Rollen-Spiele

weisserrabe

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„Da bin ich 'mal ganz wer anders...“

Heute tun wir einfach 'mal so, als wären wir ganz jemand anders. Der Abwechslung halber im täglichen Einerlei, der Aufregung wegen und um ein kleines bißchen Abenteuer in die gewohnte Routine zu bringen. Das ist spannend und neu und total exotisch...!? Nein, nicht wirklich. Weil wir nicht tatsächlich wir selber sind. Weil eine Rolle mehr oder weniger gar nicht ins Gewicht fällt. Weil wir ein geborgtes Leben leben, eine geliehene Welt nutzen und geschenkte Zeit verschwenden.

Das klingt radikal? Mitnichten. Genauso funktioniert mein unbedeutendes kleines Dasein. Der Reiz am Verleugnen, am Ausprobieren, am Verstecken ist mir dermaßen vergangen, daß ich unstillbare Sehnsucht nach etwas Einfachheit, Schlichtheit, - nach Stillstand verspüre bis zur Übelkeit.

Das könnte schon fast wieder ein Spiel sein mit Choreografie und Drehbuch: heute sind wir ausnahmsweise normal. Witzig. Langweilig? Keine Ahnung. Aber das ist ja das Schöne an Phantasien. Sie müssen nicht realistisch sein, sie müssen nur für den Moment passen...

Der Hintergrund: Er trifft sie. Beiden gefällt, was sie sehen. Man nähert sich an, macht sich bekannt – der Mann vom Bau mit Hang zum Besonderen und die mehr oder minder erfolgreiche Autorin mit zwangsweise bürgerlichem Erwerbsfeld in der Umweltbranche. Gleiche Ansichten, parallele Erfahrungen, verwandte Seelen...? Eins kommt zum anderen, die Zeit vergeht wie im Fluge, man gelangt vom Hundertsten ins Tausendste. Die zwingende magische Anziehungskraft wirkt treffsicher und natürlich passiert, was geschehen muß! Außenstehende, Wegabschnittsgefährten, Zuschauer auf exklusiven Plätzen beobachten und begleiten das Ganze fasziniert, amüsiert oder auch fassungslos. Je nach der eigenen Befindlichkeit und dem Vermögen, hinter die
glatten Fassaden zu schauen und mit mehr als nur den Augen zu sehen. Die Anteilnahme erreicht jedoch nie echtes Verständnis. Und trotz allem wirkt das alles ziemlich bodenständig.

Hinter den Kulissen spielen sich derweil Dramen ab. Die Hauptdarsteller agieren hervorragend – leider nicht im selben Stück! Teilweise mag das prickelnd sein und den Anschein ganz neuer Perspektiven vermitteln. Dieser Schein trügt jedoch. Wenn dann so eine Illusion zerplatzt, ist der Schmerz doppelt groß, die Enttäuschung bodenlos und die Verzweiflung kennt keine Grenzen. Nach außen dringt davon so gut wie nichts. Nur das Unwohlsein, das beide mit sich abmachen, wirkt auf Vertraute besorgniserregend. Der Umgang damit gestaltet sich schwierig, da eine Offenlegung nicht möglich und damit eine Reihe von Mißverständnissen vorprogrammiert ist. Verfahrene Kiste, das...

Nicht nur verfahren sondern geradezu ausweglos! Weil – ein Ausweg wäre Flucht. Nicht erwägenswert. Nicht akzeptabel. Nicht relevant. Für das Verharren wirkt demgegenüber nicht etwa Belohnung sondern Selbstzerstörung und Demoralisierung. Auf ganz hohem Niveau. Die Liebe zum Leiden ist dabei nicht maßgeblich, aber sicher auch nicht unbeteiligt. Das Elend zu genießen, das Unglück zu kultivieren – für manch einen scheint das pathologisch. Für die beiden Protagonisten fängt hier der Spaß erst an. Das Leben als Kasperletheater, als einzige große Bühne. Die Mitmenschen als dankbares, jedoch ahnungsloses Publikum...

Die Frau in den Mittvierzigern schreibt. Schon immer. So lange sie sich erinnern kann. Nicht weil sie sich berufen fühlt. Das geschriebene Wort auf dem sauberen Papier ist ihre einzige Möglichkeit, Ordnung in ihrer Existenz zu bewahren, wo Chaos und Zumutungen das Spielfeld beherrschen. Ohne Kenntnis der eigenen Identität, der wahren Herkunft, mit Erinnerungslücken, die mehrere Jahre der Kindheit und Jugend umfassen, mit erlittenen Verletzungen und Erlebnissen, die sich nicht teilen lassen, bleiben manchmal
nur die Notizen der Gedanken, Gefühle, Ängste, Wünsche und Träume, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Seit über zwanzig Jahren auf der Flucht vor der Vergangenheit in Gestalt des eigenen Vaters und seiner Helfershelfer, dabei vier Kinder großziehend und beruflich stark eingespannt – die Belastbarkeit wird ständig bis zum Limit und leider darüber hinaus ausgereizt. Ein Ventil für den entstandenen und nie verschwindenden Druck ist das Schreiben. Autorin aus existentiellen Gründen sozusagen. Für einen Partner, einen Lebensgefährten, eine Lebensgemeinschaft ist von Hause aus kein Platz in dieser Konstellation. Zumal die Fähigkeit, Nähe zu ertragen, aufgrund der zurückliegenden Zeit mehr als beeinträchtigt ist.

Der kreative, schwer arbeitende und idealistische Handwerker trägt ebenso mehr Ballast mit sich herum, als die Schultern eines einzigen Menschen eigentlich zu tragen vermögen. Aus seinen Erfahrungen, die man eher in einem schlechten Hollywoodfilm vermuten sollte als im realen Leben, mit der bedingungslosen Art und Weise, extrem und unbeirrbar der selbst gewählten Linie zu folgen, generierte sich ein Mensch, der sich zum ungezählten Mal neu erfunden hat, Neuanfänge gemacht und dabei mit der früheren Lebenswirklichkeit total gebrochen hat. Abgesehen von den Problemen, die sich als anhänglicher erwiesen als Menschen und Sachwerte... Abgesehen von den Dingen, die er getan und für die er gebüßt hat. Die präsent bleiben bis zum letzten aller Tage. Auch diese Form von Prägung kann man einem anderen Menschen nicht vollumfänglich vermitteln. Man bleibt unverstanden, rätselhaft, undurchdringlich. Kälte, Zurückweisung, Separation gesellen sich dazu. Zur Schau getragene Arroganz und Überheblichkeit tun ein Übriges...

Diese beiden Charaktere treffen in einer unmöglichen Situation – als Teilnehmer an einer medizinischen Langzeitstudie – unvorhergesehen, auf eng begrenztem Raum und unter ständiger Beobachtung aufeinander. Der Urknall wäre ein laues Lüftchen gewesen gegen den Effekt, der sich von jetzt auf gleich eingestellt hat. Die ganze
Lebensvorstellung, die felsenfeste Überzeugung beider individualistischer Menschen hatte sich auf einmal erübrigt. Was blieb – die Idee von etwas Großartigem und der unbedingte Wunsch und Wille, sie in die Tat umzusetzen. Wie so oft, sollte ein eventuelles Scheitern zukünftig eher an Kleinigkeiten, Banalitäten liegen denn am Gesamtpaket. Denn das war, ist und bleibt die Entsprechung einer Traumvorstellung. Extreme prallen aufeinander, Alphatiere, die nicht die Neigung haben, ihre alleinige Führungsposition, ihren Alleinvertretungsanspruch aufzugeben. Viel Reibungspotential entlädt sich auf allen Ebenen der sich rasant entwickelnden Beziehung. Ursache beziehungsweise Grundlage für schwelende Konflikte bilden immer wieder die problematischen Vorleben, die Lasten, die zu tragen sind. Allein? Es sieht so aus. Wahrscheinlich gibt es Umstände, die eine echte Einfühlung, Unterstützung oder Hilfe ausschließen. Oder der Egoist in beiden Charakteren verhindert deren Inanspruchnahme. Glücklich sind die beiden – manchmal. Eigentlich sogar oft. Die schönen Momente sind wie ein Rausch. Die Abstürze danach um so erschreckender. Offene Aggressionen, Verletzlichkeiten, Übersprungshandlungen – die ganze Palette menschlicher Emotionen und Handlungsmuster erleben wir im Zeitraffer. Wir zermürben uns. Die Spannung, die greifbar im Raum steht, sobald wir ihn betreten, überträgt sich auch auf Unbeteiligte. Sich selbst noch leiden zu können, ist von Tag zu Tag schwieriger...

Was aber der reinen und unbedingten Liebe keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Aus diesem Widerspruch resultiert der Wunsch, einmal alle fünfe gerade sein zu lassen und ganz „normal“ zu sein, wenn auch nur für kurze Augenblicke. Hinter sich zu lassen, was man nicht hinter sich lassen kann. Unbeschwert zu sein wie in der nicht gelebten Jugend. Loszulassen, aufzublühen und zu genießen. Fremdwörter das alles in den Augen und Ohren der beiden Gepeinigten. Nahezu verzweifelte Versuche, Verhaltensweisen zu praktizieren, die man nie gelernt hat, verschärfen den schwelenden Konflikt bis hin zur – zunächst verbal – aggressiven Auseinandersetzung. Der Vergleich mit dem „Rosenkrieg“ hat sich bereits aufgedrängt; auch in diesem nicht sehr subtilen aber treffenden filmischen Beleg zwischenmenschlicher Abgründe war das Ende eher unerfreulich und die Zeit davor kaum auszuhalten. Wenn mir jemand schlüssig erklären könnte, was zwei Menschen trotzdem aneinander fesselt, wäre mir – sicher auch nicht weitergeholfen... Das geflügelte Wort Haßliebe trifft den Nagel auch nicht auf den Kopf. Bei aller Explosivität war nie ein Haß spürbar. Was bleibt, ist diffus, nicht zu beschreiben, verkrampft und destruktiv.

Und wieder und wieder und noch einmal rappeln sich beide im Bewußtsein ihrer Zuneigung auf und versuchen die Tiefe der Gefühle in den Vordergrund zu rücken, das Konfliktpotential zu umgehen. Berückend schön sind die auf dem Fuß folgenden Abschnitte, in denen pures Glück, Wohlbehagen und Aufgehoben sein sich breit machen. Wo man sich fallen lassen kann und weiß, bestimmt weiß, daß Arme bereit stehen, einen aufzufangen. Wo die Schulter danach ruft, daß man sich anlehnt und die trüben Gedanken einfach aufhören zu existieren... Verdrängung als Normalität?

Was beiden nicht bewußt ist: das Rollenspiel, die glatte Fassade wirkt für die Außenwelt absolut überzeugend. Die Welt meint, das Traumpaar schlechthin vor sich zu sehen. Die Welt ahnt vielleicht, daß nichts so rosarot sein kann wie diese Vorstellung von Harmonie. Darüber hinaus entstehen jedoch keine Zweifel an Substanz und Dauerhaftigkeit des romantischen Vorhabens. Was beiden nicht bewußt ist: auch diese normale, unbelastete Seite gehört zu ihren Persönlichkeiten dazu. Niemand außer ihnen hat es in der Hand, diesem Segment mehr Raum zu geben, mehr Luft zum atmen. Der Lernprozeß wird lang sein und nicht ohne Rückschläge ablaufen. Es gibt Höhen und Tiefen und Unentschlossenheit und Liebe und Wut.

Ich bin unbeirrbar sicher: das ist es wert. Nichts vergleichbares hat mich bisher so sehr bewegt und angetrieben wie dieser eine Mensch, mein Gegenüber, mein
Gegenstück. Mein Antagonist? Nicht nur, aber durchaus in wichtigen Punkten. Mein Schicksal? Von der Auslegung bin ich kein Freund, aber der Zufall hätte dann schon sehr markant gewesen sein müssen... Mein unausweichliches Los? Wahrscheinlich nicht. Aber es wäre einfach nicht richtig, etwas Einzigartiges auf's Spiel zu setzen, weil Eitelkeiten, Empfindlichkeiten, Unvernunft, Blindheit, Torheit, Starrsinn oder andere (nicht weniger zerstörerische) Übel am Wirken sind. Meinen eingangs erklärten Wunsch möchte ich sehr gern korrigieren, nachbessern: ich möchte nicht für kurze Etappen normal und lastbefreit ein Scheindasein leben, ein Rollenspiel aufführen. Das kostet doch nur zusätzlich Kraft und hält nicht lange genug vor, um wirklich wünschenswert zu sein. Nein, ich möchte mir und uns etwas von dieser Normalität zu eigen machen, ohne daß wir uns verbiegen, wandeln oder eben maskieren müssen. Die Anstrengung soll heraus aus der Beziehungskiste, die persönliche Last darf nicht mehr die Gemeinsamkeit dominieren. Und eines Tages sind wir, falls das gelingt, am Ende dort angekommen, wo wir uns nie gesehen haben: in der Zufriedenheit.

Wenn ein Mensch mit sich und seinem Leben ausgesöhnt, im Reinen ist, verfliegt wohl jeder Drang nach einer Verstellung, einem Rollenspiel. Weil die Realität für den, der sie erkennen und ausfüllen kann, die wahre Traumrolle bereithält...




23. Februar 2012
 

jon

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Auf amtliche ("neue") Rechtschreibung um-trimmen! Und die falschen Zeilenumbrüche entfernen!

Nachtrag: Ich habe den Text aus dem Journalismusforum ins Tagebuch verlegt. Spätenstens die Stelle „Nichts vergleichbares hat mich bisher so sehr bewegt und angetrieben wie dieser eine Mensch, mein Gegenüber, mein Gegenstück.“ begründet das.
 



 
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