Respice finem – Die Schulden des Dr. Laundry

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Sven Fiedel

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Ich hatte mich sehr wohl darüber verwundert mit welcher Selbstverständlichkeit Doktor Laundry in den letzten Tagen, immer zur Mittagszeit, an unserer Haustür schellte und dann unaufgefordert und wortlos in den Salon eilte, wo er sich mit einem lauten Stöhnen auf den Sessel nahe dem Kamin fallen ließ.
Dort pflegte er dann zu sitzen und in regelmäßigen Abständen auf so erbärmliche Art zu Seufzen und zu Stöhnen, dass meine Gattin am zweiten Tage in dem ihr eigenen Zynismus vermerkte, dass man sich mit einem stöhnenden Doktor Laundry im Salon zumindest Geister und andere Nachtgestalten vom Hals halten könne, da diese ja denken müssten, unsere Haus sei schon vergeben – und zwar an einen ganz besonders unangenehmen Spukgesellen.
Tatsächlich war es so, dass unser seit kurzem so seltsamer Freund nicht nur die bösen, sondern beinahe auch die guten Geister aus unserem Haus vertrieben hätte, nachdem er Erika, so hieß unser vorzügliches Mädchen aus der Schweiz, immer wieder aus dem Salon schimpfte, nur weil sie ihm etwas zu trinken anbieten wollte. Schon als er sich das erste Mal in dieser Manier gebärdete – heulend und stöhnend – eilte ich sofort zu unserem Hausarzt und langjährigen Freund, um ihm gut zuzusprechen. Ich dachte es müsste etwas ganz Fürchterliches geschehen sein, wenn ein Charles Laundry sich dermaßen gehen ließe.
Er sah fahl und abgeschlagen aus, wie er so auf dem Sessel hing. Auch schien er kaum Notiz davon zu nehmen, dass ich den Raum betreten hatte. Neben ihm stand unser Hausmädchen und zeterte. Es sei sogar unter der Würde einer einfachen Angestellten, sich für eine angebotene Freundlichkeit auch noch auf das Wüsteste beleidigen zu lassen, schimpfte sie gerade. Dann wandte sie sich an mich und beklagte, der Doktor habe ihr zugerufen, sie solle sich doch mit ihrem Pferdegesicht und dem garstigen Brandy zum Teufel scheren. Ich musste schmunzeln. Erikas Physiognomie wies auch ohne viel Phantasie tatsächlich pferdische Züge auf. Da Laundry aber nicht nur unsere treue Angestellte, sondern auch meinen vorzüglichen Weinbrand – an dem er übrigens in all den Jahren unserer Freundschaft nie etwas auszusetzen hatte – beleidigte, entschloss ich mich, diesem Schauspiel ein Ende zu bereiten. „Charles, was bedrückt Sie?“, fragte ich.
„Ach mein guter Julius, es ist tragisch“, antwortete er und verfiel dann in ein langgezogenes Jammern, sodass ich mich wunderte, warum er dabei nicht blau anlief. Ich redete weiter auf ihn ein, doch keines meiner Worte schien noch zu ihm durchzudringen. Also ließ ich ihn in seiner Schwermut sitzen und schloss leise die Tür hinter mir. Meine Frau bat ich um Verständnis für den heulenden Doktor. Er mache gerade eine schwere Phase durch, würde sich aber sicher bald beruhigen. Wir alle atmeten auf, als unser Gast am Abend fluchtartig aus dem Haus stürmte. Niemand konnte ja ahnen, dass das erst der Anfang gewesen sein sollte.

Nun ging es schon auf den vierten Tag so. Gegen Mittag wurde ungeduldig an der Hausklingel gerissen, ein völlig derangierter Charles Laundry stürmte in das Wohnzimmer und besetzte den großen Ohrensessel, um dort in den nächsten drei, vier Stunden aufs erbärmlichste zu winseln. Meine Frau und ich waren inzwischen am Ende unsere Kräfte. So beschloss ich also mit Laundrys Ehefrau zu sprechen. Einerseits, um bei ihr vielleicht den Grund für sein Verhalten zu erfahren, andererseits wusste ich auch, dass Misses Laundry einen beachtlichen Einfluss auf den ihr Angetrauten auszuüben vermochte. Wenn überhaupt jemand, dann könnte sie helfen.
Die Laundrys bewohnten ein schmuckes Anwesen außerhalb der Stadtgrenzen. Das großzügige Landhaus lag an der Mündung einer breiten Zufahrt, die zu beiden Seiten von alten Platanen bewachsen war. Vor dem Hauseingang stand, ganz in schwarz gekleidet, eine kleine Gruppe beisammen. Mich beschlich ein schlimmer Gedanke: Sollte etwa ein Trauerfall in der Familie der Grund für das auffällige Verhalten des Doktors sein? An den Leuten vorbei trat ich in das großzügige Entree und wurde sofort von einem Angestellter empfangen, der mich mit gesenkter Stimme nach meinem Belang fragte. Auf meine Gegenfrage, ob ich wohl die Dame des Hauses sprechen könnte, sagte man mir, das sei derzeit nicht möglich. Misses Laundry sei vom Tod ihres Mannes doch noch sehr mitgenommen und bitte um Verständnis, dass sie zurzeit persönlich keine Beileidsbekundungen entgegennehmen könne. Allerdings dürfe ich mich gerne in dem ausliegenden Kondolenzbuch mit ein paar Zeilen an die Angehörigen wenden. Die Worte trafen mich, jedes wie ein Schlag vor die Brust.
„Jessesmariaundjosef!“, stieß ich hervor und bekreuzigte mich hektisch. Als der Concierge merkte, wie sehr er mich mit der Nachricht von Mister Laundrys Tod überrascht hatte, entschuldigte er sich und erzählte, der Doktor sei vor vier Tagen auf dem Weg zu einem Patienten von einer Droschke überrollt worden. Ein mehr als tragischer Unfall.
„Aber was reden Sie bloß für einen Unsinn“, fuhr ich ihn an, „gerade habe ich den Doktor noch gesehen und er erfreute sich allerbester Gesundheit.“ In meiner Rede war ich wohl laut geworden. Die schwarz gekleideten Gäste sahen zu uns herüber und tuschelten hinter vorgehaltenen Händen.
„Sir, ich darf Sie dann bitten zu gehen“, meinte der Angestellte in einem Tonfall, der ihm mir gegenüber sicher nicht zustand. Ich war schließlich nicht verrückt, oder doch? Ohne mich zu verabschieden trat ich, mein Kopf voller verstörender Gedanken, den Heimweg an.
Welches böse Spiel wurde hier mit mir getrieben? Warum sollte der Doktor seinen eigenen Tod inszenieren? Zwischen all die Fragen mischte sich aber auch der Zweifel. Wenn es denn wahr wäre, wenn der Doktor wirklich unter einer Droschke gestorben wäre? Ich hätte das gerne geglaubt – die Londoner Kutscher gaben nicht viel auf Fußgänger – gleichzeitig wusste ich aber, dass Charles Laundry eben noch in meinem Salon gesessen und sich lautstark mit Erika gestritten hatte.
Um sie nicht in die gleiche Verwirrung zu stürzen, die mich nunmehr ganz erfasst hatte, beschloss ich meiner Frau und dem Personal zunächst nichts von der Merkwürdigkeit zu berichten, die ich gerade erfahren hatte. Stattdessen ging ich, sobald ich wieder zu Hause angekommen war, in den Salon, wo Charles an seinem angestammten Platz saß und weiter aufs leidvollste stöhnte. Die Nervosität war ganz Herr meines Körpers und ein schweres Zittern packte mich.
„Alter Freund“, begann ich stockend, „gerade ist mir zugetragen worden, Sie seien bereits vor vier Tagen gestorben und nun, verstehen Sie mich nicht falsch, nun wundere ich mich doch, dass Sie seitdem hier in meinem Wohnzimmer sitzen.“ Der Doktor hielt kurz inne. Ob ich denn nicht gewusst hätte, dass er tatsächlich von dieser vermaledeiten Kutsche überrollt worden sei, fragte er erstaunt. Ich verneinte.
„Dann entschuldigen Sie das, ich hätte es wohl erwähnen sollen!“
„Das hätten Sie wirklich“, erwiderte ich. Für eine Weile hing jeder von uns seinen Gedanken nach.
„Und jetzt?“, brach ich schließlich das Schweigen, „behaupten Sie jetzt allen Ernstes ein Gespenst zu sein?“
„Nun, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht, darüber sind wir uns sicher einig“, sagte der Doktor bedächtig und ergänzte, „wenn Sie mich also ein Gespenst nennen wollen, dann bitte. Ich bevorzuge meinen Zustand als eine temporäre physikalische Ungereimtheit aufzufassen.“ Das war mir ein Stichwort. Um uns beiden mit den Mitteln der Physik zu beweisen, dass er nicht tot, sondern einzig sehr, sehr wunderlich sei, sprang ich auf, um ihn am Revers zu fassen und kräftig durchzuschütteln. Mit nur einem Satz war ich bei ihm und – packte ins Leere. Es war nicht zu glauben, beinahe bis zum Schultergelenk steckte ich in einem dicken Gespenst und konnte doch nur das Leder der Rückenlehne tasten.
„Seien Sie doch so liebenswürdig und nehmen Sie ihren Arm aus meinem, ähm, Körper“, bat mich Laundry mit ruhiger Stimme, „es kitzelt und außerdem irritiert mich der Anblick. Erst gar nicht auszudenken, wenn jetzt jemand hereinkäme und uns so sehen würde.“ Dann stieß er wieder ein langgezogenes Heulen aus. Mir wurde schwindelig. Auch muss ich plötzlich ziemlich blass geworden sein, denn Charles, der Doktor, setzte sein ernstes Doktorengesicht auf und riet mir dringend, die Beine hochzulegen und gehörig tief durchzuatmen. So wie ich aussähe, würde er einen leichten Schock vermuten. Schwerfällig folgte ich seinem ärztlichen Rat und nach einigen Minuten ging es mir durchaus besser. Unterdessen hatte Charles, das Gespenst, abwechselnd gestöhnt, geheult und sich bitterlich über die ganzen Trauerklöße beklagt, die derzeit sein Landhaus bevölkerten.
„Dieses impertinente Gesindel durchschwärmt die Gemächer und führt sich gerade auf, als würde alles ihm gehören. Krethi sitzt auf meinem Lieblingssessel, Plethi raucht meinen ägyptischen Tabak, es ist nicht mit anzusehen“, so ging seine Beschwerde. Ich konnte ihn nur ungläubig anstarren.
Ob er nicht weiterhin etwas in meinem Haus spuken könne, fragte er dann, es sei so angenehm ruhig hier. Sprachlos kaute ich meinen ausgetrockneten Mund. „Aber Sie sind gar nicht, na ja, durchsichtig“, sagte ich dann gleich das Erste, was mir in den Sinn kam.
Er entschuldigte sich. Schließlich sei er zum ersten Mal in diesem Zustand und wüsste nicht recht, wie genau er sich zu verhalten oder auszusehen habe. Seines Wissens – und dieses Wissen berufe sich einzig auf ein paar angelesene Schauergeschichten – würden Geister gemeinhin seufzend oder polternd ihre Tage und Nächte fristen, genaueres entzöge sich seiner Kenntnis. So schwatzte er eine Zeit lang weiter vor sich hin und vergaß darüber sogar das Stöhnen. Ich hatte mich wieder einigermaßen gefangen und erwiderte, dass ich ihm mit Verlaub sagen müsse, er sei ein ziemlich schäbiger Hausgeist. Zuallererst, das wisse doch jedes Kind, müsse er nachts spuken und nicht am hellsten Tage, zweitens säßen Gespenster auch nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Chaiselongue, sondern glitten kettenklirrend die Wände entlang und drittens schellten Gespenster nicht an Haustüren. Niemals würden sie so etwas tun. Niemals. Der Geisterarzt nörgelte, dass Gespenst schließlich kein Ausbildungsberuf sei. Vielleicht gäbe es ja gar kein falsch und richtig und er, er sei eben das Salongespenst, das an der Haustür klingelt. „Und wie lange soll das so weitergehen?“, fragte ich vorsichtig.
„Wer weiß das schon“, war die versonnene Antwort. „Wird es wohl einen Ausweg geben, mein lieber Julius?“

Sehr früh am nächsten Morgen machte ich mich auf zum King’s Cross, wo Charlotte Sanctury in einer mondänen Stadtwohnung residierte. Madame Sanctury war eine kugelrunde Dame gehobenen Alters, die, wie es hieß, den besten Kontakt zu allen Wesen der Zwischenwelt pflegte. Schon im Eingangsbereich der Wohnung hing ein dichter Nebel. In den Gesellschaften der Stadt war Charlotte Sanctury nämlich dafür berühmt, dass sie eine genauso passionierte wie ambitionierte Pfeifenraucherin war. Die Türen in der Wohnung waren ausgehängt und durch schwere Brokatvorhänge ersetzt worden. Hinter einem dieser Vorhänge trat Madame nun hervor. Beiläufig legte sie einen Schrumpfkopf zur Seite, um mir die Hand zum Kuss zu reichen. Sie trug einen purpurnen Kimono, der sie bei weitem noch dicker und unförmiger erscheinen ließ, als es unbedingt nötig gewesen wäre.
„Madame, Sie sehen wie immer fantastisch aus“, ging es mir leicht über die Zunge, denn Höflichkeit ist einem Gentleman stets höchstes Gebot.
„Julius, Sie Charmeur!“, lachte sie mir entgegen.
„Madame, erlauben Sie, wenn ich gleich zur Sache komme.“ Ich schilderte meinen Fall und so sehr ich mich auch anstrengte die Situation in reichen Worten auszuschmücken, erntete ich nichts als Gleichgültigkeit.
„Tja, Sie haben halt ein Gespenst. Bilden Sie sich bloß nichts darauf ein, mein Bester.“ Ich antwortete, dass ich sehr wohl um mein Problem, nicht aber um eine Lösung wüsste. Sie würde das so leichtfertig dahin sagen: ein Gespenst. Ob sie überhaupt ahnen könnte, was das bedeute. Madame Sanctury zog eine Augenbraue streng nach oben. Sie habe ja selber lange Zeit einen Mitbewohner aus dem Totenreich beherbergt und wisse deshalb sehr wohl, wovon sie spräche.
„Aber mein Gespenst sitzt im Salon und heult das ganze Haus zusammen“, warf ich verzweifelt ein.
Das sei doch völlig normal, beruhigte mich Madame Sanctury. Vielleicht sehne der Geist sich einfach nach etwas freundlicher Gesellschaft. In vielen Herrenhäusern würden Gespenster zum festen Inventar gehören. Man schätze sie dort als kurzweilige Gesprächspartner und ob ihres teilweise hohen Alters auch als erfahrene Ratgeber. Ich gestand, dass ich den Doktor als Gesprächspartner, wie auch als Ratgeber, stets geschätzt hätte, mir aber nicht vorstellen könnte, ihn nach seinem Tod und für alle Ewigkeit in meinem Wohnzimmer rumjammern zu lassen.
„Dann bleibt nur, ihn von seiner Seelenpein zu erlösen.“
„Und wie kann das gehen?“, fragte ich.
„Nun, sie müssen mit ihm reden, ergründen was ihm die ewige Ruhe nimmt. Und dieses Problem sollten sie dann gemeinsam bereinigen.“

Dermaßen beraten fuhr ich also nach Hause und suchte das Gespräch mit dem Doktor. Erst als ich ihn einige Male lautstark zurechtgewiesen hatte, unterließ er endlich sein schauriges Gejammer und blickte mich unleidig an. Ich erzählte also von der Sünde, der Schuld und der Bürde und mit jedem Satz schien Laundry ein Stück tiefer in den Sessel zu sinken. Bedeutungsschwer wog er seinen Gespensterkopf bis er endlich antwortete.
„Gerade vor einer Woche habe ich beim Wetten verloren und hinterlasse meiner lieben Frau jetzt nichts als Schulden. Das macht mich wahnsinnig.“ Um wie viel es sich denn handle, wollte ich wissen. „Es sind bald 3.000 Pfund“, druckste der Doktor, oder besser sein Geist, kleinlaut. Ich musste ob der hohen Summe schlucken, versprach aber zugleich, mich darum zu kümmern und seiner Frau das Geld anzuweisen.
„Sie werden sehen Charles, das macht es wieder gut“, versprach ich, „ich nehme die Last von Ihnen und Sie können jetzt gehen.“ Dann beugte ich mich nach vorne und wartete gespannt, dass der Doktor sich in Luft auflösen sollte oder was auch immer Gespenster gemeinhin zu tun pflegen, wenn ihre Bedrängnis bereinigt ist. Nichts geschah. Stattdessen schlug das Gespenst nur immer wieder ein Bein über das andere, blickte nervös um sich und zog Schnuten.
„Und?“, fragte ich endlich, „spüren Sie etwas? Ist Ihnen nicht gleich viel freier zu Mute oder sind Sie zumindest etwas leichter?“
„Nein, mir ist nur etwas flau im Magen und dass obwohl ich in dem Sinn ja gar keinen Magen mehr habe“, sagte Laundry und versuchte zu rülpsen, was ihm aber nur leidlich gelang.
„Dann lieber Freund, muss da noch etwas sein.“
„Es ist halt so“, setzte der Doktor an. In Gedanken überschlug ich schon einmal schnell meine finanziellen Möglichkeiten, weil ich mit weiteren Geldschulden rechnete. Zur Not müsste ich einige Wertpapiere einlösen, aber das alles war es mir wert.
„Sehen Sie“, fuhr Laundry fort, „es ist doch eine Schande, dass ein Doktor der Medizin und – Sie wissen es mein Freund – auch Doktor der Philosophie, im tumben Matsch der Londoner Innenstadt verrecken musste. Ich nehme mich wirklich nicht übermäßig wichtig, aber so stirbt ein Mann meines Formats einfach nicht.“
Ich war überrascht. „Aber Charles, gerade Sie als Mediziner. Tod ist, wenn man tot ist, das haben Sie doch immer gesagt“, erwiderte ich. Der Doktor reagierte genervt.
„Ach, was ich nicht alles schon gesagt habe, blablabla. Damals wusste ich ja auch noch nicht, wie es sich anfühlt, mit dem Gesicht in einem riesigen Pferdehaufen zu sterben. Die Leute reißen ja schon Zoten über mein unglückliches Ende.“ Ich verstand, so wollte man wirklich nicht aus dieser Welt gehen. Angestrengt überlegte ich erst in die eine, dann in die andere Richtung. Endlich hatte ich eine Lösung ersonnen.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn die Sache so liegt, möchte ich Ihnen doch nahelegen sich vielleicht zu erschießen. Das steht einem Ehrenmann immer zu und ist in jedem Fall besser, als in Trübsinn zu verfallen.“
„Meinen Sie wirklich?“, fragte das Gespenst skeptisch.
„Aber natürlich! Einige meiner nächsten Freunde haben sich bereits erschossen – wegen Ehefrauen, wegen jüngerer Frauen und durchaus auch immer mal wieder wegen Geldangelegenheiten. Und, das ist nicht zu bestreiten, ihre Probleme sind alle losgeworden. Ein würdiger Abgang, Sie werden sehen, das macht es wieder gut.“
„Dann sollten wir das wohl versuchen.“ Ich nickte und eilte gleich zu dem kleinen Sekretär, woraus ich meinen Perkussionsrevolver hervor holte. Nachdem ich die Waffe überprüft hatte, legte ich sie zwischen uns auf den Tisch.
„Wohl an, mein Freund!“, ermutigte ich das Gespenst, das nur unentschieden mit seinen Händen spielte. „Was haben Sie zu verlieren? Denn, mit Verlaub, Sie sind ja schließlich schon tot“, redete ich weiter. Endlich schien ich Charles’ Geist überzeugt zu haben. Er griff nach dem Revolver und hielt ihn sich an die Schläfe, wobei es ihm sichtliche Mühe bereitete, nicht zu zittern.
„Es fällt mir so schwer zu heben“, seufzte er, „ich bin nunmehr verirrte Materie und kein Muskel mehr.“
„Ein Muskel sind Sie wahrlich noch nie gewesen, mein Bester. Wenn es Ihnen recht ist, so will ich aber gerne behilflich sein.“ Beherzt griff ich unter den Griff der Waffe und schob sie ein Stück weiter in seinen Kopf. Nachdem mir die Erkenntnis, ein Gespenst zu beherbergen, anfangs so einen Schrecken zugefügt hatte, war ich doch erstaunlich schnell mit den Tatsachen per due geworden und wunderte mich jetzt kaum noch, dass ich gerade einen Toten dabei unterstützte, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
„Ich danke Ihnen für alles, mein Freund“, säuselte Charles zart, so als wäre er in Gedanken schon weit über das Mündungsfeuer hinweg. Völlig unerwartet krachte der Schuss los und schlug durch den Salon. Erschrocken von der Kühnheit des eben noch so zweifelnden Gespenstes zuckte ich zurück, was zur Folge hatte, dass der Revolver zu Boden fiel. Nachdem ich die Waffe aufgehoben und mich wieder gesetzt hatte, war Doktor Charles Laundrys Geist verschwunden. Es war vollbracht.

„Herr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm!“ Erleichtert machte ich ein Kreuz. Gleichzeitig spürte ich, wie ob des endgültigen Verlustes meines Freundes eine große Traurigkeit in mir aufkam. Dieses Gefühl hatte ich bisher beiseite schieben können, da Charles, obwohl gestorben, ja immer noch bei mir gewesen war. Mit hängenden Schultern ging ich zur Tür und sah, dass die Kugel ein schönes Loch in das Blatt geschlagen hatte. Ich befühlte den kreisrunden Einschuss. Vielleicht würde ich ihn als Erinnerung belassen.
Auf einmal fuhr ein gellender Schrei durch unser Haus. Sofort riss ich die Tür auf.
Davor lag Erika, unser Hausmädchen, auf dem Boden. Von ihrer Stirn rann ein dünner Blutfaden geradewegs auf den sündhaft teuren Perserteppich. Um sie herum lagen ein silbernes Tablett, Glasscherben und eine umgekippte Karaffe. Ihre Zunge hing ein Stück weit aus dem halbgeöffneten Mund und es hatte fast den Anschein, als versuche sie im Sterben noch etwas von dem teuren Brandy zu kosten, der mit Blut vermischt eine Pfütze rund um ihr Gesicht gebildet hatte. Sie musste mit dem Tablett vor der Tür gestanden haben, als die Kugel sie genau zwischen die Augen traf. Auf dem Absatz der Treppe stand meine Frau und hörte nicht auf zu schreien.
Neben ihr, mit einem tiefen Schrecken in den Augen, stand Charles Laundry.
„Das ist alles meine Schuld“, sagte er laut genug, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte. „Na, Julius? Wie machen wir das wieder gut?“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Sven Fiedel, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine Geschichte mit überraschenden Wendungen. Bin gespannt, was andere Leser dazu sagen.

Zu Beginn des zweiten Absatzes "zu seufzen" und "zu stöhnen" schreiben. Ein paar kleinere Fehler bei der Schreibung von "Ihnen" könntest Du noch ausmerzen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Hagen

Mitglied
das war, lieber Sven, endlich mal eine wirklich geile Story.
Ein paar Absätze solltest Du unbedingt noch einfügen, es liest sich so schwer.
Aber ansonsten bin ich 'begeistert' von Deiner Geisterstory.

Wohl an, wir lesen uns!
Herzlichst
yours Hagen

_____________
stimme nie ein Klavier in nassem Zustand!
 

Sven Fiedel

Mitglied
Ich hatte mich sehr wohl darüber verwundert mit welcher Selbstverständlichkeit Doktor Laundry in den letzten Tagen, immer zur Mittagszeit, an unserer Haustür schellte und dann unaufgefordert und wortlos in den Salon eilte, wo er sich mit einem lauten Stöhnen auf den Sessel nahe dem Kamin fallen ließ.
Dort pflegte er dann zu sitzen und in regelmäßigen Abständen auf so erbärmliche Art zu seufzen und zu jammern, dass meine Gattin am zweiten Tage in dem ihr eigenen Zynismus vermerkte, dass man sich mit einem stöhnenden Doktor Laundry im Salon zumindest Geister und andere Nachtgestalten vom Hals halten könne, da diese ja denken müssten, unsere Haus sei schon vergeben – und zwar an einen ganz besonders unangenehmen Spukgesellen.
Tatsächlich war es so, dass unser seit kurzem so seltsamer Freund nicht nur die bösen, sondern beinahe auch die guten Geister aus unserem Haus vertrieben hätte, nachdem er Erika, so hieß unser vorzügliches Mädchen aus der Schweiz, immer wieder aus dem Salon schimpfte, nur weil sie ihm etwas zu trinken anbieten wollte. Schon als er sich das erste Mal in dieser Manier gebärdete – heulend und stöhnend – eilte ich sofort zu unserem Hausarzt und langjährigen Freund, um ihm gut zuzusprechen. Ich dachte es müsste etwas ganz Fürchterliches geschehen sein, wenn ein Charles Laundry sich dermaßen gehen ließe.
Er sah fahl und abgeschlagen aus, wie er so auf dem Sessel hing. Auch schien er kaum Notiz davon zu nehmen, dass ich den Raum betreten hatte. Neben ihm stand unser Hausmädchen und zeterte. Es sei sogar unter der Würde einer einfachen Angestellten, sich für eine angebotene Freundlichkeit auch noch auf das Wüsteste beleidigen zu lassen, schimpfte sie gerade. Dann wandte sie sich an mich und beklagte, der Doktor habe ihr zugerufen, sie solle sich doch mit ihrem Pferdegesicht und dem garstigen Brandy zum Teufel scheren. Ich musste schmunzeln. Erikas Physiognomie wies auch ohne viel Phantasie tatsächlich pferdische Züge auf. Da Laundry aber nicht nur unsere treue Angestellte, sondern auch meinen vorzüglichen Weinbrand – an dem er übrigens in all den Jahren unserer Freundschaft nie etwas auszusetzen hatte – beleidigte, entschloss ich mich, diesem Schauspiel ein Ende zu bereiten. „Charles, was bedrückt Sie?“, fragte ich.
„Ach mein guter Julius, es ist tragisch“, antwortete er und verfiel dann in ein langgezogenes Jammern, sodass ich mich wunderte, warum er dabei nicht blau anlief. Ich redete weiter auf ihn ein, doch keines meiner Worte schien noch zu ihm durchzudringen. Also ließ ich ihn in seiner Schwermut sitzen und schloss leise die Tür hinter mir. Meine Frau bat ich um Verständnis für den heulenden Doktor. Er mache gerade eine schwere Phase durch, würde sich aber sicher bald beruhigen. Wir alle atmeten auf, als unser Gast am Abend fluchtartig aus dem Haus stürmte. Niemand konnte ja ahnen, dass das erst der Anfang gewesen sein sollte.

Nun ging es schon auf den vierten Tag so. Gegen Mittag wurde ungeduldig an der Hausklingel gerissen, ein völlig derangierter Charles Laundry stürmte in das Wohnzimmer und besetzte den großen Ohrensessel, um dort in den nächsten drei, vier Stunden aufs erbärmlichste zu winseln. Meine Frau und ich waren inzwischen am Ende unsere Kräfte. So beschloss ich also mit Laundrys Ehefrau zu sprechen. Einerseits, um bei ihr vielleicht den Grund für sein Verhalten zu erfahren, andererseits wusste ich auch, dass Misses Laundry einen beachtlichen Einfluss auf den ihr Angetrauten auszuüben vermochte. Wenn überhaupt jemand, dann könnte sie helfen.
Die Laundrys bewohnten ein schmuckes Anwesen außerhalb der Stadtgrenzen. Das großzügige Landhaus lag an der Mündung einer breiten Zufahrt, die zu beiden Seiten von alten Platanen bewachsen war. Vor dem Hauseingang stand, ganz in schwarz gekleidet, eine kleine Gruppe beisammen. Mich beschlich ein schlimmer Gedanke: Sollte etwa ein Trauerfall in der Familie der Grund für das auffällige Verhalten des Doktors sein? An den Leuten vorbei trat ich in das großzügige Entree und wurde sofort von einem Angestellter empfangen, der mich mit gesenkter Stimme nach meinem Belang fragte. Auf meine Gegenfrage, ob ich wohl die Dame des Hauses sprechen könnte, sagte man mir, das sei derzeit nicht möglich. Misses Laundry sei vom Tod ihres Mannes doch noch sehr mitgenommen und bitte um Verständnis, dass sie zurzeit persönlich keine Beileidsbekundungen entgegennehmen könne. Allerdings dürfe ich mich gerne in dem ausliegenden Kondolenzbuch mit ein paar Zeilen an die Angehörigen wenden. Die Worte trafen mich, jedes wie ein Schlag vor die Brust.
„Jessesmariaundjosef!“, stieß ich hervor und bekreuzigte mich hektisch. Als der Concierge merkte, wie sehr er mich mit der Nachricht von Mister Laundrys Tod überrascht hatte, entschuldigte er sich und erzählte, der Doktor sei vor vier Tagen auf dem Weg zu einem Patienten von einer Droschke überrollt worden. Ein mehr als tragischer Unfall.
„Aber was reden Sie bloß für einen Unsinn“, fuhr ich ihn an, „gerade habe ich den Doktor noch gesehen und er erfreute sich allerbester Gesundheit.“ In meiner Rede war ich wohl laut geworden. Die schwarz gekleideten Gäste sahen zu uns herüber und tuschelten hinter vorgehaltenen Händen.
„Sir, ich darf Sie dann bitten zu gehen“, meinte der Angestellte in einem Tonfall, der ihm mir gegenüber sicher nicht zustand. Ich war schließlich nicht verrückt, oder doch? Ohne mich zu verabschieden trat ich, mein Kopf voller verstörender Gedanken, den Heimweg an.
Welches böse Spiel wurde hier mit mir getrieben? Warum sollte der Doktor seinen eigenen Tod inszenieren? Zwischen all die Fragen mischte sich aber auch der Zweifel. Wenn es denn wahr wäre, wenn der Doktor wirklich unter einer Droschke gestorben wäre? Ich hätte das gerne geglaubt – die Londoner Kutscher gaben nicht viel auf Fußgänger – gleichzeitig wusste ich aber, dass Charles Laundry eben noch in meinem Salon gesessen und sich lautstark mit Erika gestritten hatte.
Um sie nicht in die gleiche Verwirrung zu stürzen, die mich nunmehr ganz erfasst hatte, beschloss ich meiner Frau und dem Personal zunächst nichts von der Merkwürdigkeit zu berichten, die ich gerade erfahren hatte. Stattdessen ging ich, sobald ich wieder zu Hause angekommen war, in den Salon, wo Charles an seinem angestammten Platz saß und weiter aufs leidvollste stöhnte. Die Nervosität war ganz Herr meines Körpers und ein schweres Zittern packte mich.
„Alter Freund“, begann ich stockend, „gerade ist mir zugetragen worden, Sie seien bereits vor vier Tagen gestorben und nun, verstehen Sie mich nicht falsch, nun wundere ich mich doch, dass Sie seitdem hier in meinem Wohnzimmer sitzen.“ Der Doktor hielt kurz inne. Ob ich denn nicht gewusst hätte, dass er tatsächlich von dieser vermaledeiten Kutsche überrollt worden sei, fragte er erstaunt. Ich verneinte.
„Dann entschuldigen Sie das, ich hätte es wohl erwähnen sollen!“
„Das hätten Sie wirklich“, erwiderte ich. Für eine Weile hing jeder von uns seinen Gedanken nach.
„Und jetzt?“, brach ich schließlich das Schweigen, „behaupten Sie jetzt allen Ernstes ein Gespenst zu sein?“
„Nun, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht, darüber sind wir uns sicher einig“, sagte der Doktor bedächtig und ergänzte, „wenn Sie mich also ein Gespenst nennen wollen, dann bitte. Ich bevorzuge meinen Zustand als eine temporäre physikalische Ungereimtheit aufzufassen.“ Das war mir ein Stichwort. Um uns beiden mit den Mitteln der Physik zu beweisen, dass er nicht tot, sondern einzig sehr, sehr wunderlich sei, sprang ich auf, um ihn am Revers zu fassen und kräftig durchzuschütteln. Mit nur einem Satz war ich bei ihm und – packte ins Leere. Es war nicht zu glauben, beinahe bis zum Schultergelenk steckte ich in einem dicken Gespenst und konnte doch nur das Leder der Rückenlehne tasten.
„Seien Sie doch so liebenswürdig und nehmen Sie ihren Arm aus meinem, ähm, Körper“, bat mich Laundry mit ruhiger Stimme, „es kitzelt und außerdem irritiert mich der Anblick. Erst gar nicht auszudenken, wenn jetzt jemand hereinkäme und uns so sehen würde.“ Dann stieß er wieder ein langgezogenes Heulen aus. Mir wurde schwindelig. Auch muss ich plötzlich ziemlich blass geworden sein, denn Charles, der Doktor, setzte sein ernstes Doktorengesicht auf und riet mir dringend, die Beine hochzulegen und gehörig tief durchzuatmen. So wie ich aussähe, würde er einen leichten Schock vermuten. Schwerfällig folgte ich seinem ärztlichen Rat und nach einigen Minuten ging es mir durchaus besser. Unterdessen hatte Charles, das Gespenst, abwechselnd gestöhnt, geheult und sich bitterlich über die ganzen Trauerklöße beklagt, die derzeit sein Landhaus bevölkerten.
„Dieses impertinente Gesindel durchschwärmt die Gemächer und führt sich gerade auf, als würde alles ihm gehören. Krethi sitzt auf meinem Lieblingssessel, Plethi raucht meinen ägyptischen Tabak, es ist nicht mit anzusehen“, so ging seine Beschwerde. Ich konnte ihn nur ungläubig anstarren.
Ob er nicht weiterhin etwas in meinem Haus spuken könne, fragte er dann, es sei so angenehm ruhig hier. Sprachlos kaute ich meinen ausgetrockneten Mund. „Aber Sie sind gar nicht, na ja, durchsichtig“, sagte ich dann gleich das Erste, was mir in den Sinn kam.
Er entschuldigte sich. Schließlich sei er zum ersten Mal in diesem Zustand und wüsste nicht recht, wie genau er sich zu verhalten oder auszusehen habe. Seines Wissens – und dieses Wissen berufe sich einzig auf ein paar angelesene Schauergeschichten – würden Geister gemeinhin seufzend oder polternd ihre Tage und Nächte fristen, genaueres entzöge sich seiner Kenntnis. So schwatzte er eine Zeit lang weiter vor sich hin und vergaß darüber sogar das Stöhnen. Ich hatte mich wieder einigermaßen gefangen und erwiderte, dass ich ihm mit Verlaub sagen müsse, er sei ein ziemlich schäbiger Hausgeist. Zuallererst, das wisse doch jedes Kind, müsse er nachts spuken und nicht am hellsten Tage, zweitens säßen Gespenster auch nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Chaiselongue, sondern glitten kettenklirrend die Wände entlang und drittens schellten Gespenster nicht an Haustüren. Niemals würden sie so etwas tun. Niemals. Der Geisterarzt nörgelte, dass Gespenst schließlich kein Ausbildungsberuf sei. Vielleicht gäbe es ja gar kein falsch und richtig und er, er sei eben das Salongespenst, das an der Haustür klingelt. „Und wie lange soll das so weitergehen?“, fragte ich vorsichtig.
„Wer weiß das schon“, war die versonnene Antwort. „Wird es wohl einen Ausweg geben, mein lieber Julius?“

Sehr früh am nächsten Morgen machte ich mich auf zum King’s Cross, wo Charlotte Sanctury in einer mondänen Stadtwohnung residierte. Madame Sanctury war eine kugelrunde Dame gehobenen Alters, die, wie es hieß, den besten Kontakt zu allen Wesen der Zwischenwelt pflegte. Schon im Eingangsbereich der Wohnung hing ein dichter Nebel. In den Gesellschaften der Stadt war Charlotte Sanctury nämlich dafür berühmt, dass sie eine genauso passionierte wie ambitionierte Pfeifenraucherin war. Die Türen in der Wohnung waren ausgehängt und durch schwere Brokatvorhänge ersetzt worden. Hinter einem dieser Vorhänge trat Madame nun hervor. Beiläufig legte sie einen Schrumpfkopf zur Seite, um mir die Hand zum Kuss zu reichen. Sie trug einen purpurnen Kimono, der sie bei weitem noch dicker und unförmiger erscheinen ließ, als es unbedingt nötig gewesen wäre.
„Madame, Sie sehen wie immer fantastisch aus“, ging es mir leicht über die Zunge, denn Höflichkeit ist einem Gentleman stets höchstes Gebot.
„Julius, Sie Charmeur!“, lachte sie mir entgegen.
„Madame, erlauben Sie, wenn ich gleich zur Sache komme.“ Ich schilderte meinen Fall und so sehr ich mich auch anstrengte die Situation in reichen Worten auszuschmücken, erntete ich nichts als Gleichgültigkeit.
„Tja, Sie haben halt ein Gespenst. Bilden Sie sich bloß nichts darauf ein, mein Bester.“ Ich antwortete, dass ich sehr wohl um mein Problem, nicht aber um eine Lösung wüsste. Sie würde das so leichtfertig dahin sagen: ein Gespenst. Ob sie überhaupt ahnen könnte, was das bedeute. Madame Sanctury zog eine Augenbraue streng nach oben. Sie habe ja selber lange Zeit einen Mitbewohner aus dem Totenreich beherbergt und wisse deshalb sehr wohl, wovon sie spräche.
„Aber mein Gespenst sitzt im Salon und heult das ganze Haus zusammen“, warf ich verzweifelt ein.
Das sei doch völlig normal, beruhigte mich Madame Sanctury. Vielleicht sehne der Geist sich einfach nach etwas freundlicher Gesellschaft. In vielen Herrenhäusern würden Gespenster zum festen Inventar gehören. Man schätze sie dort als kurzweilige Gesprächspartner und ob ihres teilweise hohen Alters auch als erfahrene Ratgeber. Ich gestand, dass ich den Doktor als Gesprächspartner, wie auch als Ratgeber, stets geschätzt hätte, mir aber nicht vorstellen könnte, ihn nach seinem Tod und für alle Ewigkeit in meinem Wohnzimmer rumjammern zu lassen.
„Dann bleibt nur, ihn von seiner Seelenpein zu erlösen.“
„Und wie kann das gehen?“, fragte ich.
„Nun, sie müssen mit ihm reden, ergründen was ihm die ewige Ruhe nimmt. Und dieses Problem sollten sie dann gemeinsam bereinigen.“

Dermaßen beraten fuhr ich also nach Hause und suchte das Gespräch mit dem Doktor. Erst als ich ihn einige Male lautstark zurechtgewiesen hatte, unterließ er endlich sein schauriges Gejammer und blickte mich unleidig an. Ich erzählte also von der Sünde, der Schuld und der Bürde und mit jedem Satz schien Laundry ein Stück tiefer in den Sessel zu sinken. Bedeutungsschwer wog er seinen Gespensterkopf bis er endlich antwortete.
„Gerade vor einer Woche habe ich beim Wetten verloren und hinterlasse meiner lieben Frau jetzt nichts als Schulden. Das macht mich wahnsinnig.“ Um wie viel es sich denn handle, wollte ich wissen. „Es sind bald 3.000 Pfund“, druckste der Doktor, oder besser sein Geist, kleinlaut. Ich musste ob der hohen Summe schlucken, versprach aber zugleich, mich darum zu kümmern und seiner Frau das Geld anzuweisen.
„Sie werden sehen Charles, das macht es wieder gut“, versprach ich, „ich nehme die Last von Ihnen und Sie können jetzt gehen.“ Dann beugte ich mich nach vorne und wartete gespannt, dass der Doktor sich in Luft auflösen sollte oder was auch immer Gespenster gemeinhin zu tun pflegen, wenn ihre Bedrängnis bereinigt ist. Nichts geschah. Stattdessen schlug das Gespenst nur immer wieder ein Bein über das andere, blickte nervös um sich und zog Schnuten.
„Und?“, fragte ich endlich, „spüren Sie etwas? Ist Ihnen nicht gleich viel freier zu Mute oder sind Sie zumindest etwas leichter?“
„Nein, mir ist nur etwas flau im Magen und dass obwohl ich in dem Sinn ja gar keinen Magen mehr habe“, sagte Laundry und versuchte zu rülpsen, was ihm aber nur leidlich gelang.
„Dann lieber Freund, muss da noch etwas sein.“
„Es ist halt so“, setzte der Doktor an. In Gedanken überschlug ich schon einmal schnell meine finanziellen Möglichkeiten, weil ich mit weiteren Geldschulden rechnete. Zur Not müsste ich einige Wertpapiere einlösen, aber das alles war es mir wert.
„Sehen Sie“, fuhr Laundry fort, „es ist doch eine Schande, dass ein Doktor der Medizin und – Sie wissen es mein Freund – auch Doktor der Philosophie, im tumben Matsch der Londoner Innenstadt verrecken musste. Ich nehme mich wirklich nicht übermäßig wichtig, aber so stirbt ein Mann meines Formats einfach nicht.“
Ich war überrascht. „Aber Charles, gerade Sie als Mediziner. Tod ist, wenn man tot ist, das haben Sie doch immer gesagt“, erwiderte ich. Der Doktor reagierte genervt.
„Ach, was ich nicht alles schon gesagt habe, blablabla. Damals wusste ich ja auch noch nicht, wie es sich anfühlt, mit dem Gesicht in einem riesigen Pferdehaufen zu sterben. Die Leute reißen ja schon Zoten über mein unglückliches Ende.“ Ich verstand, so wollte man wirklich nicht aus dieser Welt gehen. Angestrengt überlegte ich erst in die eine, dann in die andere Richtung. Endlich hatte ich eine Lösung ersonnen.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn die Sache so liegt, möchte ich Ihnen doch nahelegen sich vielleicht zu erschießen. Das steht einem Ehrenmann immer zu und ist in jedem Fall besser, als in Trübsinn zu verfallen.“
„Meinen Sie wirklich?“, fragte das Gespenst skeptisch.
„Aber natürlich! Einige meiner nächsten Freunde haben sich bereits erschossen – wegen Ehefrauen, wegen jüngerer Frauen und durchaus auch immer mal wieder wegen Geldangelegenheiten. Und, das ist nicht zu bestreiten, ihre Probleme sind alle losgeworden. Ein würdiger Abgang, Sie werden sehen, das macht es wieder gut.“
„Dann sollten wir das wohl versuchen.“ Ich nickte und eilte gleich zu dem kleinen Sekretär, woraus ich meinen Perkussionsrevolver hervor holte. Nachdem ich die Waffe überprüft hatte, legte ich sie zwischen uns auf den Tisch.
„Wohl an, mein Freund!“, ermutigte ich das Gespenst, das nur unentschieden mit seinen Händen spielte. „Was haben Sie zu verlieren? Denn, mit Verlaub, Sie sind ja schließlich schon tot“, redete ich weiter. Endlich schien ich Charles’ Geist überzeugt zu haben. Er griff nach dem Revolver und hielt ihn sich an die Schläfe, wobei es ihm sichtliche Mühe bereitete, nicht zu zittern.
„Es fällt mir so schwer zu heben“, seufzte er, „ich bin nunmehr verirrte Materie und kein Muskel mehr.“
„Ein Muskel sind Sie wahrlich noch nie gewesen, mein Bester. Wenn es Ihnen recht ist, so will ich aber gerne behilflich sein.“ Beherzt griff ich unter den Griff der Waffe und schob sie ein Stück weiter in seinen Kopf. Nachdem mir die Erkenntnis, ein Gespenst zu beherbergen, anfangs so einen Schrecken zugefügt hatte, war ich doch erstaunlich schnell mit den Tatsachen per due geworden und wunderte mich jetzt kaum noch, dass ich gerade einen Toten dabei unterstützte, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
„Ich danke Ihnen für alles, mein Freund“, säuselte Charles zart, so als wäre er in Gedanken schon weit über das Mündungsfeuer hinweg. Völlig unerwartet krachte der Schuss los und schlug durch den Salon. Erschrocken von der Kühnheit des eben noch so zweifelnden Gespenstes zuckte ich zurück, was zur Folge hatte, dass der Revolver zu Boden fiel. Nachdem ich die Waffe aufgehoben und mich wieder gesetzt hatte, war Doktor Charles Laundrys Geist verschwunden. Es war vollbracht.

„Herr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm!“ Erleichtert machte ich ein Kreuz. Gleichzeitig spürte ich, wie ob des endgültigen Verlustes meines Freundes eine große Traurigkeit in mir aufkam. Dieses Gefühl hatte ich bisher beiseite schieben können, da Charles, obwohl gestorben, ja immer noch bei mir gewesen war. Mit hängenden Schultern ging ich zur Tür und sah, dass die Kugel ein schönes Loch in das Blatt geschlagen hatte. Ich befühlte den kreisrunden Einschuss. Vielleicht würde ich ihn als Erinnerung belassen.
Auf einmal fuhr ein gellender Schrei durch unser Haus. Sofort riss ich die Tür auf.
Davor lag Erika, unser Hausmädchen, auf dem Boden. Von ihrer Stirn rann ein dünner Blutfaden geradewegs auf den sündhaft teuren Perserteppich. Um sie herum lagen ein silbernes Tablett, Glasscherben und eine umgekippte Karaffe. Ihre Zunge hing ein Stück weit aus dem halbgeöffneten Mund und es hatte fast den Anschein, als versuche sie im Sterben noch etwas von dem teuren Brandy zu kosten, der mit Blut vermischt eine Pfütze rund um ihr Gesicht gebildet hatte. Sie musste mit dem Tablett vor der Tür gestanden haben, als die Kugel sie genau zwischen die Augen traf. Auf dem Absatz der Treppe stand meine Frau und hörte nicht auf zu schreien.
Neben ihr, mit einem tiefen Schrecken in den Augen, stand Charles Laundry.
„Das ist alles meine Schuld“, sagte er laut genug, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte. „Na, Julius? Wie machen wir das wieder gut?“
 



 
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