einen hyphnotischen Zustand versetzt.
„Sie fühlen sich jetzt ganz leicht, sind acht Jahre alt und kommen gerade mit ihrem Ranzen aus der Schule, ist die Mutter zu Hause?“

Betty redet jetzt wie eine Achtjährige: „Mamma, Maaaamma!“

Kurze Unterbrechung von Frau Specht: „Wie bist du in die Wohnung gekommen, Betty?“
„Die Wohnungstür steht offen, sie ist nur angelehnt.“ gibt sie bereitwillig Auskunft. „Das macht meine Mamma immer so, wenn sie in der Küche steht, denn Papa kommt nach mir auch gleich zu Essen!“

„Na Betty, hast du viele Hausaufgaben auf?“
„Ich muss einen Aufsatz schreiben!“
„Fang aber erst nach dem Essen damit an, deck schon mal den Tisch!“

„Papa kommt herein, er hat nie viel Zeit, isst schnell und geht wieder. Ich helfe Mamma beim Abtrocknen und schreibe meinen Aufsatz. Ich brauche sehr lange dafür, aber er wird auch toll.
Am Nachmittag gehe ich spielen und komme sofort nach Hause, als es draußen anfängt zu gewittern.“
„Hast du keine Angst vor dem Gewitter, Betty?“
„Mamma hat gerne, wenn ich dann in ihr Bett komme. Ich glaube, sie hat mehr Angst als ich.“
„Erzähl weiter!“ fordert die Therapeutin auf.
„Ich werde in der Nacht vom Donner geweckt und sehe am Fenster die Blitze zucken. Schnell lege ich mich ins Elternzimmer zwischen meine Eltern und schlafe dort weiter. Ich glaube, sie haben es noch nicht mal bemerkt.“

„Ich werde wach, als Papa sich hinter mir umdreht und seinen Arm um mich legt. Plötzlich fängt er an mich zu streicheln, er zupft mir an den Brustwarzen herum und ich sage: „Was machst du denn da?“ Da wird auch meine Mamma wach und beschimpft ihn und auch Papa schimpft mit ihr. „Warum schläft sie denn schon wieder hier?“ will mein Papa wissen. Ich laufe aus dem Zimmer, lege mich in mein Bett tief unter die Decke und fange an zu weinen.“

„Überlege, was danach passierte, wie verhielt sich dein Vater dir gegenüber?“ fragte Frau Specht. „Ich verstand die Frage nicht, Ich war doch erst acht Jahre.“

Frau Specht bemerkt ihren Irrtum und versetzt Betty wieder in den Normalzustand. Betty kann sich an ihre Worte nicht erinnern.


Diese Therapie-Stunde ist für Frau Specht zum ersten mal wirklich erfolgreich gewesen und schon nach zwei Tagen soll die nächste Hypnose stattfinden.

Betty trifft pünktlich bei ihr ein. Sie befindet sich zur Zeit noch im Gebäude; das gutachtliche Dokument, welches ihre Entlassung bescheinigen soll fehlt noch, da sich der Gutachter zur Zeit in der Karibik aufhält. Er wird aber in wenigen Tagen zurück sein und dann steht einer Entlassung hoffentlich bald nichts mehr im Wege.

Betty liegt bereits hypnotisiert auf der altbekannten Liege und versetzt sich in den Zustand eines neunjährigen Mädchens.

„Wo befindet sich dein Vater, Betty? Was macht er gerade?“

Betty scheint ihn zu suchen. Ahja, nun werden ihre Pupillen ruhiger, sie hat ihn entdeckt.
„Papa ist mit einer Leiter unterwegs zu dem Zweifamilienhaus, um dort den Schornstein zu fegen. Ich winke ihm zu und rufe „Papa, Papa“. Es ist nach langer Zeit das erste mal, dass ich ihm zuwinke. Er schaut mir nur still entgegen und als ich fast bei ihm angelangt bin, um ihn zu begrüßen, merke ich, dass es sein Kollege ist. Er war es gar nicht. Dabei hätte er sich sicher gefreut, denn ich habe ihm lange nicht in die Augen gesehen, er mir aber auch nicht. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken und ich habe es plötzlich sehr eilig nach Hause zu kommen. Ich muss unbedingt meinen Papa sehen. Ich will ihm zeigen, dass ich ihn mag.

Papa ist still geworden in letzter Zeit. Früher war er immer so fröhlich und hat gepfiffen, wenn er zu den Leuten ging, um ihre Schornsteine zu fegen. Aber auch ich habe mich verändert. Ich bin sehr nachdenklich geworden, lese viel und spiele nur noch ungern draußen.
Die Bücherei ist mein Lieblingsaufenthaltsort geworden.

Da kommt Papa zur Tür herein. Ich seh ihm in die Augen und sage: „Hallo Pappa“. Er lächelt mich an, vermeidet es aber mich zu berühren. Sogar Mamma kommt aus der Küche und wundert sich über meine Begrüßung. Wir nehmen uns alle drei in die Arme und ich bin der glücklichste Mensch der Welt.

- Das ist ja alles gut und schön – sagt sich Frau Specht. – Doch ich frage mich, wozu dann noch diese Probleme, dass sie sich heute hier befindet?

Frau Specht lässt sich noch einmal die Einlieferungsakte der Patientin „Bettina Strucks“ genannt Betty von der Sekretärin aushändigen. Bevor das Gutachten erstellt wird, muss sie den Bericht der letzten Sitzungen fertig stellen. Sie liest:

19.12.99 Neuaufnahme.
16.35 Uhr wird o.g. Patientin hier eingewiesen. Sie ist hier nicht bekannt. Die Einweisung geschah aufgrund einer Anzeige von Herrn Benno Glauch, 41 Jahre, Kunstprofessor an der Hochschule für bildende Künste in Köln.

Seine Angaben:
Bettina Strucks studiert an unserem Institut und zeigt ein gewisses künstlerisches Talent, was es zu fördern gilt. Als ich ihr an ihrer Staffelei einige Erklärungen abgab bezüglich der von ihr begonnenen Arbeit, spuckte sie mir unerwartet mitten ins Gesicht. Ich nahm mein Taschentuch, wischte mir damit ihre Spucke ab und versuchte ruhig zu bleiben. Den Vorfall hatten nur wenige Mitstudenten gesehen und ich redete ruhig und leise mit ihr, um kein Aufsehen zu erregen. Natürlich wollte ich wissen warum sie das tat. Doch statt einer Antwort, bespuckte sie mich wieder. Das war mir nun doch etwas zu dumm. Diesmal ekelte es mich und ich lief schnurstracks in den Waschraum, um ihren Speichel zu entfernen. Ich stellte mich hinter meinen Schreibtisch und beobachtete sie aus der Ferne. Sie sah mich mit hasserfüllten Augen an. Ich glaubte, dass ein Reden mit ihr keinen Sinn mehr hatte, ich wollte mit ihren Angehörigen reden. Ich bat durch eine Mitstudentin, sie nach der Adresse ihrer Eltern zu fragen, die sie ihr bereitwillig bekanntgab und die ich gleich nach Beendigung der Stunde aufsuchte.Ihre Mutter war über ihr Verhalten ebenso geschockt wie ich und konnte es sich nicht erklären.

So der Bericht des Professors, der von hier schriftlich angefordert wurde.


Kommentar dazu:
Meine Erklärung bzw. Anmerkung dazu: Durch die Kritik des Professors fühlte Betty sich ungeliebt. Er handelte und redete mit ihr rein sachlich, es fehlte der menschliche Kontakt zu ihr. Er war keine Bezugsperson und er wies sie ihrer Meinung nach von sich. Das war der Auslöser. Sie fühlte sich ungeliebt und abgewiesen wie als Kind, nachdem sie auf ihr Zimmer eilte.


Herr Raske, der Gutachter hat seinen Karibik-Urlaub noch in guter Erinnerung und das Gutachten fällt entsprechend gutartig aus. Es ist sein erstes Gutachten nach seiner Ferienreise und Bettina hat Glück, es wird zu ihren Gunsten entschieden: Ihrer Entlassung steht nichts mehr im Wege.

„Sitzungen bei der Therapeutin, Frau Specht sollen weiterhin, jedoch extern durchgeführt werden.“ so lautet die Auflage aus dem Gutachten.

Betty nimmt ihr Köfferchen und setzt sich in die Straßenbahn. Sie kramt nach ihrem Schlüssel, der irgendwo tief unten in ihrer Tasche steckt. Herr Bertram setzt sich nebenan auf den freien Platz. Er hebt den Schlüssel auf, der Betty aus der Hand gefallen ist und hält ihn ihr entgegen. - Warum macht sie das? - denkt Herr Bertram, als er sieht, wie Betty sich in die Hand beißt, so dass das Blut an ihren Zähnen haften bleibt.
 

anemone

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hallo Jadzia,

schon passiert, aber das Ende habe ich noch nicht ganz erreicht.

Schöne Pfingten
anemone
 



 
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