Wir sehen Andere nicht, wie sie sind sondern wie wir sind.
Also haben "wir" ein Bild von uns, das wir den "anderen" ins Gesicht werfen. In ihnen erkennen wir uns? Nein, das ist nicht gemeint. Dazu ist dein Spruch zu negativ konnotiert, denn immerhin bedeutet Selbsterkenntnis in diesem deinen Fall zugleich die Blindheit gegenüber dem Leben & Sein der "anderen". Auch kann eigentliche Selbsterkenntnis nicht gemeint sein. Denn Erkenntnis wäre ein (allzu positiver) Prozess, während dein Sätzlein einen absolut gesetzten Status quo bezeichnet. Es ist keine Bewegung im Inhalt deiner Worte; ich sehe ein paar Felsklötze, die auf wundersame Art und Weise mitten in der Wildnis angeordnet sind; einst angeordnet wurden, - wobei heute dieses einst nicht mehr sichtbar ist und eben durch deinen Satz auch nicht sichtbar wird. Kürzer: du machst es dir zu leicht. Wir sehen andere, wie wir sind? Woher wissen wir, wer wir sind? Was ist wir? Wer sind die anderen? Du setzt die eine Identität des "Wir" voraus, wobei diese letztlich immer nur ein "Ich" sein kann: Projektion ist zunächst abhängig vom Individuum. Und die "anderen" besitzen keine andere Identität als eben diejenige, die "wir" = "ich" ihnen auferlege. Wo ist der Quell der einen Ur-Identität? Er müsste in mir liegen. Konsequent also: er müsste in jedem einzelnen liegen. Vielleicht müssen wir, um diese in uns liegende Ur-Identität zu begreifen, ständig projizieren? Ein ständiges Bilderwerfen und vor allem -fangen um der Erkenntnis Willen? Dann aber wäre folgendes logischer: Wir sehen uns, wie die anderen sind - um in deinem, meines Erachtens ungenauen Wortlaut zu verhaften. Weiter noch: Ich sehe mich, wie ich euch sehe. Noch weiter: Ich will mich sehen, wie ich euch zu sehen glaube. Konsequenter: Ich sehe nichts.
Die Frage nach Identität ist eine der kompliziertesten, denke ich; ebenso eine, die mich am meisten fasziniert, was schon an meiner Signatur sichtbar wird. Als Diskussionsbeitrag sind deine Worte sicherlich gelungen, Karl; solche Beiträge müssen streitbar sein. In einen Raum geworfen jedoch, gar in einen Kurzprosaraum, verliert sich der Satz. Er hält keinem literarischen Anspruch stand. Und kann dadurch nur, wie vor mir no-name schon sagte, platt sein.
Viele Grüße,
Prosa.