Requiem für einen Freund

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Das muss man sich mal vorstellen: da passiert so was und du hast keinen Freund mehr.
Und Chris war mein Freund, Mann, mein einziger im Grunde.
Aber wie gesagt... das war einmal. Weil jemand zu blöde war, die Straße zu überqueren.
Tut mir leid, Homies, aber anders kann man das einfach nicht ausdrücken.
Ein halbes Jahr ist es her, gestern wollte ich gucken, ob es ihm besser geht. Chris hängt immer noch den ganzen Tag vor dem PC. Seine Mutter hat ihm so einen Gummiball gekauft, auf dem er sitzen muss, damit er keinen schiefen Rücken kriegt. Das sieht sowas von bescheuert aus, Alter - Chris mit einem grünen Gummiball unterm Arsch... Und wenn man ihn anspricht, null Reaktion. Er glotzt nur auf den Monitor. Und hört auf seine Mutti. Und nicht mal was Anständiges auf dem Schirm, was er da hat. Mindcraft. So ein Weicheierspiel. Früher haben wir zusammen ganze Nächte lang gezockt. Aber was Vernünftiges, nicht so einen lahmen Scheiß.
Vergesst ihn - vergesst Chris, Freunde. Wie es weitergehen soll, weiß ich selber noch nicht. Ohne Chris. Mit Törnen ist jedenfalls erstmal vorbei. Müsst ihr eine andere Quelle auftun. Ja, ja... ich tu mir selbst am meisten leid, das könnt ihr mir glauben. Kann es aber eben nun mal nicht ändern.
Ich und Chris kennen uns seit dem Kindergarten, das muss man sich reintun. Und jede Menge Pläne hatten wir. Und dann muss sowas passieren, das ist einfach nicht fair.
Chris war immer der Coolste, schon im Kindergarten, ohne Scheiß. Wenn er Lego spielen wollte, musste er das all den Quarkbacken nicht erst groß erklären. Die sind einfach abgehauen - und tschüss. Hatten Respekt. Und sein Vater, das war der Oberhammer, sein Vater hat die F- Jugend trainiert. Hatte eigentlich nie Zeit, weil er so ein hohes Tier bei der Value-Tec ist, aber dienstags um drei hat er sich die verdammte Zeit einfach genommen. Kam er immer akkurat mit dem BMW vorgefahren. Geil! So einen Vater hätte wohl jeder gern gehabt. Und wenn Chris keine Lust hatte, sich auf dem Feld abzuhetzen, war er natürlich unser Torwart. Bayern- Fan, von Kopf bis Fuß, logo. Ich hab rechtzeitig die Zeichen erkannt und bin sein Freund geworden, na und... Sein bester Freund. Sein einziger sozusagen. Geil war auch, wie er in der Grundschule unserem Streber den Stein an den Kopf gehauen hat. Einen kartoffelgroßen Ömmel. Dong! Der Schulhof, grad frisch renoviert, mit Abenteuerecke, weil Beton ja langweilig ist, haben die sich gedacht. Genau! - und Chris haut als erste Amtshandlung Sven Pielau den Stein an die Quadratomme. Der hat nie wieder den Lauten gemacht, sag ich euch. Mündliche Leistung: Null. In allen Fächern. Wenn einer was zu sagen hatte, dann war das Chris, und niemand sonst, das war damit klargestellt. Nach der Grundschule hatte er die Lizenz fürs Gymmi, ich sollte eigentlich Realschule machen. Nichts zu machen. Ohne Chris, niemals. Hab dann meine Eltern so lange bequatscht, bis ich auf die gleiche Schule gehen durfte wie er. Das einzig Blöde war, dass die Eltern von Chris lang und schmutzig Geld hatten für Nachhilfe, und meine natürlich nicht. Ich musste alles alleine schaffen. Aber ich saß ja meistens neben Chris. Außer bei der Schmalbruch, die könnte ich noch heute dafür in ihren Kreidearsch treten. Hat mich in Franze ganz nach vorne, neben Kimberly Thiele gesetzt. Kimberly Thiele, auch so ein Kapitel. Vier Geschwister hatte die, und immer Klamotten von KiK auf dem Leib. In der Achten ist sie zum Glück sitzengeblieben und hat die Schule gewechselt. Das hieß aber nicht, dass ich wieder neben Chris sitzen durfte.
Das Chris dann ein bisschen von der Erfolgsspur abgewichen ist, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass seine Mutter zu viel Druck auf ihn gemacht hat. Gymmi, Fußball, Klavierunterricht, was-weiß-ich. Das war alles Pflichtprogramm. Wenn Chris irgendwo eine Vier geschrieben hat,
standen sofort Nachhilfe- Fachleute bei denen auf der Matte. Vom Feinsten. Der Junge hatte keinen Nachmittag Zeit zum Abhängen. Einmal drohten ihm seine Eltern sogar mit Internat. Na ja, jedenfalls hatten er und ich zu der Zeit schon angefangen zu kiffen. Ich hatte das Zeug besorgt, wollte es eigentlich nur mal locker ausprobieren. Richtig coole Leute sagen, dass sie es für weniger gefährlich halten als Alkohol. Das sehe ich genauso. Aber für jemand in einer Situation, in der Chris war, mit seinen Eltern und so, war es wie ein Ventil zum Druck ablassen. Kann man sich vorstellen, glaube ich. Und vielleicht war es gut, dass es Dope war und kein Alk. Sonst wäre Chris zum Alkoholiker geworden. Aber von Dope wird niemand richtig süchtig. Höchstens völlig verrückt nach dem Zeug, wie Chris es eine Zeitlang war. Auch, weil es was Verbotenes war. Alkohol konnte sich ja jeder besorgen, das war langweilig. Seine Eltern hätten das natürlich ganz anders gesehen, wenn sie was gemerkt hätten. Nach der Zehnten war für mich Schluss auf dem Gymmi, aber Chris schaffte den Sprung in die Elfte. Damit seine Eltern nichts merkten, und er nicht dauernd seine Nachmittage mit Nachhilfe verbringen musste, achtete er sogar auf seine Zensuren. Und Fußball musste er auch nicht mehr spielen. Also hatte er jetzt wenigstens manchmal Zeit. Wir hingen dann meistens auf dem Supermarktparkplatz vom NP ab, wenn da zu war. Da gab es eine Ecke mit Paletten mit gepresstem Altpapier, die waren eine geile Unterlage zum Törnen und sonstwas. Überdacht. Niemand konnte sich da unbemerkt nähern. Chris hatte ziemlichen Schiss vor einem Mädchen, mit dem er in der Zehnten auf einer Klassenfahrt rumgemacht hatte. Die lief ihm seitdem hinterher. Wenn er bekifft war, kriegte er diesen Verfolgungswahn und sah überall Larissa auftauchen. Wenn ich ihn ärgern wollte, brauchte ich nur diesen Namen zu sagen und ihm brach der Schweiß aus: Larissa. Ihr Vater war Lehrer bei uns am Gymmi und Chris hatte Angst vor ihrer Rache, weil er seine Zeit lieber mit mir und mit einem Pfeifchen verbrachte als mit ihr. Außer Larissa waren immer noch ein paar andere Tussis scharf auf Chris, und das mit dem Kiffen hatte sich auch schon rumgesprochen. Da konnte man schon ein bisschen nervös werden. Und dann verriet mir Lars Winterfeld, wie man Dope von Holland einschmuggelt, ohne sich in Gefahr zu bringen. Chris und ich hatten beide noch unser Konfirmationsgeld und beschlossen umgehend, dass wir die Sache ausprobieren müssten. Oh Mann, unser erstes Wochenende in Amsterdam war absolut krass, sag ich nur. Das waren ganz neue Perspektiven. Wir beschlossen, so bald wie möglich dahin auszuwandern. Und die Sache mit unserem ersten Import klappte auch reibungslos.
Eins fügte sich zum anderen und die Sache begab sich just zu der Zeit, als eine Oma von Chris das Zeitliche segnete. Die hatte in einem Haus gewohnt, dass nur ungefähr einen halben Kilometer vom Gymmi entfernt war, das stand dann leer. Und verkaufen konnte man es nicht so einfach, weil es ziemlich runtergekommen war. Chris besorgte sich ohne Wissen seiner Eltern einen Hausschlüssel und damit hatten wir von einem Tag auf den anderen unverhoffte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Es fing mit ein paar Parties an, die abgingen. Bei Kerzenlicht, weil es keinen Strom gab, und außerdem durften die Nachbarn nichts mitkriegen. Wasser war auch abgestellt, wenn jemand pinkeln musste, musste er oder sie das im Garten tun. Unauffällig, damit niemand was merkt. Irgendjemand schlug vor, ein paar Pflanzen im Wohnzimmer zu ziehen, aber die Idee war natürlich ziemlich daneben. Stattdessen importierten Chris und ich eifrig aus den Niederlanden. Und verkauften, was wir nicht selbst aufbrauchten. Aber nur Dope, andere Sachen aus Prinzip nicht. Haben wir zwar nicht verachtet, aber auch nicht verkauft.
Zu den Parties kamen nur geladenen Gäste, von denen wir wussten, dass sie sich nicht krass danebenbenehmen. Was die sich reingetan haben, darüber hatten wir keine Kontrolle. Das war zu der Zeit, als jeder den anderen übertreffen wollte. Wenn man genau hinsah, konnte man Pillen sehen und irgendwelches Pulver, über dem sie in Omas ehemaliger Küche die Köpfe zusammensteckten. Einmal ist auch was passiert: Malte Pawlow, ein Kumpel von Chris. Keiner wusste, wie lange er mit vollgepisster Hose im Badezimmer gelegen hatte. Der hatte nicht gepennt, der war richtig weg gewesen. Mit verdrehten Augen und blau im Gesicht. Es hat eine Weile gedauert, ehe das jemand gemerkt hat. Keiner von uns hat ihn wach gekriegt. Chris kriegte voll den Koller und Schiss, dass
der uns an Ort und Stelle verrecken würde.
Wir haben seinen Kopf in die Regentonne gesteckt, den von Malte, mein ich, immer und immer wieder, bis er schließlich kotzen musste. Das war ein deutlicher Lebensbeweis. Es ging zwar schon vorher das Gerücht um, dass Malte Pawlow ein Pilzfreak wäre, aber was genau ihn auf den üblen Trip gebracht hatte, auf dem er an diesem Abend war, das hat er uns nie verraten. Als wir nicht wussten, ob wir ihn durchkriegen würden oder nicht, hatte Saskia die Idee, ihn mit dem Kopf in die Babyklappe vom Krankenhaus zu stecken, damit die sich dort um ihn kümmern. Aber dazu kam es dann zum Glück doch nicht.
Und dann die Sache mit Hilfiger- Laura, das wäre beinahe das Ende gewesen.
Eigentlich verkehrte sie in anderen Kreisen, aber irgendwas brachte sie ein bisschen schräg drauf und sie hörte von geilem Törnen im Haus und so. Also, was soll ich sagen, eines Tages stand sie vor der Tür und wollte rein, und für ein gutaussehendes Mädel wie Hollister- Laura ist es auf kurz oder lang kein ernsthaftes Problem, irgendwo reinzukommen. Obwohl einige Leute aus der Freak- Liga ziemlich angepisst waren von ihr, und alles von Anfang an danach aussah, als könnte das Ärger geben. Diese Laura wusste genau, das derjenige, an den sie sich halten musste, niemand anders sein konnte als Chris. Pjotr hatte sie nur benutzt, um sich einzuschleusen zu lassen, danach war der abgemeldet, der arme Trottel. Chris laufen zwar genug Mädchen hinterher, aber daran, dass Hilfiger- Laura wirklich scharf auf ihn war, habe ich von Anfang an nicht geglaubt. Und er nicht an meine Warnungen. Sowas wie Laura fehlte noch auf seiner Tussi- Abschuss- Liste. Ein eigenes Pferd hatte die. Wohnte nicht etwa im Neubaugebiet, sondern in einer Villa mit Springbrunnen im Vorgarten. Ihr Vater war Zahnarzt, und ihre Mutter dauernd mit ihren Aquarellzeichnungen in der Zeitung, die irgendwo ausgestellt waren. Damit, dass ER Mal derjenige sein könnte, der abgeschossen wird, hatte Chrissi wohl nicht gerechnet. Aber genau das passierte dann natürlich. Auf eine echt unschöne Art. Mit Kiffen oder Pillen oder so Hippiekram gab sich Laura von Anfang an nicht zufrieden. Laura war Marke nobel und teuer, und ihre Droge, das wusste sie, bevor sie jemals damit in Kontakt gekommen war, war Kokain. Nur Koks. Chrissie musste also Koks ranschaffen. Und er tat so, als wenn das eine seiner leichtesten Übungen wäre: Koks, na klar, dann koksen wir eben ab heute ein bisschen... Und wirklich ist es kein Problem an Koks ranzukommen, wenn du die richtigen Kontakte hast. Da gab es diesen Rainer in Hamburg...
Und Sven hatte zu der Zeit ja auch schon seinen Führerschein. Ich kann mich noch erinnern, wie ich von dem Zeug Kopfschmerzen gekriegt hatte beim ersten Mal. Na ja, und wir brauchten eine Weile, um damit umgehen zu können. Aber dann war es geil. Laura fand das auch und Chris war zufrieden. Wir haben voll bescheuerte Sachen gemacht auf Koks. Meistens sind wir mit Svens Auto in der Gegend rumgefahren und haben uns ganz groß gefühlt. Und irgendwie standen wir dann eines Nachts zufällig am Flughafen, am anderen Ende der Stadt, und einer von uns hat gesagt: lass uns da reingehen. Es ist kein richtig großer Flughafen, muss man wissen, sonst wäre die Sache wohl noch böser ausgegangen. Erst haben wir oben auf der Aussichtsplattform ein paar Maschinen beim Starten und Landen zugeguckt, und als uns das zu blöde wurde, sind wir durch die Läden gebummelt und schließlich in der Halle gelandet, in der man eincheckt. Sven hatte seit einiger Zeit immer eine Schreckschusspistole in seiner Jackentasche, dass wussten wir, und natürlich war es Laura, die darauf wettete, dass sich keiner von uns trauen würde, an so einem Ort einen Schuss abzufeuern. Dass das dann auf keiner Kamera drauf war, und niemand von uns ausgesagt hat, wer von uns Vieren genau es doch gemacht hat, hat uns vielleicht den Arsch gerettet, fest stand bloß: das Ding gehörte Sven. Und danach war erstmal eine Weile Ruhe mit allem. Derjenige, der am meisten Ärger gekriegt hat, war Chris, wette ich. Seine Eltern haben ihm den Umgang mit Sven verboten, und Laura war auch weg aus der Clique, was ich keineswegs bedauert habe. Im Haus hingen wir zu der Zeit auch nicht mehr rum. Gegen mich hatten Chris`s Eltern nichts, weil sie mich von klein auf kannten. Ich durfte weiterhin mit ihm in Kontakt bleiben und tat das auch. Chris machte kurze Zeit später seinen Führerschein und ein gar nicht mal so schlechtes Abitur, dann entschied er sich für ein FSJ, was seine Eltern zwar nicht gern sahen, aber duldeten, weil er nicht sofort einen Studienplatz bekam. Zu dieser Zeit hatten wir nochmal die Möglichkeit zu ziemlich krausen Blödsinn, aber außer ab und zu oben im Steinbruch zu kiffen, machten wir eigentlich nicht groß was. Chris kriegte ein Auto von seinen Eltern, um damit in die Stadt zu seinem Job zu fahren. Er gab Erste- Hilfe- Kurse,
und beim Blutspenden musste er auch manchmal helfen, das war sein Job, dazu musste er immer früh aufstehen.
Und dann, im Herbst, als es draußen noch dunkel war um die Zeit als er losfuhr, da passierte es: So ein Idiot stieg im Bahnhof aus dem Zug und wollte gerade die Landstraße zur Fabrik überqueren, in der er arbeitete, und lief Chris genau vor die Karre. Ich habe den Abdruck vom Kopf von dem Typen in der Windschutzscheibe von Chris' Auto gesehen. Chris' s ehemaligem Auto.
Er ist da nie wieder eingestiegen. An der Stelle darf man nur siebzig fahren.
 

onivido

Mitglied
Ich lebe ziemlich abgeschottet von den neuen Errungenschaften der deutschen Sprache. Dass mir die Geschichte dennoch gefallen hat, ist eine ueberragende Leistung des Autors.
Gruesse///Onivido
 

Hagen

Mitglied
Hallo Mama Miracoli,
schön, dass Du wieder da bist, nach so langer Zeit.

Ich muss sagen, Deine Schreibe hat sich verändert; - um nicht zu sagen verbessert!
Ich hoffe, Du machst weiter so!
Deine Geschichte hebt sich wohltuend aus dem 'Einheitsbrei' der Geschichten heraus, bei denen man den Autoren anmerkt, dass sie die eine oder andere 'Autorenschule' besucht haben.

Wir lesen uns!

Herzlichst
yours Hagen


_________________
nichts endet wie geplant!
 

Ji Rina

Mitglied
Welch ein Schreibfluss! Bilder über Bilder!
Müsste ich irgendwas kritisieren, würde ich sagen, einige Anekdoten weniger hätten es auch getan, da so flüssig und gut geschrieben.
 
onivido; Hagen; Ji Rina...
Vielen Dank für Euer Interesse und die wohlmeinende Kritik. Diese positive Resonanz tut gut!
Tatsächlich 'liegt' diese Geschichte schon ein Weilchen auf meiner Festplatte, aber nach nochmaligem Lesen haben ich mich entschlossen, sie hier einzustellen. Ich fand den Stil auch recht flüssig, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, die Jugendsprache von heute 100- prozentig getroffen zu haben. :)

Gruß,
Mama Miracoli
 



 
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