Reisebericht Peru: Im Regenwald

axel

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„Nun probier doch endlich mal einen“
Der kleine Junge streckte mir noch immer seine offene Handfläche entgegen, in der sich sieben oder acht jener dicken, schleimigen weißen Würmchen tummelten. Er selber hatte es mir oft genug vorgemacht und sich einen nach dem anderen dieser nur wenige Zentimeter langen, aber offensichtlich noch sehr lebendigen Stummel in seinen kleinen Mund gesteckt.
Sein Vater Angel, der gleichzeitig unser Dschungelführer war, hatte diese Darbietungen stets mit wortreichen Versicherungen begleitet, dass diese Würmchen nicht nur geschmacklich die reinste Delikatesse seien, sondern darüber hinaus äußerst nahrhaft und proteinreich.
Es war gerade erst unser dritter Tag im Regenwald, doch wir hatten schon eine Menge Sachen probieren sollen, von denen wir zuvor noch nie etwas gehört hatten. Ein Stück Baumrinde etwa, vor meinen Augen von einem dieser Urwaldriesen abgeschnitten, fühlte sich reichlich matschig an und schmeckte dann original wie eine milde, aber sehr gehaltvolle Knoblauchzehe. Das eine oder andere Mal hatte Angel sich einen seiner kleinen Scherze mit uns erlaubt, und uns etwas zum Probieren gereicht, das schon beim allerersten Kontakt mit den Geschmacksnerven zu heftigen Schüttelanfällen führte. Lange leiden mussten wir allerdings nie, denn er hatte immer ein passendes Gegenmittel parat.
Im Falle dieser Würmer konnten wir Angels Aussagen wohl trauen, denn der kleine Junge verzog keine Miene, aber trotzdem: Nein danke. Auch Susana, die sich in den vergangenen Tagen viel weniger zögerlich als ich verhalten hatte, war diesmal nicht zu überreden.
Wir suchten schon eine ganze Zeit nach diesen Würmern, oder genauer gesagt: Wir suchten den Urwaldboden nach Früchten ab, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Paranüssen aufwiesen, dabei aber weicher und etwas heller waren. Susana und ich waren bei dieser Suche keine allzugroße Hilfe, denn wenn wir inmitten des ganzen Chaos, das den Boden bedeckte, überhaupt mal eine der gesuchten Früchte ausfindig machen konnten, dann erwies sich diese schnell als völlig unbrauchbar. „Die ist doch noch viel zu frisch. Die ist doch gerade erst vom Baum gefallen!“, belehrte mich Angel dann.
Die beinahe schon komplett verfaulten Exemplare, nach denen ich stattdessen suchen sollte, waren von dem Rest der vor sich hin faulenden Biomasse kaum zu unterscheiden, versprachen aber die größte Aussicht auf reichhaltige Beute. Angel trennte sie mit seiner Machete auf, und tatsächlich: Zwei der drei Hohlkammern im Inneren waren bereits von jenen eklig-schleimigen Zeitgenossen bewohnt.
Für unseren Speiseplan waren die Würmer nicht vorgesehen, auf diesem sollte am Abend stattdessen „Gegrillter Piranha“ stehen. „Piranhas fischen, in dem selben See, in dem wir gestern noch schwimmen waren? Warum hast du uns nicht gesagt, dass es darin Piranhas gibt?“
Angel hatte lachen müssen, obwohl er eine solch erschrockene Reaktion mit Sicherheit bereits hunderte von Malen zuvor erlebt hatte: „Mach dir keine Sorgen, die tun dir nichts.“ Diesen Spruch beherrscht in Deutschland jeder Hundebesitzer, doch Angel hatte nach meinem Einwand geduldig weiter erklärt: „Es gibt drei verschiedene Sorten von Piranhas, und nur der rote ist überhaupt in der Lage, den Menschen anzugreifen. Rote Piranhas gibt es in diesem See nicht, und selbst wenn es sie gäbe, könntest du trotzdem schwimmen gehen. Sie treten immer nur in kleineren Gruppen von höchstens zehn Exemplaren auf und fressen sich zumeist gegenseitig oder jagen kleinere Fische. Sogar, wenn du irgendwo eine offenene Wunde hast, dann wirst du vielleicht ein oder zweimal gebissen, aber was ihr aus irgendwelchen Filmen kennt, dass plötzlich das Wasser kocht und brodelt und tausende dieser Räuber einen Menschen innerhalb von Sekunden bis auf die Knochen auffressen, das gibt es einfach nicht.“
Mit den gesammelten Würmern konnten wir die Piranhas noch nicht sonderlich beeindrucken, sie waren nur dafür gedacht, die Köderfische anzulocken. Das schwere Kanu sollte ich diesmal alleine durch das Wasser bewegen, während Angel vorne am Bug Wurm für Wurm auf einen Haken spießte, der nur an einer einfachen Schnur befestigt war. Die etwa sieben Zentimeter langen Köderfische waren entweder völlig ausgehungert oder aber so zahlreich, dass immer einer von ihnen zum Anbeißen bereit war, denn kein Wurm sollte lange in der braunen Brühe schwimmen und insgesamt dauerte es auch nur relativ kurze Zeit, ehe Angel jeden der Würmer in einen Köderfisch verwandelt hatte. Mit dieser Beute paddelten wir dann von den sumpfigen Randbereichen, in die Angel mich zuvor dirigiert hatte, zurück in die Mitte des Sees. Wir zerteilten die Köderfische und spießten jeweils einen dieser blutigen Fleischbrocken auf einen etwas größeren Haken, der zudem nicht nur an einer Schnur befestigt war; das Ende dieser Schnur war an einem stabilen Stock verknotet.
Die Piranhas bissen beinahe ebenso schnell an wie zuvor die Köderfische, und ließen leichte Zweifel in mir aufkommen, ob diese Viecher denn tatsächlich so ungefährlich seien, wie Angel dies zuvor behauptet hatte.
Trotzdem sie so zahlreich nach den dargebotenen Ködern schnappten, war es dennoch nicht einfach, einen der Räuber aus dem Wasser zu ziehen. „Ihr müsst den Stock ganz ruhig halten, und dann, sobald ihr etwas verspürt, mit einem entschlossenen kurzen Ruck den Haken in hohem Bogen aus dem Wasser schleudern, nur dann habt ihr die Chance, einen Piranha zu erwischen!“
Angel machte es uns vor und hatte tatsächlich bei etwa jedem zweiten seiner Versuche Erfolg damit. Mir sollte es nicht gelingen, auch nur einen der Fische zu erbeuten. So schnell ich auch zu reagieren versuchte, der Haken schoss doch nur wieder blitzeblank gefressen aus dem Wasser, der Piranha hatte sich keineswegs daran verschluckt, und anscheinend waren die Viecher doch so schnell wie in den Filmen.
Susana entwickelte etwas größeres Geschick als ich, konzentrierte sich aber so sehr auf ihre Aufgabe, dass ich manchmal Angst hatte, ihr nächster Ruck würde mir die Beute direkt ins Gesicht schleudern. Passiert ist dies nicht, und nach einigen Stunden hatten wir unsere Köderfische alle verbraucht und eine recht ansehnliche Anzahl Piranhas erbeutet, so dass es für ein üppiges Abendmahl reichen würde.
Am Abend zuvor waren wir nach dem Essen noch zu einer nächtlichen Bootsfahrt aufgebrochen, um im Schein unserer Taschenlampen die nachtaktiven Kaimane zu beobachten, und obwohl wir ja gerade weitere unheimliche Bewohner des Sees erlebt hatten, würden wir vor dem Essen erneut in das verschlammte Wasser steigen.
Den Cocktail aus (weitgehend nutzlosem) Mückenschutz und Schweiß, der sich im Laufe eines Tages im Dschungel unweigerlich auf der Haut versammelt, hätten wir anders nicht wegbekommen können, denn Duschen gab es in der kleinen Hüttensiedlung, in der wir Quartier bezogen hatten, selbstverständlich keine.
Ein wenig mulmig war mir nun schon, denn von den Kaimanen hatte ich zwar tagsüber noch nie einen zu Gesicht bekommen, aber irgendwo mussten sie doch sein. Und die Piranhas? Waren die wirklich so ungefährlich? In der völlig undurchsichtigen Brühe konnte es immer wieder passieren, dass man plötzlich irgend etwas an den Armen oder am Bauch verspürte, ein Kratzen oder ein Stechen, und der Schreck war jedes Mal riesengroß. Mittlerweile wussten wir, dass an diesen Stellen einer der Baumriesen in den See gefallen war, und dass es die bis kurz unterhalb der Wasseroberfläche aufragenden Äste waren, an denen wir da entlang schrabbten, doch der Schock im ersten Augenblick blieb.
Die Piranhas schmeckten köstlich und waren eine wahre Delikatesse selbst für denjenigen, dem Fisch normalerweise immer etwas fad vorkommt. Allerdings war es ziemlich mühsam, sie zu essen, denn im Gegensatz zu allen Fischen, die ich zuvor kennen gelernt hatte, sind Piranhas von mehreren Grätensträngen durchzogen, und es ist nicht gerade einfach, an das Fleisch zwischen all diesen festen Gräten zu gelangen.
Nach dem Essen begann gleich wieder das allabendliche Spielchen „Wer sieht die erste Tarantel?“ Tagsüber waren diese handtellergroßen, behaarten Spinnen nicht zu sehen, sie hielten sich in den dichten Kronen der Baumriesen versteckt, um dann nach Einbruch der Dunkelheit auf der Suche nach Beute hinab zu steigen. Selbstverständlich waren nach Meinung der Bewohner der Hüttensiedlung auch diese Spinnen vollkommen harmlos und ungefährlich. Sie nahmen sie auch in die Hände, gingen dabei allerdings ziemlich behutsam zu Werke und bemühten sich, mit zwei Fingern die Tarantel an zwei ganz bestimmten Stellen zu packen. Wenn sie merkten, dass dies nicht gelingen würde, dann zogen sie ihre Hand sehr schnell wieder weg.
Außerdem gaben sie uns den Rat, vor dem Schlafengehen jeden Winkel unserer Hütte mit der Taschenlampe abzusuchen und auch den Schlafsack noch einmal zu durchleuchten, ehe wir uns hinein legen würden.
Wirklich ruhig waren die Nächte im Dschungel nie, nur die wenigsten der vielen geheimnisvollen Geräusche konnte ich halbwegs plausibel einordnen. Der prasselnde Regen, der zu jeder Tages- und Nachtzeit unvermittelt niedergehen konnte, gehörte auf jeden Fall zu den eindeutig erkennbaren Geräuschen. Das Moskitonetz um mein Bettgestell hatte zwar an einigen Stellen kleine Löcher, doch nachts belästigten mich die Viecher komischerweise gar nicht. Tagsüber schien ich eine beinahe magnetische Anziehungskraft auf sie auszuüben. Gestochen und gebissen worden war ich mittlerweile unzählige Male, der Kampf gegen die Mücken war speziell in meinem Fall vollkommen aussichtslos. Manchmal entdeckte ich eine auf meinem linken Arm und schlug mit der rechten Hand drauf, um dabei aus den Augenwinkeln zu erkennen, dass drei Artgenossinnen sich zur selben Zeit genüsslich am rechten Arm zu schaffen machten.
Gegen Gelbfieber hatte ich mich in Deutschland impfen lassen, aber in punkto Malaria hatten meine Recherchen ergeben, dass es einen wirksamen Schutz einfach nicht gibt, dass alle bekannten Mittel zur Prophylaxe zwar oftmals heftige Nebenwirkungen zeigten, man aber trotz einer Einnahme nicht sicher sein könne, ob man nicht doch noch infiziert werde.
Die Ärzte am heimischen Tropeninstitut hätten mir nach meiner Entscheidung, unter diesen Umständen ganz auf die Einnahme von Medikamenten zu verzichten, wahrscheinich am liebsten meinen Pass entzogen, hier vor Ort sahen die Menschen das natürlich wiederum viel gelassener: „Dir wird nichts passieren, in unserer Gegend hat es schon seit Jahren keine Fälle von Malaria mehr gegeben.“ Nun gut.

„So, nun schau genau hin!“
Angel stand mit seiner Machete unter einer Pflanze, die sich schon kurz über dem Boden in viele einzelne Stränge verzweigte, welche eine Ähnlichkeit mit Palmwedeln aufwiesen. Mit einem entschlossenen Hieb trennte er einen dieser dunkelgrünen Stränge durch, worauf sich ein ganzer Schwall Wasser aus der Pflanze ergoss. Reines klares Wasser, das man bedenkenlos trinken konnte, im Gegensatz zu jenen Pfützen, die sich in den Kelchen manch anderer Pflanzen ansammelten und von den Insekten zur Ablage ihrer Larven benutzt wurden.
„Im Regenwald findest du alles, was du zum Leben brauchst, immer genug Nahrung und die beste Medizin gegen jede Krankheit.“
Das wollte ich zwar gerne glauben, aber wie hatten die Menschen denn überhaupt heraus gefunden, welche Früchte und welche Pflanzen aus dieser unermesslichen Vielfalt von Farben, Arten und Formen genießbar waren oder sogar heilende Kräfte besaßen?
„Du musst einfach die Affen beobachten. Alles, was die essen, das können wir auch vertragen.“
Die Affen beobachten – das hätten wir nur zu gerne getan, doch bisher war uns dies nicht gelungen. Gehört hatten wir sie hin und wieder in den Baumkronen, und manchmal konnte auch jemand gerade noch einen ganz kurzen Blick auf einen der ihren werfen, doch wenn die anderen diesem Blick dann folgen wollten, sahen sie höchstens noch eine Bewegung in den Ästen und Zweigen hoch über unseren Köpfen. Wie lange hätte ich im Dschungel bleiben müssen, um in der Lage zu sein, den Affen bei ihrer Nahrungsaufnahme zuzusehen?
Größere Säugetiere gibt es im Dschungel Lateinamerikas nur sehr wenige, anders als etwa in Westafrika kommen Orang-Utans und die meisten der großen Raubkatzen im riesigen Amazonasbecken gar nicht vor.
Ein Puma hielt sich offensichtlich nicht allzu weit von uns entfernt auf, doch den haben wir lediglich gerochen, genauer gesagt seine Reviermarkierungen, deren penetranter Gestank auch die zahlreichen Regengüsse überstanden hatte.

„Da vorne steht übrigens einer jener wandernden Bäume, von denen ich gestern erzählt habe.“
Wir hatten schon etliche merkwürdige Geschichten über die Tiere und Pflanzen des Regenwaldes gehört, aber wandernde Bäume? Der Stamm des Exemplares, vor dem wir nun standen, endete etwa einen Meter über dem Boden und hatte bereits dort unzählige Wurzeln ausgebildet, die sich in weitem Umkreis in den Boden bohrten. Das obere Ende des Baumes war inmitten des Gewirrs über unseren Köpfen gar nicht mehr auszumachen.
„Die Krone versucht die ganze Zeit, möglichst viel Licht zu ergattern. Wenn irgendwo eine Lücke entsteht, weil einer der höheren Bäume abstirbt, dann reckt sie sich nach dieser Lücke. Der untere Teil des Stammes folgt dieser Bewegung und bildet zu dieser Seite dann auch neue Wurzeln aus, während die äußeren Wurzeln auf der anderen Seite irgendwann überflüssig sind und abgestoßen werden. Auf diese Weise verändert der Baum seinen Standort.“
Dass der Überlebenskampf im Dschungel auch für die Pflanzen manchmal wesentlich dramatischer verläuft als das bloße Gerangel um den besten Platz an der Sonne, konnten wir an anderen Bäumen ablesen: Beinahe alle größeren Bäume waren von Rank- oder Schlingpflanzen bevölkert, und nicht alle dieser Parasiten begnügten sich damit, den ungefragten Wirt lediglich als Klettergerüst zu benutzen. Eine besonders tückische Art trieb kleine Stachel in den Wirt, die sich dann nach und nach zu armdicken Speeren entwickelten. Die um den Baum geschlungenen Äste des Parasiten konnten ohne weiteres eine Dicke entwickeln, die der eines normalen europäischen Baumes nahe kam. Ich konnte mich nicht daran erinnern, irgend wann zuvor einmal Mitleid mit einer Pflanze gefühlt zu haben, aber beim Anblick dieses zu einem langsamen Tod verurteilten Baumes wäre ich am Liebsten mit Angels Machete auf den Parasiten losgegangen.
„Die Pflanze ist alleine nicht in der Lage, Wurzeln und einen stabilen Stamm zu entwickeln, um weit genug nach oben zu wachsen. Sie saugt ihren Wirt von innen aus und erstickt ihn von außen. Ein Baum, der von dieser Pflanze befallen wird, hat keine Chance, sich zu wehren.“

Normalerweise habe ich einen recht guten Orientierungssinn, doch hier im Dschungel stieß dieser schnell an seine Grenzen: Wenn wir einen der schmalen Trampelpfade für einen kurzen Abstecher zu einer ganz besonderen Pflanze verließen, dann war es Susana oder mir meistens vollkommen unmöglich, den Pfad anschließend ohne Angels Hilfe wieder zu finden. Die Sonne war angesichts des Dickichts über unseren Köpfen und der häufig auftretenden dichten Wolken nur selten auszumachen, außerdem stand sie im Februar am 13. südlichen Breitengrad beinahe senkrecht am Himmel, so dass sie kaum eine Orientierungshilfe bot.
Die Pfade mussten wir uns immer wieder freikämpfen, denn schon nach wenigen Tagen konnten sie bereits wieder so zugewuchert sein, dass sie für unsere europäischen Augen kaum noch auszumachen waren.
Dabei war der Regenwald an der Stelle, die wir kennen gelernt hatten, keineswegs gänzlich unberührt: Von Puerto Maldonado aus, jener Stadt im Grenzland zu Bolivien mit ihren etwa 20.000 Einwohnern waren wir circa eine Stunde lang den Rio Madre de Dios flussaufwärts getuckert. Als das Flusstaxi uns dann am Ufer abgesetzt hatte, mussten wir noch etwa sechs Kilometer in den Wald hinein laufen, um zu jener kleinen Hüttensiedlung zu gelangen, in der wir schließlich Quartier bezogen hatten. Wir waren also durchaus ein ganzes Stück von jeglicher Zivilisation entfernt, doch die Siedlung konnte bis zu zwölf Dschungeltouristen aufnehmen und wurde das ganze Jahr hindurch besucht. Circa zehn Personen hielten sich dauerhaft dort auf, um die Hütten gegen die beständigen Angriffe des Waldes zu verteidigen und für das leibliche Wohl der Besucher zu sorgen. Bei einer unserer Wanderungen stießen wir außerdem auf die Behausung von Paranusssammlern, die wie wir mit einem Boot von Puerto Maldonado aus gekommen waren, um dann etliche Wochen im Regenwald zu verbringen. Ihre Behausung war im Grunde nur eine einfache Holzkonstruktion ohne jede Seitenwände, die lediglich einen kleinen Schutz vor den häufigen Regenfällen bieten konnte. Die Arbeit dieser Männer stellte ich mir extrem mühsam vor, denn bei der grandiosen Artenvielfalt im Regenwald findet man ein zweites Exemplar eines einmal entdeckten Baumes oft erst viele Kilometer weiter.
Trotzdem der Wald rund um die Siedlung also kontinuierlich von Menschen genutzt wurde, konnten wir an einigen Stellen einen guten Eindruck von den Kräften der Natur bekommen: Eine aufgegebene Hütte etwa wird beinahe sofort von Termiten befallen und zerstört, der frei gewordene Platz anschließend umgehend vom Dschungel zurück erobert. Das ständig feuchtheiße Klima bietet auch für unzählige Bodeninsekten und andere Reduzenten ideale Lebensbedingungen, so dass abgestorbene Biomasse in Windeseile zu neuem, fruchtbaren Boden verarbeitet wird.
Der neue Boden wird dringend benötigt, denn unter dieser sich ständig erneuernden Schicht ist der Boden im Regenwald vollkommen unfruchtbar. Auf der Rückfahrt nach Puerto Maldonado konnten wir an einigen Stellen, an denen ein Teil der Uferböschung in den Fluss gerutscht war, die dichte Lehmschicht unter dem Humus erkennen. Da diese keinerlei Nährstoffe enthält, können selbst die allergrößten der Urwaldriesen keine tiefen Wurzeln entwickeln. Um genügend Nahrung zu finden und Stabilität zu entwickeln, müssen sie stattdessen versuchen, ihre Wurzeln über eine möglichst große Fläche zu verteilen, wobei der Konkurrenzkampf mit anderen Pflanzen natürlich ebenso groß ist wie beim Kampf um das Sonnenlicht.
Durch ihre ständige Erneuerung bildet die gesamte Biomasse des Regenwaldes ein in sich geschlossenes System, das theoretisch sogar auf einem Betonsockel stehen könnte. Die Unfruchtbarkeit des Boden darunter erklärt auch, warum alle Versuche, abgeholzte Urwaldflächen als Acker- oder Weideland zu nutzen, zum Scheitern verurteilt waren und sind.
Zurück in Puerto Maldonado meldeten meine Organe und große Teile meiner Haut, dass sie mir den Ausflug in die unbekannte Welt ernstlich übel nahmen. Die verschiedenen Formen von Ausschlägen und Stichen zeigten dabei ebenfalls eine mir völlig neue Artenvielfalt und sollten mich noch einige Zeit beschäftigen. Trotzdem habe ich die Tage im Regenwald niemals bereut.
 
E

ElsaLaska

Gast
Lieber axel!

Ein Reisebericht ganz nach meinem Geschmack! Unterhaltsam geschrieben, interessante Menschen, und die Details spannend rübergebracht, ohne dass man sich allzu belehrt fühlt und trotzdem das Gefühl hat, man sei dabeigewesen und wisse jetzt ein bisschen mehr über diese fremde Welt.
Klasse!
Den Knoblauchbaum hätte ich auch gerne probiert und die Piranhas, die nur aus Gräten zu bestehen scheinen, haben wohl Verwandte im Mittelmeer:) (Die waren sowieso superinteressant!)
Danke und lieben Gruss
Elsa
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Axel,

aus Gründen, die ich mir selbst nicht richtig zu erklären weiß, pflege ich um Reisebeschreibungen stets einen Bogen zu machen. Diesen Bericht - das gebe ich zu - habe ich nur angeklickt, weil als Autor "Axel" drüber stand. Doch ich habe diesen "Klick" nicht bereut und nicht nur bis zur letzten Zeile voller Spannung gelesen, sondern auch echt bedauert, dass schon Schluss war. Ich habe das Gefühl, dieses Genre liegt dir ganz besonders. Gratulation!
Und wenn ich im Moment das annehmen darf, durch mein fast permanentes Ignorieren von Reiseberichten mit Sicherheit viel verpasst zu haben, dann muss ich das wohl deinem spannend, unterhaltsam u n d auch lehrreich geschriebenem Bericht aus dem Peruanischen Regenwald zuschreiben. Danke.

Gruß Ralph

PS.: Ein einziges Wort missfiel mir: "Trotzdem sie so zahlreich nach den dargebotenen Ködern schnappten..."
Hier hätte ich "Obwohl" an den Anfang gesetzt. Ich weiß - Krümelkackerei. Aber nach Krümeln kann man nur dort Suchen, wo es keine Brocken gibt.
 

axel

Mitglied
Liebe Elsa, lieber Ralph, und liebe/r(?) Rainbow Warrior.
Nach so viel Lob ist es wohl endlich mal Zeit für ein kräftiges Dankeschön an euch drei. Ich habe mich sehr gefreut und musste von der Zimmerdecke erst einmal wieder auf den Schreibtischstuhl zurück kommen.
In den ersten Tagen ist mein Bericht hier kaum beachtet worden, und ich dachte schon: Das interessiert niemanden. Jetzt, da ich weiß, dass dem nicht so ist, sollte ich mich vielleicht dazu aufraffen, auch den Teil über die Anden noch zu schreiben. Das wird aber (wie immer bei mir) ein Weilchen dauern. Bis dahin schöne Grüße,
axel
 



 
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