Rockets Plan

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Rockets Plan

In einer fernen Zukunft...

Atomphysiker Dr. Ewan Rocket hatte die Idee, als er aufwachte. Zum ersten Mal seit über sieben Monaten durchdrang ein Sonnenstrahl die graue Wolkendecke und warf seinen Schein auf die zerstörte Landschaft. Die Geröllberge und Trümmer wirkten dadurch nicht mehr so trist, selbst das staubige Grau des Bodens schien zu strahlen. Sonne, das bedeutete Leben, denn nur durch Sonnenlicht konnten Pflanzen wachsen und gedeihen. Auf einer verdunkelten Erde würden Menschen und auch die meisten Tiere und Pflanzen nicht überleben können, wie die Geschichte bereits am Beispiel der Dinosaurier gezeigt hatte.
Ein kleines Lächeln glitt über Rockets narbiges Gesicht. In ihren Sitzungen hatten sie oft darüber diskutiert, wie lange es wohl dauern würde, bis die Sonnenstrahlen tatsächlich wieder zu sehen sein würden. Und sie nicht nur durch ihre noch verbliebenen Geräte wussten, dass die Sonne noch da war.
Doch nun tanzte dieser eine dünne Sonnenstrahl nicht nur über die geschundene Landschaft, sondern fiel auch in sein Zimmer, über das Bett, den einfachen Holzstuhl vor dem leeren alten Tisch bis hin zum teppichlosen Boden.
Rocket stand auf und zog sich an. Auf das Rasieren konnte er verzichten. Die Hautzellen seines Gesichtes waren bei der großen Explosion so nachhaltig zerstört worden, dass kein Haar mehr an seinem Kinn und den Wangen spross.
Im Flur des Gebäudes, dass sie Institut nannten und in dem er tagtäglich ein und aus ging, kam ihm Lisa Corelli entgegen. Einst Chefsekretärin war sie nun kaum mehr als eine Botin, ohne eine richtige Arbeit zu haben. Dennoch war sie jeden Tag da, meist noch vor allen anderen. Sie war noch keine 30 und einst eine schöne Frau gewesen, doch die Explosion hatte auch bei ihr Spuren hinterlassen. Auf dem linken Auge war sie blind, statt wie das andere in leuchtendem blau zu strahlen, wirkte es farblos, fast durchsichtig. Eine von der Schläfe bis schräg zur anderen Seite des Kinns laufende Narbe ließ ihr Gesicht hart erscheinen und die dadurch vertiefte Falte an Nase und Mundwinkel machte ihre Züge müde. Doch der Blick aus ihrem gesunden Auge war unverändert scharf und spiegelte eine hohe Intelligenz wieder. Sie wirkte stets ein wenig traurig und er hatte sie seit der Explosion noch nie lächeln gesehen. Was auch daran liegen mochte, dass es nicht viel Grund zum Lächeln gab. „Hallo Lisa. Hast du es bemerkt? Die Sonne scheint.“
Sie machte sich nicht mal die Mühe, aus den scheibenlosen Fenstern zu schauen. „Der Himmel ist grau. Wie immer.“
„Nein. Vorhin kam ein Sonnenstrahl durch. Es ist ein schöner Tag. Ich werde ihn verkaufen, denn er ist selten.“
„Du willst einen Tag verkaufen?“
„Ja. Ich hatte diese Idee und bisher gehören die Tage niemandem. Ich melde es gleich an, so dass sie fortan mein Besitz sind.“ Während er sprach, war er weiter gegangen.
Lisa lief neben ihm. „Wie viel soll ein Tag kosten?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Er sah sie von der Seite an und fand, dass sie immer noch ein schönes Profil hatte. Die Wangenknochen waren hoch, ihre Nase schmal, grade und nicht zu lang, das leicht spitz zulaufende Kinn ließ sie ein bisschen aristokratisch wirken. „Möchtest du denn einen kaufen?“
„Vielleicht“, sagte sie und blieb nun doch stehen, um hinaus zu sehen. Tatsächlich wirkte die Schutthalde, die sie umgab und von der man kaum glauben konnte, dass diese Steinstücke und Trümmer einmal ein großes Einkaufszentrum, Parkplätze und Häuser gewesen waren, heller als sonst. „Dieser heutige Tag hatte einen Sonnenstrahl. Ich hätte gern einen solchen Tag.“
„Dann schenke ich ihn dir hiermit. Es gibt noch genügend andere Tage, die ich verkaufen kann.“
„Danke“, sagte sie und klang etwas überrascht. „Mir hat noch nie jemand einen Tag geschenkt.“
Er sah die Freude in ihrem gesunden Auge. Ihre eingeschränkte Gesichtsmimik ließ nur wenige Emotionen deutlich werden, doch er hatte gelernt, in ihrem Auge zu lesen. „Sag den anderen, dass ich später komme.“
Sie nickte und blickte ihm kurz hinterher. Doch bevor sie die Treppe zum Versammlungsraum hochging, blieb sie noch für einen Moment am Fenster stehen und schaute auf ihren Tag. Ob sich wohl noch ein weiterer Sonnenstrahl zeigen würde?

Ewan Rocket suchte das Büro der Verwaltungschefin auf. Im kargen Ambiente eines Schreibtisches, ihrem Sessel dahinter und zwei unbequemen Holzstühlen davor, saß die Graue. Den Spitznamen hatte sie schon vor der Explosion bekommen, denn Haar, Kleidung und sogar die ganze Einrichtung waren grau gewesen, genau wie jetzt. Verändert hatte sich, dass es praktisch keine Einrichtung mehr gab, doch von irgendwoher hatte sie grauen Stoff als Vorhang fürs Fenster besorgt. Er brachte der gelangweilt wirkenden Frau sein Anliegen dar. Während er sprach, kritzelte sie einige Notizen auf den Block vor sich, nahm dann ein weiteres Blatt vom Regal und schrieb auch darauf etwas nieder.
Rocket betrachtete das Papier, dass sie ihm reichte. Handschriftlich – denn Computer gab es nicht mehr, bei der Explosion waren fast alle technischen Geräte zerstört worden – hatte sie ein Formular ausgefüllt, in dem stand, dass vom heutigen Tage an alle Tage Dr. Ewan Rocket gehörten und er nach eigenem Belieben mit ihnen verfahren konnte.
Er bedankte sich knapp und verließ das Büro wieder. Da er Stimmen aus der Halle hörte, ging er zuerst dorthin. Er freute sich, als er in der Gruppe der vier Leute Lisa Corelli entdeckte. Seine Freude wuchs noch, als er hörte, wie sie von dem geschenkten Tag erzählte.
Die beiden sie umstehenden Frauen und der weißhaarige Mann wirkten allesamt erstaunt. Lächelnd trat Rocket zu ihnen und hielt sein Papier hoch. „Die Tage gehören nun mir. Wollt ihr welche kaufen?“
„Was soll ich denn mit einem Tag“, meinte die größte der Frauen. Rocket kannte sie, wie alle anderen im Institut. Früher wäre das nicht möglich gewesen, das Unternehmen hatte mehrere tausend Personen beschäftigt. Doch überlebt hatten nur zwei Dutzend und statt mehrere hoch aufragender Gebäudekomplexe hatten sie jetzt lediglich noch ein zweistöckiges Haus ohne Fensterscheiben und mit Gesteinsstaub auf dem Boden. Nichts war von dem einstigen Hightechglanz des Forschungsunternehmens geblieben. Nichts deutete darauf hin, dass die heute grauen, meist müden Gesichter die brillantesten Wissenschaftler des ganzen Landes, vermutlich sogar der ganzen Welt waren.
„Du hättest etwas, das dir gehört“, sagte Rocket.
„Einen Tag kann ich nicht greifen“, antwortete sie. „Lieber hätte ich mein biochemisches Labor zurück.“
„Ich hätte trotzdem gern einen Tag“, sagte die andere der Frauen. „Man muss etwas nicht greifen können, um es zu besitzen. Wenn ich eine neue mathematische Formel entdeckt habe, habe ich die ja auch nicht anfassen können und trotzdem gehörte sie mir.“
„Da ist was dran“, meinte der Weißhaarige. „Ich jedenfalls kaufe einen Tag. Oder besser gleich zwei, Geld genug habe ich und es gibt doch sonst nichts zu kaufen.“
„Komm, holen wir uns Papier und etwas zu schreiben.“ Sie duzten sich inzwischen alle untereinander, verzichteten auf ihre Titel. Es gab niemanden, der bei der Explosion keine ihm nahestehende Person verloren hatte. Als die Feuer herunter gebrannt und sie mit Aufräumarbeiten begonnen hatten, waren sie einander näher gekommen. Der Mann, dem er gerade die zwei Tage verkaufte, war Professor Gabriel Bellamy, sein Vorgesetzter und Mitentwickler der Maschine, die die Explosion verursacht hatte. Was genau die Ursache für die verheerende Katastrophe war, hatten sie nie herausgefunden und würden es wahrscheinlich auch nie. Eine falsche Berechnung, ein nicht angezogenes Schräubchen oder vielleicht bloß ein kleiner Stein, der zufällig hinein geraten war und der die empfindliche Technik gestört hatte.

Bis zum Abend hatte Rocket 37 Tage verkauft. Für jeden Tag hatte er ein Schreiben aufgesetzt, in dem stand, wem der Tag gehörte. Ein paar Tage hatte er wohl unter Wert verkauft, denn von der Genetikerin Dr. Jane Heller hatte er bloß einen Kaffee und eine Tüte mit schon etwas trockenen Donuts genommen. Und Patrick Miller, der Student, der ihnen allen mit seiner ständigen Fragerei auf die Nerven gegangen war, hatte ihm eine Schachtel gesammelte Knöpfe gegeben. Rocket war das egal, Geld hatte er auch so genug. Nicht so viel, dass er ein neues Auto hätte kaufen können, aber es gab keine Autos mehr.
Drei weitere Tage hatte er verschenkt. Alle an Lisa Corelli und obwohl sie ausdrücklich gesagt hatte, dass sie nur Tage mit Sonnenschein wollte und er ja nicht wissen konnte, ob die Sonne an diesen Tagen scheinen würde, so hatte sie sich doch gefreut. Er hatte das Lächeln in ihrem blauen Auge gesehen und beschloss, dass er ihr noch weitere Tage schenken würde.
Das verkaufen der Tage wurde zu einem Spiel, es brachte Spaß in ihr Leben zurück. Als am dritten Tag schon morgens Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, versammelten sie sich alle vor dem Gebäude und jubelten. Die Mathematikerin, die diesen Tag erworben hatte, schenkte ihn ihrer Freundin, der Biochemikerin. Die genoss für einige Minuten das Gefühl, einen Sonnentag zu besitzen und schenkte ihn dann weiter.
Bis zum Abend hatte dieser Tag wohl an die hundert mal seinen Besitzer gewechselt. Und auch der folgende Tag begann mit Sonnenschein. Rocket blickte neben Lisa stehend zum Himmel und überlegte, dass es vielleicht doch noch Hoffnung gab.


Ende
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich fänd' alle Tage gut, wenn das Ambiente nicht so brüchig wär':

Eine offensichtlich weltumspannende atomare Katastrophe, alles in Trümmer und jeder versehrt, doch keine Strahlenkrankheit?
Waren sie nicht sogar dicht dran? Jedenfalls deutest du das an.
Wohlgemerkt, es braucht keine detaillierte Apokalypsenbeschreibung, aber dass die Informationsfetzen zusammen gehen.

Hat sich einen Tag genommen und ist in die Nacht entkommen
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Klebrig

HUNGRIGEN Leuten (, denn dass es irgendwo in der Wüste noch Essen und vor allem trinkbares Wasser gibt, darauf deutet nichts hin) TAGE zu VEKRAUFEN, – das nenn ich eine perfide Ausgeburt des Kapitalismus. Oder "Rosasucht Geisteskranker". Je nachdem.

Oder anders ausgdrückt: Ewan Rocket ist ja wohl das größe Arschloch aller Zeiten – nicht nur, dass es ihm ziemlich schnurz ist, dass er (mit)schuldig am Untergang der Welt ist, er spielt auch noch "Tage verkaufen", statt sich Gedanken um die Ernärhung der Überlebenden zu machen. (Aber die andern sind auch nicht besser. Irgendwie wirken alle ziemlich bekifft. Toller Hoffnungsschimmer!)

Man könnte es fast für eine Satire halten – wenn dieser zuckersüße Schluss nicht wäre.

Nein im Ernst: So ein Desaster, wie in dieser Welt passierte, lässt nicht so eine Zuckerwatte-Atmosphäre zurück. Selbst das Trostlose und Hässliche – und davon gibt es offenbar reichlich – ist bei dir im Text irgendwie schön. Die Menschen mögen sich alle, alle sind irgendwie "grundzufrieden" – trotz ihrer diversen Verluste. Selbst die Grundbotschaft ("Auch nach "sowas" gibt es irgendwann Hoffnung, wenn man nur lange genug wartet" – die man getrost anzweifeln darf) passt da eher harmonisch rein, klingt wie die logische Konsequenz des vorher erzählten Graus, statt tatsächlich wie ein Lichtpunkt am Ende zu wirken.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
PS: Filmtipp zu diesem Thema: "A Boy and his Dog " (dt.: In der Gewalt der Unterirdischen / Die Literaturvorlage kenn ich leider nicht…). Da machen auch (einige) Überlebende auf "zuckersüße Harmonie"
 

Mazirian

Mitglied
Hi Pferdefreundin,

für mich las sich das Tageverkaufen wie eine Ersatzhandlung von Schwerstkonditionierten, nachdem der Kapitalismus zusammengebrochen ist. So wie bei Ex-Rauchern, die sich mit Süßigkeiten vollstopfen.
Insofern habe ich es schon als Satire gelesen - trotz "rosa Zuckerguss".
Es fehlt aber ein bisschen ein erhellender Twist auf die zwangsläufig trostlose Realität, die diese Leute nicht mehr wahrnehmen. Der geschärfte Kontrast für das Groteske dieser Tätigkeit sozusagen. z.B. haben sicher auch Menschen überlebt, die schon vor der Katastrophe von der Kaufladenspielerei ausgeschlossen waren.

@jon:
Harlan Ellison: A Boy and his Dog / Des Menschen bester Freund
Da ist genau der Twist drin, weil der Junge und sein Hund die Barbiefreundin des Jungen schließlich aufessen.

Schlussabsatz:

Weißt du was Liebe ist?
Natürlich wusste ich es.
Ein Junge liebt seinen Hund.

*schauder* - das ist sooo böse...

schönen Gruß
Achim
 
Warum ist es denn so schlimm, wenn ich in meiner Story KEINE Weltuntergangsstimmung und Katastrophenbeschreibungen habe? Stories, in denen die Folgen von großen Katastrophen geschildert werden und die Menschen sich gegenseitig an die Gurgel gehen und noch das letzte wegnehmen, gibt es doch wohl genug.
Ich wollte einfach etwas anderes schreiben und mir gefällt die Idee von Hoffnung inmitten einer trostlosen Umgebung nach wie vor sehr gut.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Das handwerklich „Schlimme" ist, DASS du Weltuntergangsstimmung beschreibst (, zumindest, was die „Vokabeln“ angeht), es bei dir aber rosarot klingt (, egal, wie oft du „grau" schreibst).

Du könntest den Inhalt – "es gibt trotz allem Hoffnung" – auf zwei Wegen vermitteln
A: Du schreibst, wie schrecklich es im Moment ist (, dann muss es aber auch schrecklich „klingen“), um dann den Schluss wirklich als „Licht am Ende ds Tunnels" scheinen lassen. – Das Stilmittel hier wäre sozusagen der „Kontrast am Schluss"
B: Du schreibst, wie sich in der schrecklichen Umwelt nach und nach Hoffnung eingeschlichen hat – dann muss du aber ein ganz deutlich spürbare Trennung zwischen dem schrecklichen ÄUßEREN (dargestellt durch Vokabeln UND Klang) und der im INNERN keimenden Hoffnung (wieder: Vokabeln UND Klang) zeigen (, beides kann in einer Art „Schlussbild“ dann durchaus eineinander fließen). Man könnte das auch als „ständig gegenwärtigen Kontrast" bezeichnen.


Nebenbei: Ich persönlich finde auch den Inhalt „schlimm". Aber dass „alles wird gut"/„Hoffung gibt es immer" eine – bitte entschuldige! – gewisse Groschenheft-Mentalität ist, und dass es (, wenn man literarisch auch nur annähernd Anspruchsvolles zu fabrizieren gedenkt,) bestenfalls in einer Satire "erlaubt" ist, den Haupthelden zwar zum Mitschuldigen an der Katastrophe darzustellen, ihn aber gleichzeitg zum "grundguten" und offenbar völlig mit sich im Reinen seienden, sozusagen „von seiner Natur aus" Hoffnung bringende Haupthelden zu machen, ist ein anderes Thema.
 



 
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