Raus aus dieser Haut

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Janosch

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„Raus hier! Ich sagte: raus hier!“, weist Alwin seine Mutter zurecht, die große Augen macht, als sie aus dem unteren Teil seiner Bettdecke vier kleine Füßchen ragen sieht. Auf dem Weg zur Toilette habe Sie sich aus Versehen in der Tür geirrt – das könne ja mal passieren, schließlich sei sie bereits bei ihrem dritten Glas Wein. In Wirklichkeit aber hat sie in einer stillen Passage des Gruselfilms, den sie gerade schaut, von nebenan ein Kichern gehört. Und nachdem der Mörder dem Opfer unter Pauken und Trompeten das Messer zwischen die Rippen geschoben hatte, ging aus der darauffolgenden Totenstille ein sanftes Stöhnen hervor. Ein reales, ein weibliches Stöhnen. Ihr plötzliches Unbehagen rührte kaum von den Ereignissen der Mattscheibe her und war schon gar kein Anzeiger für romantische Erwägungen ihrem Sohn gegenüber und doch eine Art Eifersucht: Die Angst, ihren Sohn an eine andere zu verlieren. So wie sie einst ihren Mann an eine andere verloren hat.

„Raus hier! Ich sagte: raus hier!“, brüllt Alwins Chef, der konstatiert, dass sein Mitarbeiter zu viel Zeit auf der Toilette verbringt. Er habe das schon länger beobachtet und befunden, dass es in seinem Büro zwar um große Geschäfte gehe, man diese allerdings bevorzugt am Schreibtisch zu verrichten habe. In Wirklichkeit aber erträgt der verheiratete Geschäftsführer nicht, dass seine attraktive Mitarbeiterin Elena ein offensichtliches Interesse für Alwin hegt, während sie ihm mit einer professionellen Distanz gegenübertritt. Eine Distanz, die sich für eine gesittete und selbstbestimmte Dame vor ihrem Chef nun einmal geziemt. „Und in der Belegschaft rammeln sie wie die Karnickel!“, brabbelt Alwins aufgebrachter Chef vor sich hin, „Ich fordere eine gewisse Distanz, um das Arbeitsklima nicht zu gefährden!“. Er beugt sich über Alwins Akte, die er zum allerletzten Mal schließen wird.

„Raus hier! Ich sagte: raus hier!“, beordert Alwin seine Freundin Elena aus seinem Zimmer, die mit einem Teller nach ihm geworfen hat. Um dem fliegenden Porzellan auszuweichen, hat er seinen Bauch eingezogen - so wie er das vor den jungen Damen im Schwimmbad tut, in dem er jeden Montag nach der Arbeit seine Bahnen zieht. Alwin liebt seine Elena und könnte sie nie betrügen. Sie allerdings klappert sein Verhalten nach der Erkenntnis ab, dass ein Mann immer mehrere Frauen gleichzeitig interessant findet. Dass ein Mensch immer mehrere Menschen gleichzeitig interessant findet. Dass sie selbst andere Männer interessant findet und ihre eigenen Tendenzen, an denen sie abliest, wie ein Mensch funktioniert, macht sie ihm zum Vorwurf. Vertraut ihm nicht. Wälzt sich in Unsicherheit und Selbsthass. Die Sorge, dass er ihr entgleitet einerseits und dass sie sich selbst entgleitet andererseits raubt ihr alle Energie. Und diese Sorge liegt nun dort, übertragen auf das zerschellte Porzellan in Alwins Zimmer.

„Raus hier! Ich sagte: raus hier!“, kreischt Alwins Fahrlehrer, dem das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht. Durch die Windschutzscheibe ragt ein Ast ins Wageninnere, an den Ledersitzen klebt Blut und im Rückspiegel lodern die Flammen.
Nach der Trennung von Elena hat Alwin auch die Stadt verlassen. Zunächst war es eine Erleichterung - er wollte seinen Führerschein nachholen, ließ sich die Haare schneiden, suchte nach neuem Glück an neuer Arbeitsstelle und generell hielt er einen Tapetenwechsel für angebracht. Doch immer wieder flackerten Bilder von ihr auf, in der Arbeit scheiterte er mangels Konzentration und des nächtens zerfloss er in Reue und Einsamkeit.
Als er die Leitplanken streichelte, hatte er ihr Gesicht vor Augen – der Wagen geriet ins Schleudern und das Bremsmanöver seines Hintermannes löste eine Massenkarambolage aus. Fünf Menschen erlagen den Folgen von Alwins unterdrückter Liebe zu seiner Elena, dreizehn weitere wurden mit leichten bis schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.

„Raus hier! Ich sagte: raus hier!“, richtet Alwin in dunkelster Stunde seine Worte an sich selbst. Er spricht zu seinen Gedanken und Erinnerungen, die er wie böse Geister aus seinem Bewusstsein zu exorzieren versucht. „Raus hier! Ich sagte: raus hier!“ Er erkennt, dass die Trennung von Elena der größte Irrtum in seinem Leben war und wird geplagt von Flashbacks, die sich wie längst verstorben geglaubte immer wieder selbst neues Leben einhauchen. Die hässliche Kündigung durch seinen eifersüchtigen Chef, das Zerschellen von Porzellan an der weißen Wand der gemeinsamen Wohnung, die brennenden Autos und Gliedmaßen, die Sirenen, die aufgeplatzten und gefallenen Bäume, die aufeinandergetürmten Autos, die Verletzten auf den Tragen Richtung Krankenwagen, die verweinten Augen der Angehörigen. Er hat sie auf dem Gewissen. „Raus hier! Ich sagte: raus hier!“, richtet Alwin in dunkelster Stunde seine Worte an sich selbst. „Ich muss raus aus meiner Haut!“

*

Völlig ausgelaugt und übermüdet vom marternden Gedanken schläft Alwin endlich ein. Er träumt von Elena, wie sie neben ihm liegt, ihm tief in die Augen schaut und sich an ihn schmiegt. Ihre Gesichter liegen aneinander, übereinander – ihr Atem geht schnell, was ihn beruhigt. Er weiß: Je schneller sie atmet, desto mehr liebt sie ihn. Im Traum macht er die Augen zu, entschlummert im Schlummer, begleitet von ihrem Atem und einem letzten zufriedenen Schmatzen.
Dann spürt er, wie ihn etwas nach oben zieht. Wie er immer leichter wird. Und steigt und steigt. Er entweicht seinem Körper nach oben, es geht nach oben mit ihm. Er sieht sich selbst unter ihm liegen – alleine. Keine Elena, kein Atmen, kein Schmatzen. Er steigt nach oben und da unten liegt sein Körper, der sich allmählich aufrichtet, dessen Beine über die Bettkante nach unten hängen, der jetzt auftritt und zum Fenster geht. Alwin schwebt über dem Bett, steigt weiter in Richtung Zimmerdecke und schaut seinem Körper hinterher. Wie er das Fenster öffnet, die kleine Hürde nimmt und springt.
 

Homosapiens

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Hallo Janosch, ein Fall von Depersonalisationserleben, vermutlich bei einem Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung nach ICD10 aus dem F60er-Bereich, etwa Borderline. Diese Patienten polarisieren auch ihr soziales Umfeld stark und lösen oft latente Ängste bei anderen aus. Über die Sichtweise des Betroffenen hinaus ist es Dir gelungen, die Interaktionen gleichzeitig aus dem Blickwinkel seiner Sozialkontakte darzustellen, mitsamt ihren vorbewußten Handlungsmotiven. In einer klinischen Gruppe von Betroffenen und ihren Angehörigen wäre Dein Text dazu angetan, gegenseitiges Verständnis zu schaffen, fachkompetente Gruppenleitung und Moderation vorausgesetzt. Einfach großartig eingefangen, dieses vielfältige psychodynamische Geschehen! Grüße mit Hochachtung von Homosapiens
 

Janosch

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hallo homosapiens,
danke für deinen aufschlussreichen kommentar, der mich dazu veranlasst hast, mich tiefer mit den intentionen dieses textes zu beschäftigen. ich freue mich sehr auf dein lob - gerade weil es treffend formuliert ist und von kenntnis zeugt. die die meine womöglich übertrifft. ich fühle eher nur und spiegele wider.
viele grüße
jan
 
Ich finde dieses Stück Kurzprosa klasse! Schöner geschickter Spannungsaufbau mit den jeweils verwendeten "Raus hier"! Auch wenn das Ende ein wenig vorhersehbar ist.

An Depersonalisation dachte ich beim Lesen überhaupt nicht; auf mich hat die Geschichte ganz anders gewirkt.
 



 
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