Romanauszug aus "Daniel Reuter - eine Schülergeschichte"

Klaus Zankl

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Kapitel 1

Ich weiß nicht, wo ich eigentlich beginnen soll. Es ist schon lange her, gut und gerne elf oder zwölf Jahre, seit ich die Schule, auf der ich einst das Abitur machen wollte, verlassen habe. Für gewöhnlich kommt der Schüler, wenn er nicht so dumm ist und die Integrierte Gesamtschule besuchen möchte, nach dem Abschluß der Orientierungsstufe je nach Begabung entweder zur Hauptschule, zur Realschule oder zum Gymnasium. Letzteres war bei mir der Fall. Ich möchte mich nicht selbst loben, aber ich bin stets ein guter Pennäler gewesen, dies galt sowohl für die Grundschule als auch für die eben erwähnte Orientierungsstufe, die die fünfte und sechste Klasse umfaßt. Besonders das letzte Halbjahreszeugnis konnte sich sehen lassen, welches damals ausdrücklich von der Klassenlehrerin vor versammelter Mannschaft belobigt wurde. Alles Zweien und eine Eins, und die in Mathematik, meinem einstigen Lieblingsfach. Keine Frage, sagte die Pädagogin, mit solch einem Zertifikat könne der Musterknabe Daniel Reuter nur zur Oberschule versetzt werden. Sie hoffe, daß er auch dort seine Begabung zu nutzen und womöglich zu steigern in der Lage sei. Falls ihm dies gelingen sollte, werde er eines Tages ein ausgezeichnetes Abitur schreiben, da sei sie sich ganz sicher. Ferner dürfe sich jeder an Daniel ein Beispiel nehmen, wenn alle Absolventen einen solchen Notendurchschnitt erreicht hätten, fände sie ihren Beruf doppelt befriedigend.
Ich war in der Tat recht stolz, auf diese Weise beglückwünscht und als Vorbild dargestellt zu werden. Da meine Haut immer sehr hell gewesen ist, konnte man mir etwaige Gefühlsregungen, wie etwa Scham, Stolz oder Verlegenheit gut ansehen, denn selbige ließen mir eine außerordentliche Glut ins Gesicht fahren. So auch dieses Mal. Die Mitschüler betrachteten mich, sahen es und mußten lachen. Es liegt natürlich auf der Hand, daß die guten Lerner eine gewisse Freude an dieser Tätigkeit empfinden; ohne sie kommt kein Primus aus. Jener Umstand war auch bei mir der Fall, der Stoff fiel mir sehr leicht, und die glatten Ergebnisse, die man speziell in der Mathematik, aber auch in anderen naturwissenschaftlichen Fächern ausrechnen kann, verschafften mir oft ein fetischistisches Lustgefühl. Besonders die Bruchrechnung und Gleichungen waren ein Fall für mich. Zu gerne saß ich daheim am Tische und löste solche Aufgaben.
Na ja, genug meines Eigenlobes und meiner Vorgeschichte. Ich sollte also versetzt werden in die siebte Klasse eines Gymnasiums, und dort beginnt meine eigentliche Geschichte. Ich befand mich noch in den Sommerferien, welche fast abgelaufen waren. Ich empfand eine gewisse Vorfreude auf die Dinge, die da kommen sollten. Mein Vater und meine Mutter waren selbstverständlich sehr froh, daß ich die Versetzung ohne Probleme geschafft hatte und mich nun auf bestem Wege befand. Natürlich hatte ich, wie jeder Junge im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren, einige Hobbies, denen ich nachging. Hiermit meine ich weniger den Fußball oder Tischtennis, sondern vielmehr das Schach- und Skatspielen, wofür ich viel Zeit investierte. Es gab aber auch andere Interessen, namentlich die des Feuermachens, des Rauchens und Scheibeneinschießens. Ich brauche wohl nicht näher zu erläutern, daß all diese „Unternehmungen" alles andere als erlaubt waren. Der Reiz des Verbotenen hatte mich allzeit fasziniert und inspiriert; auch will ich nicht verheimlichen, daß ich einen sogenannten Chemieexperimentierkasten besaß, mit dem man gewöhnliche Untersuchungen durchführen, aber ebenso Schwarzpulver und andere Explosivstoffe mischen konnte. Die Rezeptur dazu konnte dem Handbuch natürlich nicht entnommen werden, aber gibt es denn ein Geheimnis, welches von einem begabten und neugierigen Jungen nicht gelöst werden könnte? Wohl nicht! Alles was knallte und krachte war doch wunderbar! Doch hierzu später mehr. Mein Freund Tobias, der bei mir um die Ecke wohnte und in der Schule keine Leuchte war, hatte genauso wie ich noch Ferien und holte mich gelegentlich ab, um mit mir Streiche zu treiben oder sonstiges zu tun. Es war ein sehr heißer und stickiger Spätsommertag, als er kam und nach mir fragte. Natürlich hatte ich Zeit.
Er wollte mit mir ein wenig durch das Stadtviertel, in dem wir wohnten, schlendern, um zu schauen, was es Neues oder Interessantes gebe. Tobias war ganz im Gegensatz zu mir ein recht dunkler Typ, dunkle Augen, dunkle Haare, alles dunkel. Ich selbst bin stets, wie eingangs beschrieben, hellhäutig und blond gewesen. Meine zwölf Jahre sah man mir wegen meiner geringen Körpergröße nicht unbedingt an. Tobias war gut einen halben Kopf größer als ich, und das, obwohl ich ein halbes Jahr älter war. Unsere Wohngegend bestand fast ausschließlich aus Einfamilienhäusern; die eine oder andere Mietwohnung war wohl auch dabei, aber ansonsten war alles in privater Hand. Unser Domizil war ein Bungalow, er bestand aus weißen Klinkern und einem schwarzem Dach. Mein Vater hatte sich oft überlegt, ob er seinen Flachbau zu einer gewöhnlichen Behausung umbauen solle, er hegte also die Absicht, auf das Gebäude einfach einen Dachstuhl zu montieren und diesen mit Ziegeln zu versehen. Aber daraus wurde lange Zeit nichts; auch habe ich mich immer gefragt, wozu dies im nachhinein nötig sei, aber wenn er es so wollte - bitte sehr.
Tobias’ Eltern besaßen eine hübsche Villa, seine Eltern waren Akademiker; ich glaube, seine Mutter lehrte an irgendeiner Schule und der Vater war Ingenieur. Warum das Söhnchen in der Schule nie so recht mitgekommen sei, ist mir von daher nie ganz plausibel gewesen.
Wir bummelten also durch unsere Straße und unterhielten uns über unsere schulische Zukunft. Mein Begleiter teilte mir mit, er werde wahrscheinlich nach Abschluß der neunten Klasse eine Lehrausbildung anstreben, welche er dann mit etwa achtzehn oder neunzehn Jahren beenden könne. Vielleicht noch eine Weiterbildung zum Meister und anschließend wäre sein Ziel im wesentlichen erreicht. Außerdem habe er bereits von Daniels gutem Zeugnis gehört, das ihm möglicherweise eine hübsche Karriere bereiten werde. Eigentlich sei er ja ein bißchen neidisch auf ihn, aber die Talente seien halt vielschichtig verteilt. Der eine so, der andere anders.
Die Sonne strahlte hell vom Himmel und brachte den Asphalt stellenweise zum Reflektieren. Die bunte Baummischung beherbergte allerlei Vogelnester, die hoch in den Wipfeln gebaut worden waren und nun von den Alttieren unablässig angeflogen wurden. Da! Ein Nest mit sechs Nachfahren. Und dort! Sogar sieben! Die Luft flimmerte über der Fahrbahndecke und zeigte ein verwaschenes Bild. Ein Nachbar mit seinem Hund spazierte um die Ecke und nickte kurz zum Gruße. Ein paar Autos kamen angefahren und bahnten sich ihren Weg durch die schmale Straße. Dieser Stadtteil war nicht häßlich, nein, hier hatte ich mich eigentlich immer recht wohl gefühlt und keine Sorgen verspürt. Eine Katze kreuzte unseren Weg und war wahrscheinlich darauf aufmerksam geworden, daß ab und zu einige Küken aus den Nestern fielen, die dann natürlich eine leichte Beute waren. Ich fragte Tobias, ob er sich von dem letzten Funkenflug erholt habe. Die Sache ist nämlich so gewesen: einige Tage zuvor hatten wir in einem angrenzenden Waldstück wieder einmal Äste und herabgefallenes Laub angezündet. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wußten, war folgendes: unter dem Haufen befand sich eine alte Batterie, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Sie erhitzte sich natürlich und explodierte. Da sich mein Freund in der Nähe der Feuerstelle befand, bekam er mächtig viele Funken ab, die sein T-Shirt regelrecht durchsiebten. Da mußte er sich selbstverständlich bezüglich seiner Mutter eine gute Ausrede einfallen lassen. Er behauptete daheim, „böse, große Jungens" hätten ihn mit Zigarettenstummeln beworfen. Natürlich hat man ihm nicht geglaubt und er bekam deswegen viel Ärger. Er schilderte mir den Sachverhalt und gab zu bedenken, daß er in nächster Zeit von solchen Sachen die Hände lassen wolle. Nun gut, ich verstand sein Anliegen und bedrängte ihn auch gar nicht.
Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu. Die Luft wurde etwas weniger schwül und somit besser atembar. Ich wies darauf hin, daß wir lange nicht mehr schwimmen gewesen seien, also fragte ich ihn, wie es darum stehe. Nein das gehe nicht, er müsse sich auf den baldigen Schulbeginn vorbereiten, seine Eltern bestünden darauf.
Auch darauf gab es nichts zu erwidern. Wir trennten uns an dieser Stelle, denn es war Zeit, das Abendessen einzunehmen, und ich wollte meine Mutter nicht durch ein etwaiges Zuspätkommen verärgern. Wir verabschiedeten uns voneinander und gingen unserer Wege. Meine Mutter hatte tatsächlich schon alles vorbereitet und wartete bereits auf mich.
 



 
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