SPIEGELSCHRIFT, drittes Kapitel

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Nina Trebesi

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Als wir viele Stunden später aus dem Flèche d'Or kommen, regnet es. Wir nehmen ein Taxi.
Wir sitzen nebeneinander auf der weich gepolsterten Rückbank, gelassenes Tuscheln aus dem Radio, ein wohlwollend schweigender Taxifahrer. Das Taxi gleitet langsam durch die regnerische Nacht, und ich sehe, wie die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos tiefe Säulen in den nassen Asphalt brennen.
Er legt nicht den Arm um mich, weil er denkt, ich würde es banal finden, wenn er das macht, worauf ich hoffe.
Als das Taxi vor meinem Haus hält, lässt er mich aussteigen, und nennt dem Taxifahrer seine Adresse. Weil er denkt, ich würde es banal finden, wenn er...

***

"Und seitdem wartet Ihre Mutter auf seine Rückkehr", murmelte Haydée in sich versunken.
Ich hatte ihr erzählt, mein Vater sei in den Bergen abgestürzt, man habe aber seine Leiche nie gefunden.
"Aber nein. Meine Mutter hat nie daran gezweifelt, dass er tot ist."
Doch Haydée lächelte nur und sah den verschmelzenden Paaren nach, die an uns vorbeikreisten. Die schwermütige Musik hüllte uns ein wie weiche Schneeflocken, dunkle, warme, weiche Flocken. Ich drehte mein Glas auf dem Tischchen hin und her. Haydée starrte nun auf dessen Wölbung wie eine Wahrsagerin auf ihre Kristallkugel. Ich wartete auf ein Orakel.
"Wissen Sie, dass ich Ihre Mutter sein könnte, Anna?" sagte sie schließlich.

***

Ich habe Phil gesagt, ich will, dass wir nur noch einfache Freunde sind, statt, wie er es anfangs ängstlich definiert hatte, "Freunde mit ein bisschen mehr". Eine Entscheidung, die ich ganz plötzlich getroffen hatte, als er im Taxi davonfuhr, und von der ich auch während der darauf folgenden Woche, in der er mich nicht angerufen hat (wahrscheinlich wegen "mi noche triste"Angst bekommen), nicht Abstand genommen habe.
Er hat mich groß angesehen und eingewilligt, und seitdem ruft er mich fast täglich an. Aber ins Tangolokal will er nicht mitkommen.
Auch Claire ruft mich seit Tagen an, doch nur, um unser geplantes Treffen immer wieder zu verschieben. Heute Abend muss sie noch recherchieren: Claire arbeitet für eine intellektuelle Zeitschrift. Und die interessiert sich nun ausgerechnet für einen Schriftsteller aus Buenos Aires, der über Nacht verschwunden ist: nach Frankreich durchgebrannt, wird vermutet. Eduardo Arrojo heißt der Schriftsteller, einer dieser Namen, die zu Haydée passen würden: Eduardo oder auch Juan Carlos, Raul oder Roberto, und ich stelle mir vor, wie Eduardo Arrojo nun bei Haydée untertaucht, Haydée, seine nie vergessene große Liebe...

***

"Vielleicht ist Eduardo Arrojo dein Vater", sagt Phil aus dem Telefonhörer. Diese blühende Fantasie! Bloß, weil ich ihm einmal erzählt habe, mein Vater habe heimlich Geschichten geschrieben, bevor er aus unserem Leben verschwunden sei. Habe sie in einer Kiste im Keller gefunden...
"Er hat seine Identität geändert, einen anderen Namen angenommen, warum nicht Eduardo...", Phil ist schon wieder in seinem Krimi...
"Gehst du heute Abend wieder mit dieser Haydée aus?"
"Nein, heute habe ich nichts vor." Ich warte. 'Diese' Haydée...
"Bist du noch dran?" fragt Phils Stimme aus dem Hörer.
"Nein", sage ich albern.
Schweigen. Schließlich: "Ich kann mir unter dieser Haydée gar nichts vorstellen. Irgendwie hat sie kein Fleisch."
Fleisch. Na und? Muss ja nicht jeder Fleisch haben. Soll er ihr selber Fleisch geben.
Ich: "Vielleicht existiert sie nicht wirklich." Das Telefonat der Verneinungen.
Phil: "Genau das habe ich mich gefragt."
Ich: "Du musst sie eben mal kennen lernen. Sie brennt darauf, dich kennen zu lernen. Bestimmt denkt sie auch von dir, dass es dich nicht wirklich gibt. Sie sagt immer: Grüßen Sie mir den Freund, mit Betonung auf 'den', seit ich ihr gesagt haben, dass du nicht mein Freund bist, sondern ein Freund."
Phil: "Aha."
Ich warte.
"Bist du noch dran?" frage ich.
"Ja", sagt Phil.
Albern, das alles, albern. Hinterlässt einen schalen Geschmack im Mund.
Ins Tangolokal will er auch heute nicht mit, wir haben zögerlich aufgelegt. Und was nun? Lesen, schreiben, kochen, telefonieren, aber mit wem? Oder mich ins Café setzen, immer dasselbe Café, wie Haydée, wie all die Leute, die immer im selben Café sitzen, obwohl sie gar nicht so aussehen, das beste Beispiel Claude, ein alter Freund von mir, wir sehen uns vier Mal im Jahr, früher waren es acht Mal, er ist Physikprofessor und hat eine Familie, und dennoch setzt er sich drei Mal pro Woche in dasselbe Café beim Jardin du Luxembourg, liest dort Thesen alter Griechen, die Welt als Scheibe, verknüpft sie mit Erkenntnissen über die Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums, verquickt das mit philosophischen Theorien aus allen Kulturkreisen, ist dann von all den Verquickungen und Verknüpfungen ganz aufgewühlt, bewahrt nur durch strengste Routine die Fassung, bestellt immer Punkt fünf Uhr eine "Banane".
Anfangs dachte ich, "Banane" sei ein Fachausdruck des Küchen-Jargons, die Bezeichnung für etwas Wundervolles, doch Desillusion: Was jedes mal kommt, ist wirklich eine Banane, eine banale Banane, gelb mit braunen Flecken, gekrümmt auf einer weißen Untertasse.
Ich kenne Claudes Nummer noch auswendig, aus alten Zeiten, doch seine Frau ist dran, und im Hintergrund kreischen die Kinder.

***

Erst auf dem Metrobahnsteig entschied ich mich, doch in dieses Tangolokal zu gehen, eben allein, dort mit einer steilen, senkrechten Falte auf der Stirn zu tanzen und an nichts mehr zu denken. Meine Metro fuhr gleichzeitig mit dem Zug auf dem Gleis gegenüber ein.
Beide Züge standen eng nebeneinander, mein hell erleuchteter Wagon setzte sich in dem des anderen Zuges fort, ich sah die Menschen im andern Wagon, greifbar nahe, als stünden wir im selben Raum. Da war ein junges Mädchen mit frechem Lachen, ich sah ihre Grübchen, sie wirbelte beim Sprechen mit den Händen, sie trug ein kurzes nabelfreies Sonnentop, wie sie meist nur sehr junge Mädchen tragen, ich sah wie ihr Mund lachend auf und zuging. Und dann war es, als würde unser Raum mit einem Butter-Schneide-Draht in zwei Hälften getrennt, und beide Züge fuhren in entgegen gesetzte Richtungen davon.
 

GabiSils

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Hallo, Nina,

ich möchte im Moment noch nichts "zerpflücken" - dieser Text muß als Gesamtes wirken, glaube ich. Die Erzählung ist schon jetzt gut und kann "außergewöhnliche Spitzenklasse" (Zitat aus den Bewertungen) werden. Weiter machen :)

Gruß,
Gabi
 

Nina Trebesi

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Hallo Gabi!
Erstmal herzlichen Dank für das Feed Back. Zu den Bewertungen, die Du ansprichst, wollte ich wissen: Gibt es denn eine Möglichkeit zu erfahren, was die Bewerter angeklickt haben? Die verschiedenen "Urteile" sagen ja durchaus etwas aus, und ich fänd's superinteressant zu erfahren, aus welchen Kritikpunkten oder Belobigungen so ein Balken entsteht!
Nina Trebesi
 



 
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