Rückfall

Die Tür fällt ins Schloss. Ich schließe ab und gehe die Treppe runter, wie so oft. Seit 53 Jahren wohne ich in diesem Haus. Wie oft habe ich dieses Treppenhaus gesehen. Die braun-weiß marmorierten Stufen, das grüne Treppengeländer, die gräulich verputzten Wände. Ein angenehmes Gefühl von Bekanntsein steigt in mir auf. So als wenn man nach Jahren an einen Ort zurückkehrt, an dem man einen Teil seines früheren Lebens verbracht hat. Nur war ich nicht weg. Eigentlich bin ich nie viel unterwegs gewesen. Schon als Kind war ich ängstlich. Hielt mich an allem Gewohnten und Vorhersehbarem fest. Deshalb wohn ich wohl -als 53-jährige Frau – immer noch in meinem Elternhaus, in Bremen, in der Gartenstraße 4. Langsam erreiche ich das Erdgeschoss. Hier wohnt meine Mutter, mittlerweile über 80. Unser Verhältnis ist angespannt, schon seit langem. Früher haben wir oft gestritten. Jetzt haben wir uns nicht mehr viel zu sagen. Wir leben unsere eigenen Leben. Das ist nicht immer so gewesen. Als ich jünger war, wollte ich gerne gefallen, ihr gerne gefallen, jedem gerne gefallen. „Sei höflich und bescheiden, dann mag dich jeder leiden“, das war mein Motto. Nach meinem Realschulabschluss habe ich sogar eine Lehre als Einzelhandelskauffrau abgeschlossen, um später in dem Laden meiner Eltern mitarbeiten zu können. Ich dachte, ich kann etwas beisteuern. Die Idee eines gemeinsamen Familienbetriebs fand ich schön. Doch mir viel schnell auf, dass man es meiner Mutter nicht Recht machen konnte, dass man es überhaupt niemandem Recht machen konnte. Allein der Versuch dazu war schon ein Fehler. Kurz nachdem ich die Klinik verlassen hatte, schaute ich bei meiner Mutter rein. „Wie geht’s dir?“ „Gut, gut. Ich bin müde. Das ganze hat mich doch mehr mitgenommen als ich erwartet hatte. Das letzte Mal war es irgendwie leichter. Vielleicht auch, weil es das erste Mal war. Neugier und Unruhe dazu kamen. Die einem von dem Eigentlichem abgelenkt haben. Und die Leute da, schon nicht immer einfach. Anfangs.“ Sie fiel mir ins Wort: „Na dann ist es doch gut, dass du das jetzt hinter dich gebracht hast.“ „Ja, ja“, sagte ich. „Darfst du denn jetzt gar nichts mehr trinken?“, fragte sie mich mit besorgter Miene. „Denn“, fügte sie hinzu, „dass wäre doch wirklich schade. Dann könnten wir abends gar kein Glas Wein mehr zusammen trinken.“ „Ja, das ist schade.“ Mehr sagte ich nicht.
Während der Ausbildung lernte ich auch meinen späteren Ehemann kennen. Es war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick und dennoch, wir waren glücklich. Er hatte diese innere Wärme. Er vermittelte einem das Gefühl uneingeschränkt akzeptiert zu werden. Wir ergänzten uns gut. Ich konnte ihm Stabilität, er mir Spontanität geben. Aber das ist alles Schnee von gestern. Mein Mann ist schon lange tot. Geblieben sind mir meine zwei Kinder. Ja, sie sorgen sich um mich. Die letzten Wochen, als ich in der Klinik war und auch danach. Sie waren da, wir haben telefoniert, sie wollten mir helfen. Und doch leben sie ihr eigenes Leben und das sollen sie auch. Das wollte ich immer. Sie sind jung. Anfang zwanzig. Sie sollen ihren Weg in die Welt finden. Ihre Ausbildungen abschließen, Geld verdienen, einen Partner finden. Alles was eben zu einem - so dachte ich immer - guten Leben dazu gehört. Meine Tochter sagt immer: „ Mama, denk nicht soviel über die Vergangenheit und auch nicht soviel über die Zukunft nach. Das Leben findet jetzt statt in diesem Moment. Genieß den Moment.“ Schöne Worte. Letztens kam sie vorbei. Wir haben mich bei einem Dating-Portal angemeldet. Damit ich noch mal jemanden finde. Jemandem, mit dem ich meinen Lebensabend verbringen kann. Das würde mir gut tun. Aber will ich das denn?
Ich habe das Haus bereits verlassen und überquere den Hinterhof. Rechts das alte Backhaus, in dem mein Vater früher die Backwaren zubereitet hat. Links die uralten Stallungen aus einer Zeit, in der hier noch Schweine und Hühner gehalten wurden. Aus einer Zeit, in der unserer Stadtteil noch einen dörflicheren, weniger städtischen Charakter hatte. In der Ecke hinten rechts. Die kleine Gartenecke, die wir für den Sommer eingerichtet haben. Mit einer Hecke wuchtiger Geldbäume davor. Als Sichtschutz, als Schutz vor den Blicken der anderen Mieter. „Wovor schützt man sich eigentlich.“, frag ich mich jetzt. Langsam erreiche ich die Auffahrt, schließlich die Straße. Ich biege rechts ein. Nach ein paar Schritten sehe ich sie schon. Meine Kollegin mit ihrem Ehemann. Auch das noch. Kann man denn nicht mal ungestört einkaufen gehen. Sie lächelt mir zu und hebt leicht die Hand zum Gruß. „Vera, wir haben uns so lange nicht gesehen. Wie geht es dir?“. „Gut, gut. Und selbst?“, antworte ich. „Ja, ja sehr gut, danke. Ach Vera, das tut mir alles so Leid für dich“ führt sie fort, „und wie das alles gelaufen ist. Das war nicht schön. Du musst wissen. Niemand will dir was Böses. Aber auf der Arbeit. Das geht nun mal nicht. Fühl dich nicht hintergangen. Am Ende ist es doch besser so. Nicht wahr?“ „Du hast womöglich Recht.“ Sage ich einsichtig. „Eine Abmahnung, das ist noch kein Untergang. Du wirst sehen. Jetzt geht’s wieder Berg auf.“ Sie lächelt mir aufmunternd zu. Ich lächle zurück. Wir verabschieden uns.
Der Supermarkt ist nicht mehr weit. Am Ende der Straße. Eine von diesen Straßen, auf die man einbiegt und sich im gleichen Moment unbedeutend fühlt. Prächtig, alleeartig bepflanzt. Rechts die Praxis meines Hausarztes. Wie viele Ärzte, Psychologen, Krankenschwestern ich in letzter Zeit gesprochen habe. Der Wahnsinn. Und so viel Kranke. Sogar Kranke, die sich in ihrer Krankheit noch feiern. Über Saufgeschichten lachen, sich kennen, Kneipengeschichten austauschen. Wo sind die Leute meiner Sorte. Gibt es die überhaupt. Gruppengespräche, Einzelgespräche und alle waren mir fremd. Die Ärzte sagen immer. Frau K. haben sie in letzter in den Spiegel geschaut. Wenn sie so weiter machen ist es bald vorbei. Ihre Leberwerte sprechen für sich. Aber immer dieses länger leben, älter werden. Ich kann es nicht mehr hören. Ich bin müde.
Unauffällig gehe ich in den Supermarkt. Bloß nicht noch mehr Leuten über den Weg laufen. Alles geht schnell. Zwei Pakete Wurstaufschnitt für meinen Sohn, ein bisschen Gemüse, ein bisschen Obst. Beiwerk. Und dann zwei Flachen Müller Thurgau. Hauptwerk. Ich stelle mich an der Kasse an. Die Kassiererin. Man kennt sich. Ob sie sich manchmal fragt? Aber sie ist freundlich. Lässt sich nichts anmerken. Wir verabschieden uns höflich.
Die Tür fällt ins Schloss. Ich bin wieder zuhause. Endlich. Ein angenehmes Gefühl von Sicherheit umgibt mich. Langsam gehe ich in die Küche, stelle meine Einkäufe ab. Gehe zurück auf den Flur, hänge meine Jacke auf. Gehe ins Bad, wasche mir die Hände. Mein Sohn scheint nicht zuhause zu sein. Er ist wohl noch an der Uni. Überflüssiger Weise gehe ich noch einmal in mich. Aber der letzte Zweifel ist schon vor langer Zeit verflogen. Ich hole den Flaschenöffner aus der Schublade, schraube den Korken aus der Flasche. So vertraut. Beinahe festlich gieße ich mir ein Glas ein. Trinke es in eins aus. Und gleich noch eins. Und schon ist sie wieder da. Die Wärme.
 



 
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