Roter Hut

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Penny

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Roter Hut

Ihre Augen waren geschlossen. Sie träumte. Der Kleine schrie, doch sie wollte träumen. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Sie bemühte sich das klagende Hunger-, Durst-, und Nicht-Schlafen-Wollen-Gezeter ihres Sohnes zu überhören. Sie brachte es nicht übers Herz ihn jetzt einfach allein in seinem kleinen Bettchen liegen zu lassen. Sie wusste, dass er simuliert, aber einer Mutter kann das nicht egal sein.
Sie setzte sich vor sein Nachtlager, das er mit genau siebzehn Wolldecken, zwei Kassettenbetten und siebenundzwanzig Kopfkissen gebaut hatte, um seine persönliche Höhlenatmosphäre zu schaffen. Es war zwar nicht herausragender als die Höhlen der anderen Kinder, aber sie fand es kreativ und ihr Sohn kann solche Dinge sowieso am Besten, soviel steht fest.
Sie streichelte ihm sanft über seine Wangen. Er strahlte als er seine Mutter so nah bei ihm spürte. Er war überglücklich. Sie liebte es ihn so zu sehen und verharrte eine Weile neben ihm. Sie schauten sich an, doch er lächelte nun nicht mehr. Tiefe Trauer spiegelte sich in seinen Augen wider.
,, Gehst du fort?“ fragte er besorgt. Er strahlte nicht mehr, vielmehr war er den Tränen nahe.
,, Nein Schatz, ich werde niemals fortgehen“ antwortete sie, wobei sie bemüht war ihren Schmerz nicht zu zeigen.
Er war erst drei Jahre alt, aber seine Augen hatten schon jetzt diesen melancholischen Blick, von dem er sich niemals würde lösen können.
Sie konnte es auch niemals, doch sich in diesem Augenblick den Kopf darüber zu zerbrechen brachte nichts. Er hatte seinen Vater, und er ist ein guter Vater. Sie musste sich also keine Sorgen machen. Ihrem Sohn würde es gut gehen.
Sie wollte nicht weiter nachdenken, aber konnte es nicht abstellen. Ihr fiel eine Situation ein, die nun drei Monate zurück lag.
Sie hatte ihr kleines, größtes Glück an der Hand. Beide standen sie vor diesem Schaufenster mit den altmodischen Sachen. Ein roter Hut war ihr Objekt minutenlanger Beobachtungen. Als sie ihn damals täglich von dem Kindergarten abholte, gingen sie immer an genau diesem Schaufenster vorbei und blickten oft eine Stunde lang auf diesen Hut.
Er würde dann immer sagen: ,,Erzähl mir von Oma und ihrem Hut.“
Sie erzählte dann immer von ihrer Mutter, die als junge Frau einen solchen Hut besaß und ihn mit Stolz trug. Sie nannte ihn ihren Glückshut und bewahrte ihn sogar in einer Glasvitrine auf. Sie gewann jedes Spiel, egal was es für eins war. Und das nur mit diesem Hut. Sie sagte immer: ,,Solange ich diesen Hut trage, kann ich lächeln und eines Tages wirst auch du ihn tragen. Was dann geschah, erzählte sie dem Kleinen nur einmal.
Als sie selbst erst fünf Jahre alt war, starb ihre Mutter. Sie war damals an einem Sonntagmorgen aufgewacht und ging wie üblich an den Küchentisch, an dem bereits ihr Bruder und ihr Vater saßen und ihr mitteilten, dass ihre Mutter einen Herzstillstand nicht überlebte. Sie war damals nicht in der Lage zu trauern, weinte nicht und ging noch nicht
einmal zu der Beerdigung.
Sie konnte nicht verstehen, dass ihre Mutter nicht auch nachts den Hut trug, denn dann wäre sicher nichts passiert. Sie nahm in damals sofort aus der Vitrine und umschlang ihn so fest, dass nichts von seiner wunderschönen Form mehr zu erkennen war. Und sie schwieg. Ganze vier Monate brachte sie kein einziges Wort aus ihrem Mund und niemals ließ sie den Hut los. Ihr Vater war damals mit der Situation überfordert. Zu seiner eigenen Trauer kam auch noch seine kleine Tochter, die nicht mehr mit ihm sprach und sich nur noch von dem Hut ihrer Mutter berühren ließ. Er versuchte alles. Sprach oft stundenlang mit ihr, ohne dass sie antwortete. Er ging mit ihr zu einem Psychologen, der trotz vieler Sitzungen kein Ziel, geschweige denn irgendeinen sichtbaren Fortschritt erreichte. Er kochte ihr Lieblingsessen, brachte sie täglich zur Schule, holte sie wieder ab und spielte den Rest des Tages ihre Lieblingsspiele. Doch niemals redete sie mit ihm oder nahm ihn in den Arm.
Er zerbrach an seiner Trauer und den Sorgen, die er sich um sie machte. Er starb nur ein paar Monate nach seiner Frau.
Ihr Bruder gab damals ihr die Schuld und nahm ihr den Hut weg. Anschließend verbrannte er ihn vor ihren Augen. Sie stand Tränen überströmt vor dem kleinen Feuer, das er gemacht hatte ohne nur einen Ton von sich zu geben. Er schrie und verfluchte sie, entschuldigte sich wenige Minuten später und schloss sie in die Arme.
Sie musste immer daran denken, wenn sie diesen Hut sah, der dem ihrer Mutter bis ins kleinste Detail glich.
Ihr kamen einmal die Tränen und sie wusste, dass ihr Kleiner es mitbekommen hatte, doch als er fragte, sagte sie ihm, dass sie so traurig über den Tod ihrer Mutter war.
Er zog die Augenbrauen hoch und sie wusste, dass er etwas spürte, doch er fragte nicht und sie beließ es dabei. Sein Gespür war weiter, als ihres jemals sein würde. Er merkte jede Regung, jede Veränderung an ihr, egal wie sehr sie versuchte es zu überspielen. Ein kleiner sechsjähriger Junge kann zu sehr viel mehr imstande sein, als man erahnen kann.
Sie hatte sich mittlerweile hingelegt und hörte die Tür einen Spalt weit aufgehen. Der kleine Sonnenschein schlüpfte durch den schmalen Türspalt und kuschelte sich an sie. Sie schlang ihre Arme um ihn. Wieder versank sie in Gedanken, während sein Atem gleichmäßig an ihrem Arm vorbeizog.
Ihr Bruder hatte ihr vor einigen Jahren erzählt, dass es damals nicht nur der Herzstillstand war, an dem ihre Mutter starb. Sie hatte schon lange diese Herzprobleme gehabt und es war nur eine Frage der Zeit bis zu ihrem Tod.
Genau wie jetzt bei ihrer Tochter. Diese lag nun in ihrem Bett und hatte einen geliebten Menschen neben sich, den sie nun verlassen müsste.
Sie hatte ihrem Mann bescheid gesagt. Er würde dem Kleinen erzählen, dass seine Mutter in den Urlaub gefahren sei und dort sehr viel glücklicher werden würde. Hoffentlich würde er die Geschichte glauben. Denn wenn er denkt, dass es ihr gut geht, würde er nicht trauern, so wie sie es getan hatte, als ihre Mutter starb.
Sie hatte die letzten Monate oft in Krankenhäusern verbracht und war zu schwach sich um ihn zu kümmern. Sie wollte nicht, dass er sieht wie sie langsam abbaute und nicht mehr dieselbe ist.
Sie stand nun auf und nahm ihren Koffer.
Sie ging zur Tür, schaute sich noch ein letztes Mal zu ihm um. Sie wollte gehen, doch sie konnte nicht. Sie streichelte noch einmal über seine rechte Wange und begab sich noch erneut auf den Weg zu der Tür. Nun drehte sie sich nicht um. Sie griff nach ihrem Koffer und ging.
Sie würde ihren Sohn nie wieder sehen. Bereits bei dem Gedanken daran musste sie wieder weinen. Sie hätte niemals gedacht, dass es einen noch schwereren Moment geben könne, als den, den sie damals bei dem Tod ihrer Mutter hatte durchleben müssen. Es gab ihn. Ihre Tränen strömten über das ganze Gesicht. Während des Weges zum Bahnhof, beim Einsteigen in den Zug und auch als sie den jungen Mann fragte, ob der Platz neben ihm noch frei sei.
Sie musste noch einmal das Gesicht des kleinen Jungen sehen und öffnete ihren Koffer. Sie wollte sich eine Foto von ihm herausfischen, doch spürte etwas Anderes zwischen ihren Fingern. Sie griff verwirrt danach und zog es aus dem Koffer heraus. Es war ein Hut. Genau derselbe Hut. Rot, mit kleiner Blume an der Seite und einer breiten Krempe. Der Hut ihrer Mutter, so schien es. Sie erblickte nun einen Zettel. Sie las aufmerksam die Worte, die in krakeligen Buchstaben mühsam verfasst worden sind: ,,Damit du lachst, wenn du Oma wieder siehst.“
 

katia

Mitglied
wow!!

liebe penny,

eine sehr gute geschichte, die durch und durch geht!

kompliment
sagt
katia

p.s.:achso, klitzekleine flüchtigkeit neben paar kommafehlern hab ich entdeckt: „Solange ich diesen Hut trage, kann ich lächeln und eines Tages wirst auch du ihn tragen.[red]"[/red]
 

Penny

Mitglied
Liebe Katia,
Vielen Dank für deine Antwort. Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat!
Lieben Gruß
Penny
 



 
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