Reihe der Blauen Märchen: Der neugierige Regentropfen )

Der neugierige Regentropfen

Es war einmal ein kleiner Regentropfen. Er schwebte mit seinen Brüdern und Schwestern am Himmel. Sie bildeten zusammen eine große Wolke. Vater und Mutter waren ständig damit beschäftigt, alle Kinder dicht beisammen zu halten, denn alle waren sehr neugierig und immerzu wollten einige ausbrechen, um die Welt kennenzulernen.
Weil er der kleinste war, konnte er nicht über die anderen hinwegschauen und sehnte sich danach, endlich einmal einen Randplatz zu ergattern. Aber die Eltern wachten streng über ihre Schar und passten auf, dass die Kleinen wohlbehütet in der Mitte schwebten.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als den Erzählungen seiner größeren Geschwister zu lauschen, die bessere Sicht hatten. Sie berichteten von Wiesen, Fäldern, Wäldern, Städten und Häusern. Er malte sich alles in Gedanken aus und beschloss, sobald sich ihm eine Gelegenheit bieten würde, alls diese Dinge genau zu erkunden. Er hatte es ja so satt, immer nur zu tun, was man ihm gebot, immer in die gleiche Richtung fliegen wie die anderen Tröpfchen um ihn herum. Wie sie ihn nervten! Sie rochen alle feucht und stickig. Genau wie er wollten sie alle an einen Randplatz und schubsten sich ständig gegenseitig.
"Geduldet euch! Die Erde ruft euch, wenn es an eurer Zeit ist," sagte die Mutter, während sie ihre Kleinsten streng überwachte und dafür sorgte, dass sie im Schutz der Wolkenmitte blieben.
Eines Tages gerieten die Eltern in Streit mit einem Wettergeist, der seinem Zorn Luft machte, indem er seinen stärksten Wind auf sie hetzte.
Er blies so sehr auf sie ein, dass ihre dichten Reihen sich auflockerten und in dem Wolkengebilde Lücken entstanden. Und nun bot sich dem kleinen Regentropfen die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte.
"Nichts wie weg!", dachte er. Heisa ging die Fahrt nach unten, immer schneller sauste er, berauscht von der Geschwindigkeit.
"Huiiiii...jipppiiiii!" Er johlte laut vor Begeisterung. Die Luft pfiff ihm um die Ohren und unter sich sah er seltsame Gebilde auf sich zurasen, die rasch größer wurden.
"Platsch!", da knallte er auf etwas Hartem auf. "Aua!", schrie er.
"Mist, es fängt zu regnen an!", schimpfte der Autofahrer und stellte die Scheibenwischer an.
Der Regentropfen wurde von der Scheibe geschleudert und landete am Straßenrand, wo er jammernd liegen blieb. Der Lärm um ihn herum war furchtbar. Entsetzt hielt er sich die Ohren zu. Vergeblich suchte er nach seiner Wolke. Angst packte ihn und er heulte los.
Eine Regenpfütze, die sich in seiner Nähe befand, hatte Mitleid mit ihm und holte ihn zu sich.
Da klebte er dann, ölig, verdreckt, am Rande der Pfütze und sah nichts als vorbeirasende Autos und aufspritzenden Schlamm. Vom Gestank der Abgase bekam er einen schlimmen Husten. Er hatte Heimweh nach seine Eltern und Geschwistern, nach ihrer Nähe, ihrem Geruch. In einem fort rief er nach ihnen. Leider umsonst! Nun wurde er vor lauter Kummer und Sehnsucht krank. Er löste sich von der Pfütze, um sich auf die Suche nach seiner Familie zu machen. Seine Wanderung war beschwerlich und er kam nur langsam vorwärts. Mit jeder Stunde nahm er mehr ab, bis nur noch eine winzige Spur von ihm übrig war. Er konnte nicht einmal mehr weinen, so schwach war er.
Auf einmal brach die Sonne durch die Wolken und schickte einen Strahl zu ihm, der ihn sanft streichelte, ihn wärmend einhüllte und ihn zurück in den Himmel geleitete, wo er mit anderen Regentropfen eine Wolkenfamilie gründete.
 



 
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