Sabotage

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Meckie Pilar

Mitglied
Sabotage

Er spürt es nun schon seit gut zehn Minuten. Er versucht, es einfach zu leugnen. Er arbeitet verbissen an der Montage des vorderen Kotflügels. Vielleicht hat er Glück, und es geht wieder vorbei?
Erwin Ruggel sieht kurz zu seinem Kumpel hinüber, der mit ihm am Montageband steht. Jürgen arbeitet und pfeift dabei. Er legt immer ein ziemliches Tempo vor, das Erwin kaum mithalten kann. Erwin kann Jürgen trotzdem gut leiden. Er ist halt viel jünger und er braucht das Geld.
Jürgen kommt immer mit seinen Pinkelchips aus. Manchmal hat er sogar am Freitag Abend noch welche übrig. Beneidenswert!
Eigentlich sind die Chips ja nicht übertragbar. Aber merken würde es wohl keiner, wenn Jürgen ihm die geben würde, die er selber nicht braucht. Soweit ist es wohl doch noch nicht hier im Werk. Obwohl Erwin sich nicht wundern würde, wenn es demnächst statt der kleinen, grünen Plastikscheiben eine Karte gäbe, die man jede Woche neu mit der einem zustehenden Chipanzahl aufladen müsste. So was kommt bestimmt auch noch.
Jetzt immerhin könnte Erwin Jürgen noch bitten, ihm seine ungebrauchten Chips zu geben. Er sollte ihn endlich fragen. Bisher hat er sich noch nicht getraut.
Erwin ist es peinlich, wie oft er aufs Klo muss. Ganz offenbar geht er viel öfter als alle anderen auf seiner Schicht. Ihm reichen die drei Chips pro Arbeitstag einfach nicht, so sehr er sich auch bemüht!
Natürlich, die Werksleitung muss Druck machen auf ihre Werktätigen, damit das Unternehmen im Konkurrenzkampf mit den Standorten in China und Usbekistan besteht. Schließlich geht es um seinen eigenen Arbeitsplatz, das weiß Erwin, das sieht er ja ein.
Aber die Bosse sind keine Unmenschen. Mit einen ärztlichen Attest ist es ja möglich, mehr Czu erhalten.
Er wird wohl doch endlich zum Arzt gehen müssen.
Erwin muss daran denken, wie der Betriebsrat das neulich erzählt hat, das mit dem Attest. Die Kollegen haben die Mitteilung mit einem dröhnenden Gelächter quittiert. Und Erwin hat mitgelacht. Was sollte er tun?
Und jetzt ist es also wieder mal soweit. In einer Stunde ist Feierabend. Aber so lange kann er nicht warten. Doch seine drei Chips sind verbraucht. Wenn er jetzt den ersten Chip vom nächsten Tag nähme, hat er morgen ein noch größeres Problem.
Aber es geht nicht anders. Der Druck in der Blase ist schon unerträglich. Langsam bricht Erwin der Schweiß aus. Ob er Jürgen doch mal fragen soll? Der arbeitet immer noch pfeifend vor sich hin. Der ist sicher auch sauer, wenn er mit seiner dauernden Pinkelei den Akkord versaut. Nein, jetzt kann Erwin ihn nicht fragen.
Aber wenn er jetzt nicht aufs Klo geht, kann er es nicht mehr halten. Er kann doch nicht einfach hier in die Hose pissen!
Nein, es hat keinen Sinn. Er muss gehen.
Erwin murmelt eine Entschuldigung in Richtung Jürgen und läuft los. Das Laufen ist schon richtig schwierig. Er hat mal wieder viel zu lange gewartet.

Erwin zögert nur kurz vor der Toilettentür. Er wird einfach hineingehen. Rein kommt man ja ohne Chip. Und dann wird er wieder mal warten, bis ein Kollege kommt mit dem er dann einfach wieder hinausschlüpfen kann, wenn der seinen Chip eingeworfen hat und sich die Tür nach außen wieder öffnet. Bisher hat er damit schon öfter Glück gehabt. Erwin tastet nach seinen kostbaren Chips in der Hosentasche. Er hofft, dass er den Chip für morgen retten kann. Aber jetzt ist erst mal alles gleich.
Erwin schließt sich in eine der Toilettenkabinen ein.
Die Erleichterung tut unendlich gut.
Hier in der Kabine kann er gut warten und sich auch noch entspannen. Gut dass es damals dem Betriebrat gelungen ist, die Videoüberwachungskameras in den Toilettenräumen zu verhindern. Sonst hätten sie ihn längst erwischt.
Hoffentlich kommt bald ein Kumpel. Wenn er zu lange wegbleibt, wird Jürgen sicher sauer.
Aber wenn nun keiner kommt? Dann ist er hier in der Toilette eingesperrt und kann sich nur mit dem Chip vom nächsten Tag aus seiner Tage befreien. Und morgen hat er dann nur noch zwei Chips.
Erwin schaut auf die Uhr. Gut, noch fünf Minuten wird er warten, länger geht es nicht. Dann muss es halt sein.
Die Minuten verrinnen.
Ab nächsten Ersten sollen die Pinkelpausen zeitlich begrenzt werden, fällt da Erwin ein, auf fünf Minuten, haben sie gesagt. Die Betriebsleitung will verhindern, dass Leute sich auf dem Klo verquatschen oder heimlich rauchen.
Erwin sitzt nun schon ganze zehn Minuten hier. Wie gerne würde er jetzt mit Jürgen am Band stehen und weiter am Opel arbeiten!
Gerade als er aufsteht und nach den unvermeidlichen Chip aus der Hosentasche angeln will, hört er die Tür zum Toilettenraum aufgehen. Dann pinkelt jemand ins Becken.
Erwin öffnet die Tür seiner Kabine und tritt in den Waschraum. Er stellt sich neben den Mann. Der murmelt einen Gruß ohne aufzublicken. Erwin hat ihn noch nie gesehen. Wohl jemand aus einer anderen Halle.
Erwin wäscht sich flüchtig die Hände und schielt zu dem Fremden hin. Der lässt sich Zeit. Endlich wendet er sich zur Tür.
„Lässt du mich gerade mit raus?“, fragt Erwin so locker, wie er eben kann.
„Haste deine Chips vergessen?“, fragt der andere, ohne die Stimme zu heben.
„Hab heute keine mehr. Aber so merkt es doch keiner.“
Der andere nickt, wirft den Chip ein. Die Türklinke lässt sich bewegen. Sie treten auf den Flur.
„Danke, Kumpel!“, sagt Erwin erleichtert und will schnell loslaufen. Jürgen wartet schon zu lange.
Da spürt er eine Hand auf seiner Schulter. Der Fremde hält ihn zurück.
"Stopp, Kollege, nicht so eilig! Du kommst mit zur Werksleitung.“
Erwin verschlägt es die Sprache. Er sieht den Fremden erschrocken an.
„Betrugsversuch. Eindeutig. In flagranti ertappt sozusagen. Tut mir Leid, Kollege."
„Woher wussten Sie…?“, stottert Erwin. Ihm wird schlecht.
„Sie waren genau 13 Minuten in der Toilette und kamen nicht wieder raus. Da musste ja was faul sein. Tut mir leid. Aber das ist Unternehmensschädigendes Verhalten, nicht wahr? Also kommen Sie schon!“
„Wer sind Sie?“, fragt Erwin noch. Es wird ihm schwarz vor Augen.
„Werkschutz. Theo Handlang. Kommen Sie jetzt.“
Erwin spürt einen stechenden Schmerz in der Blase.
 
M

Minotaurus

Gast
Die Geschichte selbst fand ich sehr gut, nur das Ende, bzw. die Auflösung war etwas "dünn".
Man hätte vielleicht erwartet, daß es ein "Leidensgenosse" gewesen wäre, evtl. aus der Geschäftsleitung.
Grüße vom Minotaurus.
 

Meckie Pilar

Mitglied
Hallo Marius,
ich bin mir nicht so sicher, ob das wirklich Science fiction wäre. Heutzutage kann man gar nicht schnell genug Satiren schreiben, weil die Wirklichkeit sie ständig überholt.
Gruß
Meckie
 

kranich

Mitglied
Ja, Ente!

Mir hat der Text sehr gefallen. Ohne mit äußerlichen Effekten aufzutrumpfen, wird eine beklemmende Komik durchgehalten.

Wie der Schluß spannender sein könnte?
Ich glaube nicht durch solch unwirkliches Ereignis, daß der Kumpel dort einen "Leidensgenossen" aus der Chefetage trifft.

Ich hatte vor Jahren eine Nierenoperation und danach längere Zeit ein ziemliches "Pinkelproblem". Auch ohne am Fließband beschäftigt zu sein, mußte ich kreativ sein, um es "im Griff" zu behalten. Vielleicht hätte unser Kumpel sich eine "Ente" in Reichweite stellen sollen. Vielleicht hätte er dann sogar noch einen schwunghaften Handel mit eingesparten Chips beginnen können ;-).

Ja, gerne 'ne "8".
 



 
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