SPLITTER

wowa

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Ein winziger Glassplitter
Hatte sich in ihren Ballen gebohrt
Sie nahm es als ein gutes Zeichen



SPLITTER


Manchmal, eigentlich selten, in den letzten Jahren aber häufiger, besonders im Frühling, so wie jetzt, wenn die Natur ihre Fruchtbarkeit feiert, überkam sie eine unbändige Zerstörungswut. Sie behielt diese Gedanken für sich, niemand hätte sie verstanden, sie verstand es ja selber nicht. Es gab keinen Grund für diese erschreckenden Haßgefühle. Alles war in Ordnung. Ihr Leben glich einem ruhigen Fluß. Vielleicht war es gerade das.
Sie hatte früh geheiratet, ihr Mann war ihr zugetan im Rahmen des ihm möglichen. Das war nicht wenig. Er war verträglich, großzügig, diskret und wickelte seine Affären, die er zweifellos hatte, davon ging sie aus, in einer dermaßenen Geräuschlosigkeit ab, vielleicht in einem schalltoten Raum, einer andern Dimension, was wußte denn sie, jedenfalls blieb ihr Leben von den Turbulenzen, die gelegentlich die Ehen ihres Bekanntenkreises erschütterten, gänzlich unberührt. Die Kinder,-zwei,- entwickelten sich vorteilhaft und würden bald das Haus verlassen.
Geld war stets reichlich vorhanden dank der besonnenen Karriereplanung ihres Mannes, es gab in dieser Hinsicht nie ein Problem, selbst die Kinder waren mit ihrer finanziellen Versorgung zufrieden. Befreundete Ehepaare beneideten sie um ihr harmonisches Familienglück. Alles schien gut, das zu Erwartende trat ein, die privaten Gleichungen gingen auf und doch blieb ein Rest in ihr, der schrie.
Morgens, wenn sie allein war, holte sie den Vorschlaghammer aus dem Keller und ging mit ihm durch die Zimmer.
Die Vorstellung, alles, aber auch alles, akribisch kurz und klein zu schlagen, diesen in Jahren angesammelten Plunder in einer wilden Vernichtungsorgie zu zermalmen, zauberte ein genießerisches Lächeln auf ihr Gesicht. Sie streichelte die Couch – Garnitur, sah prüfend in das tiefe Schwarz des Flachbildschirms, testete andeutungsweise die Statik der Schrankwand und versetzte der sündhaft teuren Stehlampe einen imaginären Tritt. In besonders intensiven, glücklichen Momenten hörte sie die Glassplitter unter ihren Füßen knirschen.
Dabei blieb es.
Wenn ihr Mann und die Kinder mittags aus Schule und Betrieb kamen, - die Position ihres Mannes erlaubte ihm, das Mittagessen im Kreis der Familie einzunehmen, - standen die Rouladen oder was auch immer dampfend auf dem Tisch. Es machte ihr keinen Spaß, die Bande zu bekochen, doch sie gab sich Mühe und so merkte es keiner. Alles in allem wirkte sie unverdächtig, diese Fassade immer lückenlos aufrechtzuerhalten, fiel ihr allerdings zunehmend schwer.
Ihre vormittäglichen Fantasien wurden drängender, intensiver und ihr Wunsch, das prächtige Keramik – Waschbecken im Badezimmer mit einem Schlag in tausend Scherben zu verwandeln, begleitete sie Tag und Nacht.
Das war kein harmloser Spaß mehr, das war besorgniserregend.
Aggressive Zwangsvorstellungen kannte sie bisher nur aus der Literatur. Selbst von ihnen heimgesucht zu werden, war verwirrend. Und beängstigend, wenn sie an die Konsequenzen dachte. Aber vor allem beleidigte es ihr Ego, nicht mehr Herr im eigenen Kopf zu sein. Vermutlich hatte sie ein Defizit an starken Gefühlen, so viel schien klar. In diese Richtung sollte sie weiterdenken, das hatte Plausibilität.
Physis und Psyche gingen getrennte Wege, nicht nur bei ihr, bei allen. Das war normal. Die eine war die Dienstmagd im täglichen Einerlei, die andere vagabundierte im offenen, zwanglosen, auf dem Meer des Assoziativen. Gefährlich wurde es, wenn Psyche strandete, an subversiven Ufern Schiffbruch erlitt und sich fortan beispielsweise auf die praktische Negation des Eigentumsbegriffes fixierte. Konkret, wenn der betreffende Mensch anfing zu stehlen, was durchaus vorkam, selbst in ihren arrivierten Kreisen oder aber, wie in ihrem Fall, sich plötzlicher Attacken sinnloser, lustvoller Zerstörungswut zu erwehren hatte.
Das stellte die eigene Existenz in Frage.
Ihr Unbewußtes stellte also existenzielle Fragen, interessant. Sie mußte jetzt aufpassen, diszipliniert bleiben. Spekulationen, Aktionismus und einfache Antworten, die ihre destruktive Energie auf das Erlernen einer Sprache oder eines Instruments lenkten, waren nicht die Lösung. Ihr fehlten verläßliche, klare Begriffe, mit denen ihr Problem greifbar gemacht werden könnte.
Die einzige Gewißheit war ihre Physis, die war eine Tatsache in Raum und Zeit.

Sie zog sich aus und betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel des Badezimmers. Er war füllig geworden, nicht unförmig dick, aber fraglos zu schwer für ihre Größe. Seltsam schlaff, ohne Spannung kam er ihr vor. Dabei hatte sie durchaus kein negatives Verhältnis zu ihrer Leiblichkeit, nicht mal in der Pubertät, soweit sie sich erinnerte. Stets pflegte sie sorgfältig ihr Erscheinungsbild und gestattete sich keine Nachlässigkeiten. Alkoholexzesse lagen ihr fern.
Funktional betrachtet war sie entsprechend gut in Form : nicht unbedingt sportlich, gleichwohl belastbar, ausdauernd und selten krank. Ästhetische Kriterien zu Grunde gelegt, fiel das Urteil ebenso eindeutig aus : Ihr Körper riß keinen vom Hocker. Sie schon gar nicht.
Aber ging es um Sex – Appeal ? Auch.
Sie drehte den Hahn auf und ließ Wasser in die Wanne. Augenscheinlich war sie körperlich wie mental ein wenig verwahrlost. Kein Wunder nach all den Jahren.
Sie stieg in das Wasser und genoß die Wärme und die Schwerelosigkeit. Nach einem Weilchen hyperventilierte sie ein paar Atemzüge lang und legte sich auf den Grund. Diese Technik war ihr nicht fremd, sie hatte sie schon früher in schwierigen Situationen angewendet. Mit beginnender Luftnot produzierte ihr Gehirn gelegentlich überraschende Einsichten, die wie Blitze ihr Bewußtsein erhellten.
Sie konnte diesen Effekt nicht gezielt provozieren, er stellte sich zufällig ein. Es war ein Spiel, ein Versuch, für den sie nur die optimalen Bedingungen schaffen konnte. Oft genug, wenn sie ihr privates Orakel auf diese Art befragte, schwieg es und sie nahm es schulterzuckend hin, ohne weiter darüber nachzudenken. Doch dieses Mal, als sie den Kopf hob und prustend und japsend an die Oberfläche zurückkehrte, hatte sie eine Idee.
Sie ließ warmes Wasser nachlaufen, entspannte sich, schaute an die Zimmerdecke und neue, faszinierende Gedanken nahmen Gestalt an.
Ihre frei vagabundierende Psyche war gestrandet, soviel stand fest, dieses Bild gab ihre innere Wirklichkeit gut wieder, fand sie. Folglich, wenn die eine festsaß, mußte die andere die notwendige Bewegung übernehmen. Sie selbst mußte real zur Vagabundin werden, nur so hatte sie eine Chance, ihre Fixierung zu lösen, zu überwinden, frei zu sein. Ein freies Vagabundenleben, um das innere Gefängnis aufzubrechen. Diese Therapie schien ihr logisch, umsetzbar und vor allem, sie gefiel ihr.

Sie würde ihren Rucksack packen und losziehen, nicht morgen, aber demnächst und sie würde allein gehen. Nach Südosten, den indischen Subkontinent durchstreifen, allein mit einer Milliarde Menschen unter der sengenden Sonne Indiens. Das war es, was sie jetzt brauchte.
Sie stand auf und verließ die Wanne. Es gab eine Menge zu tun.
Plötzlich verspürte sie einen Schmerz in ihrem linken Fuß. Sie setzte sich und sah nach. Ein winziger Glassplitter hatte sich in ihren Ballen gebohrt. Sie nahm es als ein gutes Zeichen.
 



 
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