Romanhelden sterben früher.

pleistoneun

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Seit Tagen schon hatten sie keinen Proviant mehr. Winker und sein alter Schulfreund Schwerthelm, der Schriftsteller, hatten wenig Aussicht, mit dem kleinen Schiffchen aus den mächtigen Fängen des Meeres lebend raus zu kommen. Die beiden teilten ein viel zu kleines Rettungs-U-Boot, das nun schon seit Tagen orientierungslos auf den aufgewühlten Wellen dahinwackelte. Wie es soweit kommen konnte, wussten sie nicht mehr. Schwerthelm, der Schriftsteller, arbeitete trotz dieses Dilemmas an seinem aktuellen Roman, dem er sich schon seit Monaten jede freie Minute widmete. Er war beinahe abgeschlossen und schrieb gerade mit großer Aufregung das Finale seines letzten Kapitels, welches davon handelte, dass sich zwei Schulfreunde nach einem Zwischenfall auf einem Luxusdampfer im letzten Moment auf ein badewannengroßes U-Boot retten konnten. "Beinah wie im echten Leben, Winker, beinah wie im echten Leben!!", rief Schwerthelm begeistert. Wasser begann ins Innere des U-Bootes zu laufen. Schwerthelm betrachtete seine nassen Schuhe: "Mein Gott, wie authentisch…", dachte er. Eine mittelgroße Welle, die das halbe Faltboot unter dem Wasser begrub, zwang Schwerthelm über Deck weiterzuarbeiten. Doch der Untergang des Ein-Mann-U-Bootes schritt immer schneller voran. Bald verloren sie den Boden und unter ihren Beinen. Der eine mit einer Schreibmaschine unter dem Arm, der andere das 7-Sterne-Klopapier des Luxusdampfers. So standen sie da und versanken langsam im Meer.

Bereits bis zu den Hüften reichte das schwarze Nass, als Schwerthelm den erlösenden Einfall hatte: Er wendete kurzerhand das Blatt Schreibmaschinenpapier und begann auf der Rückseite einen völlig neuen Roman zu verfassen, der davon handelte, dass zwei alte Schulfreunde gerade mit dem Flugzeug nach New York unterwegs waren. Er konnte gerade noch das Datum "11. September 2001" in die Maschine tippen, bevor es krachte.
 



 
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