SPIEGELSCHRIFT fünftes Kapitel

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Nina Trebesi

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Am nächsten Morgen fand ich ein Päckchen vor meiner Tür. Ohne Absender. Nur "Anna" stand darauf. Darin ein Buch, in vergilbtes, geblümtes Tapetenpapier gebunden, die Titelseite war vom Einband überklebt. Ich sah flüchtig hinein: es war auf spanisch geschrieben.
Ich kroch mit ihm unter die Bettdecke und dachte: "Endlich passiert mal was in meinem Leben."
"Für die einzige Frau, die dies verstehen kann", stand als Widmung auf der ersten Seite. Ein Satz, der mich sofort misstrauisch machte. Man kennt ja diese Briefe, die mit "ich weiß, du wirst mich verstehen" oder "nur du allein kannst mich verstehen", beginnen und mit unzumutbaren Forderungen oder Entscheidungen enden, die der Adressat nun zu verstehen gezwungen ist, um dem Vertrauen des Absenders gerecht zu werden.
Ich drehte die Seite um, da klopfte es an meiner Tür. Phil stand davor.
Was bedeutet das, was passiert hier, was soll ich nun... Nein Schluss: erst gestern hatte ich mir vorgenommen, nicht mehr so viel zu denken.

Ich ging schnell zum Bett und deckte das Laken über das alte Buch. Phil folgte mir auf den Fersen. Meine Geste sah er als Aufforderung, sich aufs Bett zu setzen. Er zog mit geheimnisvoller Miene einen Zeitungsartikel aus seiner Jackentasche. Während ich barfuss im Raum hin und her lief, um Kaffee zuzubereiten, las er laut den Artikel über "Eduardo Arrojo", "genialer argentinischer Schriftsteller", "rätselhaftes Verschwinden", "Bindungen zu Frankreich", "Provence, Schauplatz seines letzten Romans" und bohrte dabei seinen Blick in meinen geschäftigen Rücken.
Ich kam mit den Kaffeetassen, setzte mich nun neben ihn aufs Bett und sagte: "Haydée hat mich zu einer Party eingeladen. Stell dir vor, sie wohnt in einer Villa in Neuilly."
"Wann hat sie dich eingeladen? Wann hast du mit ihr gesprochen? Wann ist die Party?" fragte Phil, und ich sah mich im langen roten Kleid hinter schimmernden Fenstern mit einem Mann tanzen, der mich so fest und eindeutig in die Arme nähme, dass für mich ein neues Leben beginnen würde.
"Du solltest nicht hingehen", sagte Phil finster. "Die Frau ist mir unheimlich."
Ich lachte und lehnte mich zurück. Dabei spürte ich hart das Buch unter der Bettdecke.

***
ZWEITER TEIL
Wie Anna die Wirklichkeit in einem Krimi weiterspinnt, der Phil gefallen soll

Haydées Villa hatte hell erleuchtete hohe Fenster, wie ich es mir vorgestellt hatte. Merkwürdigerweise sah ich dahinter keine Gestalten stehen und hörte auch keine Stimmen. Sollte ich der erste Gast sein? Ich klingelte. Ein Diener öffnete. Obwohl ich in meinem Leben noch nie einen Diener gesehen habe, wusste ich, dass es einer war, denn er näselte genau wie in englischen Kitschfilmen: "Madame lässt entschuldigen. Sie musste plötzlich verreisen." "Verreisen?" fragte ich ungläubig, doch er ging nicht darauf ein.
"Sie hat etwas für Sie hinterlassen", er bedeutete mir, ihm zu folgen, ich ließ ihn durch den langen Spiegelgang vorausschreiten und warf mir einen flüchtigen, aber stolzen Blick zu: In dem alten, blankpolierten Spiegelglas sah ich mich als die Lieblingstochter eines großen, guten Fürsten.

Er stößt die Tür auf zur Bibliothek, die Fensterläden sind geschlossen, nur eine kleine Leselampe brennt über einem Ohrensessel. Ohne seine Miene zu verziehen, fädelt der Diener seinen Arm zwischen zwei Bücherstapel und zieht ein verschnürtes Päckchen hervor.
"Madame ist wirklich untröstlich, Sie nicht selbst empfangen zu können", fällt ihm dann doch noch ein. Er drückt mir das Päckchen in die Hand und sagt: "Madame lässt ausrichten, Sie sollen es erst zu Hause öffnen." Während wir durch den langen glänzenden Gang zurückgehen, fügt er hinzu: "Ich werde Ihnen ein Taxi rufen."
"Nicht nötig", sage ich.
"Madame wünscht es", betont der Diener.
"Machen Sie sich keine Umstände", erwidere ich kurz, sage: "Au revoir, Monsieur", und schreite hochaufgerichtet als Fürstentochter davon.

Langsam ging ich in Richtung des nahen Parc de la Folie Saint-James. Im Gehen riss ich das Päckchen auf, eine hölzerne Schatulle kam zum Vorschein. Das Holz war edel, mit Einlegearbeiten, es glänzte wie eine frisch gespülte Untertasse. Die Einlegearbeiten zeigten einen Turm mit Zinnen.
Ich wünschte mir, Phil, der mir heimlich aus lauter Sorge und Eifersucht gefolgt wäre, würde sich aus den regennassen Büschen schälen, die Tropfen von seiner Jacke abschütteln, an meiner Seite über den nassen Asphalt gehen, den die gleitenden Lichtsäulen vereinzelter Scheinwerfer entzweischnitten. Er würde mir die Schatulle abnehmen, sie drehen und wenden, versuchen, sie zu öffnen. Doch man konnte sie nicht öffnen, sie war mit einem kleinen goldenen Schloss verschlossen, sie ließ sich nicht öffnen, sosehr man auch rüttelte.
Die Schatulle wog ganz leicht in meiner Hand. Wenn ich sie schüttelte, hörte ich nur ein Rascheln, wie von Papier, und ich fand, das war etwas viel Papier in letzter Zeit.
Ich schüttelte die Schatulle wütend, am liebsten wäre ich zurückgekehrt und hätte sie mit lautem Knall durch eines der leuchtenden Salonfenster geworfen.
Ich steckte sie in meine Handtasche.
Ein großes Gittertor führte in den Park, im Dunkeln ging ich zwischen den nassen Büschen, da hörte ich plötzlich Schritte hinter mir.
Ich zwang mich, unbeirrt weiterzugehen, mein Tempo nicht zu beschleunigen, aber der hinter mir beschleunigte sein Tempo, er kam näher und näher, ich ging geradeaus weiter, in einer geraden Linie, ruhig, ich konnte ihn in meinem Nacken atmen hören, da bekam ich einen dumpfen, schweren Schlag auf den Kopf.

Als ich aufwachte, sah ich geradewegs in die Glutaugen des Argentiniers, mit dem ich getanzt hatte und der gesagt hatte: "Denke an nichts" und "ich heiße Juan Carlos." Mein Kopf lag auf seinen Knien, sein Gesicht hatte er über mich gebeugt, seine Hand lag auf meiner Stirn, er sagte: "Ça va, Anna?"
Seine Stimme klang besorgt. "Bestens geht es mir." Mein Kopf brannte, das Licht stach in meine Stirn, ich schloss die Augen und sagte: "Wo bin ich?"
"Bei Haydée", sagte Juan Carlos, "ich habe dich auf dem Parkweg aufgelesen. Du lagst dort bewusstlos."
"Was für ein netter Abend", sagte ich, ohne die Augen zu öffnen, "danke für die Aufmerksamkeit. Geht es auch ohne Festbeleuchtung?"
Juan Carlos befahl einer anderen Person, den Lüster auszuschalten.
Die andere Person murmelte etwas, beugte sich über mich, und ließ einen nassen Lappen auf meine Stirn gleiten.
"Wie konnten Sie durch den Park gehen", schnarrte die Stimme des Dieners von vorhin. "Da treibt sich das schlimmste Gesindel herum."
"Geht es besser?" fragte Juan Carlos sanft. "Sollen wir einen Arzt rufen?"
"Nein, geht schon", ich versuchte mich aufzurichten. "Wo ist Haydée?"
"In Saint Raphaël", sagte Juan Carlos.
"Sie musste überraschend zu ihren Eltern ", fügte der Diener hinzu.
Juan Carlos führte ein Glas an meine Lippen, ich roch daran, es roch nach nichts, ich trank ein paar Schlucke.
"Ruh dich etwas aus", flüsterte Juan Carlos an meinem Ohr.
"Geht schon, ich fühle mich wie neugeboren", erwiderte ich, "ich amüsiere mich hier zwar köstlich - aber wenn's am schönsten ist, soll man gehen."
"Ich bringe dich nach Hause." Juan Carlos half mir beim Aufrichten und stützte mich beim Laufen. Der Diener hielt uns mit besorgtem Blick die Türe auf.
"Hat Haydée nicht zufällig noch eine Überraschung für mich hinterlassen?" fragte ich zum Abschied und sah mich erst jetzt nach meiner Handtasche um.
Der Diener verneinte höflich.
"Apropos: Auf dem Parkweg lag außer mir nicht noch eine Handtasche?" sagte ich zu Juan Carlos.
"Ich habe alles nach möglichen Hinweisen abgesucht und nichts gefunden. Waren wichtige Dinge in deiner Handtasche?"
Ich zuckte die Achseln: "Ein altes Buch ohne Titel. Ein verschlossenes Holzkästchen mit rätselhaftem Inhalt. Mein leeres Portemonnaie."
Ich fühlte an meiner Hosentasche, mein Wohnungsschlüssel war noch da.
Juan Carlos öffnete die Beifahrertür seines nachtblauen Cabriolets, das im Licht der Einfahrt schimmerte.
Wir fuhren schweigend durch die nasse Nacht.
"Lädt Haydée oft Gäste ein, fährt dann, statt sie zu empfangen, nach Saint-Raphaël und hinterlässt Holzkästchen?" fragte ich nach einer Weile.
"Ich weiß es nicht. Ich kenne sie kaum. Ich war heute zum ersten Mal bei ihr."
"Wollte sie dir auch etwas geben?"
"Nein, ich sollte ihr etwas geben. Den Koffer dort", er machte eine rasche Kopfbewegung in Richtung Rückbank.
"Von einem gemeinsamen Freund in Argentinien", er lächelte. "Ich weiß nicht mal, was drin ist."
Ich drehte meinen schmerzenden Kopf nach hinten.
"Welchen Koffer," fragte ich.
 



 
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