Rotes Kreuz

Creator

Mitglied
Rotes Kreuz

Tief rot leuchtet es über ihr und ölschimmernde Pfützen spiegeln den verhangenen Himmel wider. Fast stoisch steht sie vor einer weißen Linie, ihr Körper scheint sich nicht zu regen. Ihre Augen fixieren das rote Licht, zucken manchmal hin und her, als suchten sie etwas oder stellten komplizierte Berechnungen an. Ihre gelbe Öljacke leuchtet grell und weit, gibt all denen, die sich ihr nähern, ein deutliches Zeichen: Seht her und gebt Acht, wenn ihr mir zu nahe kommt! Ihre schwarzen Halbschuhe, für dieses Wetter viel zu flach, stehen in einer Wasserlache. Es macht ihnen nichts aus, standen schon so oft im Regen und halten dicht. Ihre Arme hängen gerade am Körper herunter und tragen Hände, die eingehüllt in schwarze Strickware mit ihren Innenflächen nach hinten zeigen. Ihre rechte bildet eine Faust, die sie im Takte ihrer unruhig flackernden Augenlider öffnet und wieder schließt.

Immer noch leuchtet das rote Licht. Schweres Metall durchfährt ihr Sichtfeld. Blaues, Graues, Weißes schießt von beiden Seiten an ihr vorbei. Der Lärm macht ihr schwer zu schaffen, lässt ihre Stirn krausen. Vor allem die riesigen blechernen Wände, die eng an ihrer weißen Linie kratzen, machen ihr Angst und verdecken zeitweilig ihren Orientierungspunkt. Mit ihren großen Reifen zerquetschen sie Pfützen, deren Überreste auf ihre Schuhe fliehen, doch sie rührt sich nicht. Keinen Schritt zurück, denn den müsste sie noch einmal gehen, sobald das Licht die Farbe wechselt. Noch bleibt es rot und hält sie in Schach. Doch ihr innerer Zeitmesser, der bei Erreichen der weißen Linie seine Arbeit aufgenommen hat, sendet plötzlich Signale aus. Ihre Faust bleibt nun geschlossen und ihre Augenlider klimpern aufs Heftigste auf und ab. Zeugnisse höchster Anspannung.
Das rote Licht strahlt nicht mehr allein. Mach dich bereit, aber geh noch nicht los! hatte sie einmal gelernt; lange ist das her. Aber sie ignoriert die Regel, indem sie auch den kurzen Moment der Gelbphase in Meter umwandelt. Einen wird er ihr bringen, und jeder einzelne, der hinter ihr liegt, ist ein Segen. Das Getöse der fahrenden Ungetüme ist dem monotonen Gesäusel harrender Motoren gewichen, was ihr ein bisschen Sicherheit für die ersten Schritte geben wird.

Ihr linker Schuh entzieht sich ruckartig der Wasserpfütze und steigt entschlossen hinab auf ungeliebtes Terrain. Mit bedächtigen Bewegungen begibt sie sich in den Wettstreit mit der Zeit. Konzentriert mechanisch, stetig. Die kleinen Wasserlachen vor ihr muss sie durchqueren, sie auszusparen würde nur den Weg verlängern und verbietet sich, denn das Licht wartet nicht. Ihre Augen sind jetzt weit geworden, nehmen alles auf, haben das Grüne fest im Blick. Auch ihre Ohren sind äußerst wachsam, konzentrieren sich auf die linke Seite, denn von dort droht die erste Gefahr. Doch bis zur Mitte wird sie es schaffen, wird das dumpfe Dröhnen, das in ihrem Rücken und von vorn in ihre Richtung schwenkt, hinter sich lassen. Noch wacht die satte Farbe über sie und lässt sie gewähren. Behände schiebt sie voran, bis sie sich erneut bereit machen soll. So flammt die Warnung plötzlich auf sie herab, Immer hier, auf der Mitte ihres beschwerlichen Weges schickt das ungeliebte Rot seinen Vorboten ins Rennen: Beeil dich, der über mir wartet nicht lange! Sie weiß, dass ihre schwerste Stafette nun beginnt, eine Prüfung, die sie jeden Tag aufs Neue bestehen muss. Und sie ahnt, was nun geschieht oder geschehen kann. Bissige Routine.
Manche würden hupen, laut und vorwurfsvoll, andere verschleuderten rhythmischen Motorenlärm als Ausdruck ihrer Ungeduld, aggressiv und fordernd, als wollten sie gelbe Öljacken fressen. Einige wenige waren so, zum Glück nicht alle!

Dieses Mal geht alles gut. Die dampfende blecherne Kavallerie geduldet sich brav hinter ihrer Markierung, bis sie das sichere Ufer erreicht hat. Mit letzter Kraft erklimmt sie die kleine Stufe, die auch auf dieser Straßenseite von schmutzigen Wasserpfützen umsäumt ist. Sie watet hindurch, nimmt es genügsam hin, weil sie weiß, dass Ufer manchmal nass sein können. Sie hält für Sekunden inne und lässt zum Dank an ihren unsichtbaren Beistand mit ihrer rechten Hand ein flüchtig angedeutetes Kreuz über ihre Brust schnellen. Erleichtert schaut sie zurück ins rote Licht und zeigt ihm die Stirn, die nun frei und breiter geworden ist, frei von Furchen, frei von Angst.

Doch die wird sicher wiederkommen, denn schon bald wird sie zurück sein, wird erneut ihren Weg gehen müssen, den einzigen zu ihrer kleinen Wohnung. Immer hier entlang, immer über diese große teuflische Kreuzung.
 



 
Oben Unten