SIE

Markus Veith

Mitglied
SIE

Du bist ein Mann.
Was antwortest du auf die Frage, auf was du bei einer Frau als erstes achtest? Auf die Augen? Das Gesicht? - Sei nicht albern, so hoch kommt man in den meisten Fällen doch erst gar nicht. Ich hege einfach die Ansicht, daß diese Augen-Gesicht-Hände-Antworten nur Alibi-Gebrabbel dafür sind, falls diese berühmte Frage mal von einer gutaussehenden Frau gestellt wird.
Im Wesentlichen läuft es immer gleich ab. Du bist ein männliches Erdengeschöpf, Gattung Homo sapiens, ohne große Wenns und Abers. Du sitzt da, in Jeans und Baumwolle, wie jeder andere auch, und tust so, als wolltest du auch so sein, wie jeder andere auch. Du weißt, daß die anderen wissen: Du bist ein stilles Wasser, und die sind bekanntlich tief. Doch stille, tiefe Wasser stinken auch, und daher ... nun ja, wundere dich nicht, wenn einige weibliche Augen dich ansehen wie etwas, das gerade aus dem Salat gekrabbelt ist.
Du schaust dich um, zwischen all diesen ganzen grauen Alltagsmutanten, die ihre Kreditkarten vorzeigen, als seien sie Mona Lisas. Und zwischen eben all diesen No-way-out-Typen passiert es mit einem Male ...
Paff!!
Die Menschin, die dir gefällt. Auf Anhieb. Da ist sie.
Und die Zeit ... sie bleibt einen winzigen, einen klitzekleinen Augenblick stehen. Oder sie strauchelt und fällt hin. Vielleicht schlägt sie sich das Knie auf, wenn sie eines hat, und flucht. Jedenfalls vergißt sie für diesen molekularkleinen Moment das Ticken. Die ganze Welt um dich herum hält ganz kurz und nur für dich den Atem an. Voller Spannung, was als nächstes wohl geschehen mag.
Doch gleich darauf wird sie sich wieder bewußt, daß sie sich ja auf ihren eigenen Ablauf konzentrieren muß und sie atmet wieder aus.
Das Leben geht weiter. Aber nun viel, viel schneller.
Es überspringt die nächsten zwei bis drei Momente, und in diesen Momenten lernst du sie kennen.
Du verliebst dich in sie und sie sich scheinbar auch in dich. Ihr fahrt in den Urlaub. Ihr liebt euch, bis es weh tut. Ihr zieht zusammen. Ihr heiratet. Ihr bekommt Kinder. Süße, kleine Wonneproppen, die selbstverständlich alle ihre Finger und Gliedmaße in der richtigen Anzahl und auch genau dort haben, wo sie sein sollen. Die wunderschöne blaue Augen haben, obwohl du grüne hast und ihre Mutter braune. Die dich Nacht für Nacht aus dem Schlaf krakeelen, weil sie sich vollgeschissen haben oder den ersten Zahn bekommen. - Süß. -
Und die Kinder werden groß.
Und du und sie. Ihr werdet gemeinsam ganz, ganz wahnsinnig glücklich und ganz, ganz wahnsinnig alt. Natürlich gab es da hin und wieder mal ein fremdes, neues Betthupferl, aber eure Liebe zueinander steht jede Krise standhaft durch.
Oh, sie ist schon eine tolle Frau. Wenn sie weint, weint sie nicht nur, sie sagt auch noch: "Ich bin traurig."
Du merkst kurz im Vorbeifliegen, daß du die Fehler, von denen du heute noch gelobst, sie nie zu begehen, letzten Endes wirklich vermieden hast. Dafür begehst du andere, viel schwerwiegendere.
Ihre heutige Pfirsichhaut wechselt mit den Jahren zu einer Orangenhaut und entfaltet sich am Ende zur reifen Bratapfelpelle. Am Ende bist du froh, daß du die Nächte neben und mit ihr überlebst, und du schenkst dem Bimsstein mehr Nähe als sonst jemandem.
Und dann macht es plötzlich wieder Piff-Paff oder so, und die zwei bis drei Momente sind vorbei. Du stehst offenen Mundes irgendwo auf diesem erdigen Welttrabanten und wunderst dich, wie sie so mir-nix-dir-nix einen anderen abknutschen kann, der urplötzlich dazugekommen ist.
'Irgendwie ist das doch dumm.' denkst du dir. Die ganzen weiblichen Prozente der Weltbevölkerung sind im Grunde genommen potentielle Lebenspartner, und du weißt eigentlich nicht, ob du davon begeistert sein sollst oder besser nicht.
Meistens folgt nach dieser fundamentalen Einsicht ein kleiner Seufzer und damit hat es sich fürs erste ... Bis die nächste SIE in Sicht kommt ...
Und so füllen sich überlebte Abende mit Déjà-Vu's.
 
G

Guest

Gast
Pah! Das Ende ist ein bisschen enttäuschend, der letzte Satz ist aber sehr gut. Wenn ich einen Mann wäre, ich würde mich einfach nicht in so eine Frau verlieben, die ich nach einiger Zeit wechseln muss. Und wenn die Frauen ihre Männer verlieren, dann sind nur die Frauen daran schuld. Mit der Zeit werden sie einfach verdammt uninteressant, gell?
 

urte

Mitglied
Hallo, also, ich verstehe das etwas anders: Da gibt es eben diese winzigen "Zeitreisen" in nie gedachte Möglichkeiten, solche "Augenblicks"-Leben, - und gewiß nicht nur von "ihm" aus. Schöne Idee, Gruß, Urte
 



 
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