Reiche Ernte

Maribu

Mitglied
Auf dem Weg zum Großen See fuhr er am Staatsgut vorbei, um sich eine Portion Erdbeeren zu pflücken. Wenn er sie nach dem Schwimmen genießen würde, könnte er an diesem heißen Sonntag auf das Mittagessen verzichten.
Viele Familien mit Kindern waren auf dem Feld verteilt. Die Erwachsenen pflückten mit ernster Miene in die verschiedensten Behälter. Die Kinder sprangen anfangs fröhlich und verspielt von Reihe zu Reihe, um die dicksten Früchte in ihren Mündern verschwinden zu lassen.
Er ging zur linken Seite des Feldes, auf der nur wenige Gestalten in gebückter Haltung zu erkennen waren. Sie war ungepflegt; Unkraut überwucherte die Erdbeerpflanzen. Er suchte gezielt die Stellen in der Nähe von Disteln, die von den Pflückern gemieden wurden.
Im Nu hatte er sein Schälchen voll und wollte sich auf den Weg zur Kasse machen. Da kam ihm von rechts eine Frau in die Quere, eine große Plastikschüssel in der Hand, in der nur der Boden bedeckt war. "Ich gebe Ihnen einen Tipp", sagte er spontan. "Unter den Disteln finden Sie die reifsten und größten Früchte."
Sie lachte. "Disteln stechen! Es sei denn, Sie helfen mir!"
Mit dieser Schlagfertigkeit hatte er nicht gerechnet. Warum nicht? Schwimmen konnte er auch noch später. "Das kann ich machen!" antwortete er und musste auch lachen.
Sie winkte ab. "Es war nur ein Scherz! Lassen Sie sich nicht aufhalten!"
Er ging aber trotzdem mit, drückte die Disteln mit dem Schuh beiseite, so dass sie ungefährdet pflücken konnte.
Als sie das Ende des Feldes erreicht hatten, an das sich
übergangslos ein Acker mit Kartoffeln anschloss, war auch ihre Schüssel gefüllt.
Sie wunderten sich, dass einige Leute, eben noch auf der Jagd nach Erdbeeren, hierher geeilt waren, bereits in der Erde wühlten und die Kartoffeln zu einen Haufen schichteten. Etwa ein Drittel des Ackers war mit einem roten Plastikband umspannt. Sie erfuhren, dass das Kraut von Fäule befallen war. Es sollte, bevor sie auf die anderen Pflanzen übergriff, untergepflügt werden. Die Kartoffeln sollten aber noch nicht angegriffen und genießbar sein. Deshalb war diese Fläche jetzt - sozusagen als kostenlose Zugabe - freigegeben worden.
Sie schauten sich das ein Weile amüsiert an. Das Problem war
der Transport. Niemand war darauf vorbereitet gewesen. Sie beobachteten zwei Männer, die sich die Hosentaschen voll stopften. Andere beulten ihre T-Shirts oder Hemden aus.
Eine Familie mit drei Kindern und drei Eimern kippte einen davon aus, um Platz zu schaffen. Sie gingen danach alle in die Hocke und verschlangen die unbezahlten Früchte. Wenn es etwas umsonst gab, hatte die Phantasie keine Grenzen!
"Das ist ja eigentlich zu schade!" sagte sie. "Lebensmittel
unterzupflügen, wo sie noch genießbar sind."
"Da gebe ich Ihnen recht!" Er zog das Futter seiner Hosentasche heraus und blickte sie fragend an. "Soll ich eine Mahlzeit mitnehmen?"
Sie lachte aus vollem Halse. "Ich habe eine bessere Idee! Ich bezahle unsere Erdbeeren, bringe sie nach Haus und komme mit einem Sack zurück. Ich wohne dahinten" - sie zeigte über das Feld - "in der neuen Siedlung. Ich bin in zwanzig Minuten zurück. Sie können ja inzwischen schon buddeln. - Ich gebe Ihnen einen Tipp: Unter den Disteln finden sie die reifsten und dicksten!"
Was waren schon frische, preiswerte Erdbeeren und kostenlose Kartoffeln gegen diese gut aussehende, schlagfertige und witzige Frau von vielleicht fünfzig Jahren? Es lohnte sich, auf sie zu warten!
Das Kraut hing welk und war teilweise klebrig und schwarz verfärbt. Er zog eine Staude hoch und riss dabei gleich zwei große Kartoffeln mit heraus. Er schob sie zur Seite und grub mit den Händen. Da kamen noch andere zum Vorschein. Er sortierte sie. Die kleinen und grünen warf er in das entstandene Loch zurück, die anderen schob er zusammen.
Bis sie zurückkam, hatte er in dieser Vorgehensweise bereits zwölf Stauden geschafft. "Das macht Spaß!" rief er ihr entgegen. "Ich bin jedesmal wieder überrascht, wieviele Früchte man unter einer einzigen Pflanze finden kann!" Er hob seine Hände und meinte lächelnd: "Ich fühle mich richtig erdverbunden, obwohl ich nicht mal weiß, ob das nun späte Frühkartoffeln oder frühe Spätkartoffeln sind!"
Sie betrachtete lachend seine schmutzigen Hände. "Da kenne ich mich auch nicht mit aus. Aber jetzt ist mir klar, warum man auch Erdäpfel sagt!"
Sie hatte tatsächlich einen Sack mitgebracht und warf ihm eine kleine Metallschaufel vor die Füße. "Die hat meine Enkeltochter vergessen. Welch ein Zufall! Jetzt können Sie Ihre Hände schonen!"
Während er weiter grub, sammelte sie die Kartoffeln ein. Als der Sack zur Hälfte gefüllt war, hörten sie auf. Sie trugen ihn gemeinsam zum Auto und verstauten ihn im Kofferraum.
Bei ihr angekommen, stellte er den Sack in den Keller und wollte sich verabschieden. "Das kommt gar nicht infrage!" protestierte sie. "Außerdem habe ich noch Ihre Erdbeeren."
"Die hätte ich durch unsere Kartoffelaktion glatt vergessen!"
Er lachte und folgte ihr nicht ungern in den ersten Stock.
Er warf einen Blick auf das Namensschild und sagte: "Frau Plöger, Entschuldigung, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Bungart."
"Dann kommen Sie man herein, Herr Bungart!" Sie führte ihn in die Küche und bot ihm einen Platz an. "Ein bisschen Geduld! Ich werde Ihre Erdbeeren abspülen und von den Kelchen befreien."
Er beobachtete sie dabei und fragte: "Was wollen Sie mit Ihrer Menge anfangen?"
"Ich werde sie einkochen. Jeden Morgen knusperige Brötchen mit Marmelade. Nicht für mich, mein Mann ist so ein Süßer!"
Er lächelte. "Das kann nicht jede Frau von ihrem Mann behaupten!"
Sie winkte ab. "Dabei ist das gar nicht gesund für ihn. Er ist noch zehn Tage im Sanatorium."
"Oh! Hoffentlich nichts Ernstes!"
"Wie man`s nimmt! Mein Mann ist gut im Futter. Seit er vor zwei Jahren in den Vorruhestand gehen musste, hat er 19 Kilo zugenommen."
"Eine stolze Leistung! Dann macht er eine Abmagerungskur?!"
"Ja, kann man so sagen. Medizinisch heißt das wohl anders."
Sie stellte die Erdbeeren und zwei Glasteller auf den Tisch.
"Möchten Sie Vanilleeis dazu? Ich könnte auch Sahne schlagen."
"Nein danke, ich möchte mein Gewicht halten!"
Eine Weile schwiegen sie und genossen die Früchte.
"Sie sprachen vorhin von Ihrer Enkeltochter", nahm Bungart das Gespräch wieder auf, "die hat ja eine j u n g e Großmutter!"
Frau Plöger verschluckte sich fast. "Bitte kein Süßholz raspeln!"
"Nein, ich meine es ehrlich!"
"Was machen Sie beruflich?"
"Ich bin im Außendienst tätig."
"Übernachten Sie unterwegs oder kommen Sie abends nach Haus?"
"Das ist unterschiedlich. Morgen fahre ich in die Schweiz und werde Mittwoch wieder in Hamburg sein."
"Mittwochabend würde mir gut passen!" sagte sie sofort. Und dann lachend: "Wir müssen doch unsere gemeinsame Ernte probieren! Ich hoffe, dass Ihre Frau nichts dagegen hat."
"Was sollte meine Exfrau dagegen haben?!" Er stand auf. "Ich werde jetzt zum Schwimmen fahren, um mich für die nächste stressige Woche fit zu machen! - Wollen Sie nicht mitkommen?"
"Nein danke, auf mich wartet ja noch Arbeit!"
"Na, dann viel Spaß beim Marmeladekochen!"
Schmunzelnd reichte sie ihm die Hand. "Bis Mittwochabend! -
Was halten Sie von Roastbeef?"
"Sehr viel, aber bitte mit Bratkartoffeln!" Er grinste sie dabei unverschämt an. Sie errötete und lächelte verlegen. Sie wussten, das war der Beginn von einem Bratkartoffel-Verhältnis.
 



 
Oben Unten